Nachricht | Kanzleiter: Die »Rote Universität«. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964 - 1975, Hamburg 2011

Die Fülle der verwendeten Quellen und die Herangehensweise an die Protestbewegung als soziale Bewegung über einen längeren Zeitraum machen diese Veröffentlichung zu einem Grundlagenwerk zum Thema 1968 in Jugoslawien (aus der Rezension)

Dennis Neupert, Leipzig rezensiert für HSozKult

Bpris Kanzleiter: Die »Rote Universität«. Studentenbewegung und
Linksopposition in Belgrad 1964 - 1975. Hamburg: VSA Verlag 2011. ISBN
978-3-89965-461-5; 488 S.; EUR 34,80.

Er schreibt einleitend:
"Der vierzigste Jahrestag der globalen Ereignisse, die unter der Chiffre 1968 thematisiert werden, ist mittlerweile drei Jahre alt. In der Fülle der Publikationen zu diesem Datum stachen 2008 die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und die USA hervor. Publikationen, welche die Vorgänge in Osteuropa thematisierten, waren im Vergleich rar gesät. Häufig fand eine solche Beschäftigung nur in Sammelbänden statt, welche sich mit der globalen Dimension des Jahres 1968 auseinandersetzten. In diese Lücke stößt Boris Kanzleiter mit seiner Analyse zu den Protesten im Juni 1968 in Belgrad. Seine Monographie stellt einen wichtigen Beitrag zur Betrachtung Jugoslawiens in der Zeit der Reformkrise ab 1964 dar. Dieser geht weit über das hinaus, was zu Jugoslawiens 68ern in Gesamtbetrachtungen zur Geschichte Jugoslawiens bislang zu lesen war und erweitert den Kanon der Betrachtungen zu 1968 fundiert gen Osteuropa.
Kanzleiters grundlegende Hypothese lautet, dass die Proteste Anfang Juni 1968 und der darauffolgende Streik an der Belgrader Universität nur den Höhepunkt eines bedeutend längeren Protestzyklus darstellten. Diesen Zyklus datiert er in die Jahre von 1964 bis Anfang 1975 und macht in ihm verschiedene Etappen aus (S. 17), die sich in den Kapiteln drei bis fünf seines Buches widerspiegeln. Der Autor, Leiter des Regionalbüros der Rosa Luxemburg Stiftung in Belgrad, beschränkt sich in seiner Arbeit dabei weitgehend auf die Protestbewegung der Neuen Linken an der Universität Belgrad.
Boris Kanzleiter beschäftigt sich in dieser Veröffentlichung, hervorgegangen aus seiner Berliner Dissertation, mit drei zentralen Frageschwerpunkten. Erstens, "wie sich die Studentenproteste in den Reform- und Krisenprozess in der SFRJ (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) einfügten" (S. 19). Zweitens, "wie sich im relativ geschlossenen politischen Regime der SFRJ ein Netzwerk von
Bewegungsunternehmern konstituieren konnte und wie die Leitideologie der untersuchten Bewegung - die immanente Kritik an den sozialen und politischen Verhältnissen - an politischer Virulenz gewinnen konnte" (S. 20). Drittens, wie die Protestbewegung "sich im Kontext der Krisen- und Reformphase in Jugoslawien selbst verortete, Probleme identifizierte und Forderungen zu deren Überwindung entwarf" (S. 22). Kanzleiters Arbeit fußt hierbei auf der umfangreichen Auswertung von Archivquellen, Zeitungen und Zeitschriften, Dokumentar- und Spielfilmen sowie Interviews. Einige selbst geführte Interviews des Autors sind bereits 2008 im Rahmen einer Textsammlung zu den Protesten erschienen.[1]"

Abschließend schreibt er in seiner umfangreichen Buchkritik:

"Generell ist die "Rote Universität" ein sehr gelungenes Werk, welches gekonnt den Spagat zwischen notwendiger Narration der Ereignisse und ihrer eingehenden Analyse schafft. Der Autor bietet mit diesem Buch weit mehr als eine Einführung in die Ereignisse. Die Fülle der verwendeten Quellen und die Herangehensweise an die Protestbewegung als soziale Bewegung über einen längeren Zeitraum machen diese Veröffentlichung zu einem Grundlagenwerk zum Thema 1968 in Jugoslawien, welches zudem einen wichtigen Beitrag zur Differenzierung der Reformkrise des Selbstverwaltungsstaats leistet."

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