
Die am 7. Oktober 2023 von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen aus Gaza durchgeführten Angriffe auf israelisches Territorium sowie die umfassenden israelischen Vergeltungsmaßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza und dem Westjordanland haben die Sicherheitslage im Nahen Osten sukzessive verschlechtert. Jordanien wurde davon stark in Mitleidenschaft gezogen. Der scharfe Einbruch der einheimischen Tourismus- und Handelsbranche drosselte das Wirtschaftswachstum und verschärfte die desolate Wirtschaftslage des Landes, das seit 2011 mit steigender Arbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen hat.
Jalal Al Husseini ist Politiksoziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Français du Proche-Orient (IFPO) in Amman und Berater für internationale Zusammenarbeit. In seiner Arbeit beschäftigt er sich hauptsächlich mit erzwungener Migration und dem palästinensischen Flüchtlingsstatus sowie mit Arbeitsmärkten und sozialen Sicherungssystemen in Westasien.
Jordaniens größte Bedenken aktuell sind allerdings politischer Natur. Die Hamas erlebte nach den Angriffen des 7. Oktobers einen Popularitätsschub in der jordanischen Bevölkerung. Dies birgt die Gefahr der unkontrollierbaren Einflussnahme einer palästinensischen Gruppierung auf die Geschicke des Landes. Gleichzeitig blickt die Politik zunehmend besorgt auf ein Szenario, in dem Israel den Konflikt für eine Zwangsumsiedelung von Palästinenser*innen nach Jordanien nutzen könnte.
Die folgende Analyse legt dar, wie die jordanische Regierung diese Herausforderungen wahrnimmt und angeht – insbesondere angesichts ihrer übergreifenden Zielsetzung, Jordanien als geachteten und uneingeschränkt souveränen Staat im Nahen Osten zu etablieren.
Der Umgang mit der Hamas und dem wiederkehrenden palästinensischen Aktivismus in Jordanien
Der bewaffnete Widerstand der Hamas gegen Israels Militäreinsatz in Gaza traf unter Jordanier*innen jeglicher Herkunft auf breiten Zuspruch, so dass die Organisation ihre Zustimmungsrate im Land im Zeitraum Dezember 2020 bis Dezember 2023 von 44 auf 85 Prozent verdoppeln konnte. Der starke Rückhalt kommt jede Woche landesweit auf Demonstrationen mit Slogans wie «Ganz Jordanien ist die Hamas» zum Ausdruck.
Diese Beliebtheit resultiert in erster Linie aus der Identifikation mit dem Leid der Menschen in Gaza und der weitverbreiteten Verurteilung der israelischen Gräueltaten seit dem Oktober 2023. Darüber hinaus hat die Militäroperation der Hamas den Mythos der israelischen Unbesiegbarkeit angekratzt und dadurch in den Augen ihrer Anhänger*innen die Würde der Palästinenser*innen wiederhergestellt. Nicht zuletzt ist es der Hamas gelungen, die palästinensische Frage auf die internationale Tagesordnung zurückzusetzen – denn nach dem versandeten Oslo-Friedensprozess zwischen Israel und der PLO sowie der Unterzeichnung des Abraham-Abkommens zwischen Israel, Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Marokko [und Sudan; Anm. d. R.] in den Jahren 2020 und 2021 war Palästina nur noch eine Randnotiz gewesen.
Die Hamas beeilte sich, politisches Kapital aus diesem Beliebtheitsaufschwung zu schlagen. In der Öffentlichkeit inszenierte sie sich als ultimative Verteidigerin der palästinensischen Sache und forderte die Jordanier*innen über ihre Führungsriege in Gaza und Katar auf, die eigene Regierung zur Aufkündigung des israelisch-jordanischen Friedensvertrag von 1994 sowie zur Schließung der zwölf US-amerikanischen Militärbasen im Land zu drängen. Ohne Rücksprache mit den jordanischen Behörden behauptete die Organisation öffentlich, dass Jordanien – dieses «großzügige Land, Heimstatt der Resilienz und der Mobilisierung» – sie gewiss willkommen heißen würde, sollte Katar, ihr Gastgeberland seit 2012, sie hinauskomplimentieren, zumal ein Großteil ihrer Kader die jordanische Staatsbürgerschaft besitze.
Die jordanische Regierung fühlte sich von diesen opportunistischen Stellungnahmen an die Exzesse verschiedener PLO-Gruppierungen in den späten 1960er Jahren erinnert, die 1970 in die blutigen Ereignisse des sogenannten Schwarzen Septembers mündeten. Ein Ereignis aus der jüngeren Vergangenheit ist die Schließung des Hamas-Büros in Amman 1999, die vor allem deshalb angeordnet wurde, weil die politischen Aktivitäten der Gruppierung im Land – insbesondere solche mit Verbindung zu Militäroperationen in den palästinensischen Gebieten – das 1993 geschlossene informelle Abkommen zwischen beiden Parteien verletzten. Jordaniens Bedenken gegenüber der Hamas nährten sich zudem aus dem Umstand, dass die Organisation seit den frühen 1990er Jahren konstant Unterstützung aus dem Iran erhielt, den Jordaniens westliche Verbündete als staatlichen Terrorsponsor betrachten und den König Abdullah II. im Jahr 2004 als zentralen Angelpunkt des «Schiitischen Halbmonds» ausmachte, der die Region voraussichtlich destabilisieren werde.
Angesichts der opportunistischen Vorstöße der Hamas und der plötzlichen öffentlichen Sympathien für sie musste die jordanische Regierung eine Gratwanderung vollbringen: Es galt, der Stimmung in der Bevölkerung entgegenzukommen und gleichzeitig staatspolitische Interessen zu wahren. Einerseits versuchte die Regierung daher gezielt, die öffentliche Meinung hinter sich zu bringen. Vor allem Königin Rania kritisierte Israels gewaltsames Vorgehen gegenüber den Palästinenser*innen in Gaza und dem Westjordanland scharf und prangerte die Doppelstandards der internationalen Gemeinschaft an, die für die israelischen Opfer des 7. Oktobers größere Sympathie aufgebracht hat als für die palästinensischen in Gaza. Zudem gehörte Jordanien zu den Staaten, die am meisten Nothilfe für die Palästinenser*innen leisteten und sich am stärksten für deren medizinische Versorgung engagierten, unter anderem durch die Bereitstellung von zwei Feldkrankenhäusern in Gaza und einem weiteren im Westjordanland.
Andererseits wandte sich Jordanien direkt gegen die «Provokationen» der Hamas und warf deren Führung vor, die Legitimität des jordanischen Staates und seiner Regierung zu missachten. Amman brachte seinen Unwillen zum Ausdruck, das historisch abgeschlossene Kapitel der «palästinensischen Zellen» erneut aufzuschlagen, und verwies dabei auf vergangene Konflikte mit palästinensischen Gruppierungen. Auch die Aufforderungen der Hamas, den Friedensvertrag mit Israel zu annullieren, wies die Regierung zurück. Und während das Innenministerium die Bevölkerung ermutigt, gegen das israelische Vorgehen in Palästina auf die Straße zu gehen, verbot es ausdrücklich Proteste nahe der israelischen Botschaft sowie an der israelischen Grenze. Am nachdrücklichsten unterstrich Jordanien seine (sicherheits-)politische Souveränität am 19. April 2024, am 1. Oktober 2024 sowie kürzlich erneut im Juni 2025, als es iranische Raketen und Drohnen mit Kurs auf Israel im eigenen Luftraum abfing – den Drohungen der iranischen Regierung zum Trotz, Jordanien könne in einem solchen Fall als nächstes angegriffen werden.
Allerdings hat Jordanien gemäß seiner traditionellen außenpolitischen Zurückhaltung sowie im Wissen um die ausgeprägte anti-israelischen Stimmung in der eigenen Bevölkerung nicht alle Brücken zum Iran und der Hamas abgebrochen. Zwar verurteilte König Abdullah II. die Angriffe der Hamas von Oktober 2023 bei einem Amtsbesuch in den USA, seine Regierung unterließ es jedoch, die Organisation offiziell als «terroristische Vereinigung» einzuordnen. Später versicherte Jordanien dem Iran seine freundlichen Absichten, betonte aber gleichzeitig die Notwendigkeit, die Sicherheit der eigenen Bevölkerung und die Souveränität des Landes zu wahren.
Jordaniens Ansatz, den Einfluss von Hamas und Iran durch eine Politik der sanften Konfrontation, Diplomatie und begrenzte militärische Mittel zurückzudrängen, scheint bisher aufzugehen. Der repressive Kurs der Regierung gegen einheimische Oppositionsgruppen mit angeblichen Verbindungen zu jenen ausländischen Akteuren setzt sich derweil unvermindert fort. Sicherheitskräfte gingen in der Vergangenheit hart gegen Teilnehmer*innen verbotener Proteste vor. So wurden beispielsweise bei Demonstrationen in der Nähe der israelischen Botschaft 2023 und 2024 insgesamt über 1000 Personen festgenommen.
Für größere Beunruhigung sorgt indes der Aufstieg der Islamischen Aktionsfront (IAF), die als politischer Arm der Muslimbruderschaft in Jordanien der wichtigste Bündnispartner der Hamas vor Ort ist. Aus den jordanischen Parlamentswahlen im September 2024 ging die IAF mit 31 von 138 Sitzen als stärkste Kraft hervor – dies wurde weithin als Beleg für den starken Rückhalt der Hamas gewertet. Ein größeres Gefahrenpotenzial als die Teilnahme der IAF am streng reglementierten politischen System des Landes birgt jedoch das unabhängigere Agieren ihrer Mutterorganisation, die zahlreiche soziale Einrichtungen betreibt und mutmaßlich heimliche Beziehungen zur Hamas unterhält. Im Jahr 2020 ordneten die jordanischen Behörden die Auflösung der Muslimbruderschaft an, nachdem diese es versäumt hatte, ihren rechtlichen Status als Wohltätigkeitsorganisation zu erneuern. Im April 2025 wurde diese Entscheidung vollstreckt: Nach der angeblichen Enthüllung von Plänen zur Destabilisierung des Landes zogen die Behörden das gesamte Vermögen der Muslimbruderschaft ein und untersagten ihr die weitere Verbreitung ihrer Ideologie. Es bleibt abzuwarten, ob diese Schritte den militanten Islamismus eindämmen oder ihn vielmehr weiter anspornen werden.
Gegen die erzwungene Migration der Palästinenser*innen
Das Ausmaß der israelischen Vergeltungsschläge in Gaza seit Oktober 2023 und die gleichzeitige Intensivierung seiner repressiven Annexionspolitik im Westjordanland schüren die Angst vor umfangreichen Maßnahmen zur Umsiedelung von Palästinenser*innen aus beiden Gebieten nach Jordanien. Weiter angefacht werden diese Ängste durch die erklärte Absicht rechtsextremer israelischer Minister, Gaza und das Westjordanland zu annektieren. Kopfzerbrechen bereiten der jordanischen Regierung dabei einmal mehr nicht primär die zu erwartenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines solchen Transfers – entsprechende Verwerfungen waren zuletzt im Zusammenhang mit der Fluchtmigration aus Syrien und dem Irak aufgetreten. Entscheidend sind vielmehr die politischen Implikationen. Für Jordanien wäre dieses Szenario nicht nur inakzeptabel, weil es das Recht der Palästinenser*innen auf «Freiheit, Souveränität und einen unabhängigen Staat in ihrer palästinensischen Heimat» verletzten würde, sondern auch, weil es einem Narrativ rechter israelischer Parteien Vorschub leisten würde: dass Jordanien die Heimstatt eines palästinensischen Staates werden solle – anstelle des historischen Palästina und auf Kosten des haschemitischen Herrscherhauses. Diese israelische Erzählung kann sich dabei auf zwei Tatsachen stützen: Jordanien ist nicht nur das wichtigste Aufnahmeland palästinensischer Geflüchteter, sondern auch der einzige arabische Staat, der Palästinenser*innen auf der Grundlage politischer Entscheidungen aus den Jahren 1949 bis 1954 in großer Zahl eingebürgert hat.
Um dieses israelische Ansinnen zu vereiteln, wies Jordanien die weiterbreitete Überzeugung zurück, Bürger*innen palästinensischer Herkunft würden die Mehrheit der Landesbevölkerung ausmachen: So verkündete der Premierminister 2002, diese Gruppe stelle tatsächlich «lediglich» 43 Prozent der Bevölkerung. Indes warnte der Vorsitzende Richter des königlichen Gerichtshofes 2014, «jede weitere Welle von Palästinenser*innen würde den Anteil von Jordanier*innen palästinensischer Herkunft erhöhen und die demografische Struktur dadurch so verschieben, dass die in Israel verbreitete Überzeugung an Plausibilität gewinnt, Jordanien sei in der Tat bereits der alternative palästinensische Staat».
Die Angst vor der Gründung eines alternativen palästinensischen Staats auf jordanischem Staatsgebiet erklärt sich durch die historisch wechselvollen Beziehungen mit verschiedenen palästinensischen Gruppierungen. Es war unter anderem diese Geschichte, die den verstorbenen König Hussein im Juli 1988 bewog, die rechtlichen und administrativen Verbindungen seines Landes zum Westjordanland zu kappen – 38 Jahre nach Jordaniens Annexion des Gebietes und 21 Jahre nach der Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg. Von nun an sollte gelten, dass «Jordanien Jordanien und Palästina Palästina ist». Darüber hinaus vollzog Jordanien in den frühen 2000er Jahren eine Abkehr von seiner langjährigen Praxis, die Palästinenser*innen per se im Land willkommen zu heißen: Zwischen 2000 und 2005 schränkten die Behörden die Zuwanderung von Bewohner*innen des Westjordanlandes ein, die vor den israelischen Repressalien während der Zweiten Intifada flohen. In den Jahren 2003 und 2004 verhinderte der Staat die Einreise von Palästinenser*innen, die nach dem Fall des irakischen Baath-Regimes, dessen Protegés sie gewesen waren, der Verfolgung durch schiitische Milizen entkommen wollten. Schließlich wies Jordanien [während des Krieges in Syrien; Anm. d. R.] in den Jahren 2012 und 2013 palästinensische Geflüchtete mit syrischen Dokumenten an der Grenze ab. Der jordanische Premierminister erklärte im Januar 2013, «die Aufnahme dieser Brüder wäre das Vorspiel zu einer weiteren Welle von Vertreibungen und würde der israelischen Regierung in die Karten spielen».
In Anbetracht dieser Bedenken stellte Jordanien bereits in den ersten Tagen der israelischen Gegenschläge unmissverständlich klar, dass es sich allen Versuchen zu einer massenhaften Vertreibung von Palästinenser*innen aus Gaza oder dem Westjordanland widersetzen würde. Ein solcher Schritt markiere eine «rote Linie» und käme einer «Kriegserklärung» gleich. Nachdem die USA im Februar 2025 Pläne bekanntgaben, die Bewohner*innen von Gaza ohne gesichertes Rückkehrrecht nach Jordanien und Ägypten umzusiedeln, um Gaza anschließend unter der Ägide von Präsident Trump als «Riviera des Nahen Ostens» wiederaufzubauen, wiederholte Amman seine Warnungen umso deutlicher. Der jordanische Außenminister erörterte in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer Kriegserklärung an Israel, um weiteren «ethnischen Säuberungen» in Palästina vorzubeugen – weder Jordanien noch die Palästinenser*innen würden so etwas hinnehmen.
Dessen ungeachtet wäre Jordanien zu diesem Schritt wahrscheinlich nicht bereit – selbst im Falle einer Zwangsumsiedlung von Palästinenser*innen in das eigene Staatsgebiet. Zum einen weiß die jordanische Führung, dass sie Israel weder militärisch noch ökonomisch die Stirn bieten kann. Vehemente Protestnoten, Drohungen und symbolische Vergeltungsakte, wie die Ausweisung des israelischen Botschafters in Amman als Persona non grata bis zum Ende der Kampfhandlungen in Gaza oder der vorläufige Stopp gemeinsamer Wasservorhaben – das sind die einzigen nennenswerten Druckmittel, die dem Land zur Verfügung stehen. Diese beschränkte Handlungsmacht erklärt sich zum anderen aus der Notwendigkeit, die Vorteile des gemeinsamen Friedensabkommens von 1994 zu bewahren. Das Abkommen bietet Jordanien beträchtliche Verbesserungen der Wasser- und Gasversorgung, eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit gegen die gemeinsamen Bedrohungen durch die Hamas und den Iran sowie große politische und symbolische Anerkennung als Wächter heiliger Stätten in Ostjerusalem, die unter israelischer Besatzung stehen.
Neben seinem Balanceakt zwischen Israel und der politischen Stimmung der eigenen Bevölkerung muss Jordanien auch auf die Interessen der USA Rücksicht nehmen, seiner wichtigsten Quelle militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung. Während das Land sich entschieden gegen jede weitere Umsiedelung von Palästinenser*innen stemmt, wie sie im Trump-Plan vorgesehen ist, arbeitet die Regierung mit Ägypten an alternativen technischen und politischen Lösungsvorschlägen, um ihren US-amerikanischen Schutzherren zufriedenzustellen, ohne dabei die Interessen von Israel, der Hamas, der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Bevölkerung von Gaza aus den Augen zu verlieren. Die Stabilität und das Überleben Jordaniens stehen dabei auf dem Spiel.
Übersetzung von Maximilian Hauer und Sebastian Landsberger für Gegensatz Translation Collective.