Nachricht | Rassismus / Neonazismus Die neuen Rechten in Europa zwischen Neoliberalismus und Sozialrassismus

Tagungsbericht aus dem Bürgerhaus Mainz-Kastel, 1. November 2011

Es war offensichtlich: der Schrecken über die Sarrazin-Debatte und die anhaltenden Wahlerfolge von rechtspopulistischen sowie rassistischen Parteien in Europa hielt noch an. Rund 100, zumeist junge TeilnehmerInnen, waren der Einladung der Jenny Marx Gesellschaft für politische Bildung e. V. – Rosa Luxemburg Stiftung Rheinland-Pfalz nach Mainz-Kastel gefolgt. Verschiedene andere Organisationen waren Mitveranstalter. Harald Jansen, Vorsitzender der Jenny Marx Gesellschaft machte am Anfang das Anliegen der Veranstaltung deutlich – „darauf aufmerksam zu machen, dass Rechtspopulismus unsere Demokratie gefährdet“.

Der Soziologe Sven Schönfelder pflichtete ihm bei und unterstrich, dass Rechtspopulisten sich fast überall in Europa „demokratische“ Namen geben und das Recht auf Meinungsfreiheit oder die Forcierung von Formen der direkten Demokratie dazu nützten, um undemokratische Formen durchzusetzen. Im Grunde würden Rechtspopulisten, so Schönfelder, die demokratischen Strukturen nicht abschaffen, sondern sich dieser bedienen und in autoritären Griff nehmen wollen. Hier läge auch der eigentliche Unterschied zu den rechtsextremen Parteien, die i. d. R. systemfeindlich seien.

Entgegen manchen Auffassungen in der Politikwissenschaft, dass der Rechtspopulismus ein Stilmittel, also Politikstil und Agitationsform sei, vertrat Schönfelder die Meinung, dass der Rechtspopulismus eine politische Strömung ist, die scheinbar klassen- und schichtenübergreifend mobilisieren könne und häufig auch als ein politisch-ideologisches „Scharnier“ zwischen den liberalen und konservativen Parteien fungiere. Die Gemeinsamkeiten in Europa würden dies belegen.

Trotz regional- bzw. länderspezifischer Unterschiede seien viele Gemeinsamkeiten der Rechtspopulisten in Europa festzustellen. Die Themen seien insbesondere: Ablehnung der EU; nationale bzw. völkische Selbstbestimmung; ethnisch-kulturelle Homogenisierung; Verteidigung des Christentums gegen den Islam; Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei: traditionelle Vorstellungen von Ehe und Familie, Homophobie; Verbindung der Themen Zuwanderung und Kriminalität; Forderung nach einer Law-and-Order-Politik sowie repressives staatliches Handeln; Wohlstandschauvinismus; einfache, aber radikale Lösungen; Verschwörungstheorien usw.

Schönfelder führte aus, wie sie für die Themen die vorhandenen Krisen nutzen. Bsp. Verteilungs- und Zugangskrise: hier sei ihre Strategie relativ einfach – die soziale Frage werde in eine nationale Frage umgedeutet. Mit Losungen wie „Sozialschmarotzer“ oder „Ausländer plündern unsere Kassen aus“ würden arme Menschen und MigrantInnen als Sündenböcke für gesellschaftliche Probleme und Unsicherheiten dargestellt.

Beispiel Repräsentationskrise der Politik: Institutionen und Eliten der bürgerlichen Demokratie würden in Frage gestellt, die Politik der etablierten Parteien als korrumpiert und unsozial weil „unnational“ angeprangert.

Beispiel Identitätskrise: dieser Krise werden von Rechtspopulisten die nationale bzw. ethnische Zugehörigkeit als exklusives nationales Kulturgut entgegengestellt, welches gegen „fremde Einflüsse zu verteidigen“ sei. Gleichzeitig würden Einheimische als „Opfer“ stilisiert und Anti-Islam-Positionen für die Politisierung durch Emotionalisierung genutzt.

Während den Rechtspopulisten in Europa der sekundäre Antisemitismus (besonders in Bulgarien und Griechenland) sowie der Geschichtsrevisionismus gemeinsam sei, gäbe es auch Unterschiede: die osteuropäischen Rechtspopulisten hätten staatsautoritäre Politikkonzepte und würden ihr WählerInnenpotential aus einer breiten Mittelschicht schöpfen, die aufgrund der Transformationsprozesse ökonomische Benachteiligungen erfahren hätten. Antisemitismus und Rassismus wäre besonders weit verbreitet.

Unterschiedlich seien auch die Parteitypen. In der Politikwissenschaft werde zwischen 3 Parteitypen unterschieden: Typ 1.) gemäßigt nationalistisch und fremdenfeindlich. Diese seien systemkonform und offen für Kooperationen mit liberalen und konservativen Parteien, aber Ablehnend gegen Neofaschisten (z.B. SVP in Schweiz, Geert Wilders in den Niederlanden oder die dänische Folkeparti). Typ 2.) Nationalistisch-völkisch. Eher systemkritisch. Abgrenzung gegenüber Parteien des Typs 1. Teilweise verbale Abgrenzung gegen Neofaschisten (z.B. Front National, Vlaams Belang in Belgien, Lega Nord in Italien oder FPÖ/BZÖ). Typ 3.) Neofaschistische bzw. neonazistische Parteien. Systemfeindlich. Keine Kooperation mit den Parteien des Typs 1 (z.B. Jobbik in Ungarn, British National Party oder NPD).

Zusammenfassend könne gesagt werden, dass der Rechtspopulismus als eine Modernisierungsstrategie verstanden werden müsse, die Stimmungen gegen Schwache erzeuge, um autoritäre Strukturen entstehen zu lassen. Die ideologisch-programmatischen Themenkerne des Rechtspopulismus würden in der bundesdeutschen Bevölkerung hohe Zustimmungswerte (z. T. über 50 Prozent) erreichen. Umfragen hätten ergeben, dass ein harter Kern des rechtspopulistischen Potentials bei 19 Prozent liege. Man hätte auch bei den WählerInnen der Partei DIE LINKE in Ostdeutschland hohe Werte festgestellt.

„Genau diese Befunde belegen, wie maßgeblich die Sarrazin-Debatte die politische Kultur in Deutschland beeinflusst hat“, so Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge in seinem Beitrag. Es sei eine falsche Darstellung, wenn Medien wie „Der Spiegel“ meinten, „Sarrazin habe die Zustände in Deutschland zutreffend beschrieben“. Im Gegenteil, der Erfolg Sarrazins habe mit der Sinnkrise des Sozialen etwas zu tun.

Butterwegge zufolge seien das: 1.) Die Ökonomisierung des Sozialen. Sozialstaat würde in seiner Eigenwertigkeit nicht mehr anerkannt, sondern soll nach „Nützlichkeitskriterien“ umgebaut und im Rahmen des Wirtschaftsstandortes positioniert werden. 2.) Die Kulturalisierung des Sozialen. Gesellschaftliche Gruppen würden nicht mehr nach Klassen, sondern nach ihrer kulturellen Identität gebildet. 3.) Die Ethnisierung des Sozialen, was Butterwegge als einen Bestandteil der politischen Kultur festmacht. Das Soziale werde in der Mitte der Gesellschaft ethnisiert und soziale Hintergründe fielen nicht mehr an. Es sei ein Transformationsprozess, was sicherlich durch die institutionellen Ethnisierungsmechanismen (wie Ausländerrecht, Arbeitserlaubnisverordnung etc.) beschleunigt wird. Und schließlich 4.) die Biologisierung und Naturalisierung des Sozialen. Sarrazin würde behaupten, dass biologische Faktoren Einfluss auf soziale Artikulation hätten. Sarrazin erkläre alles über die Gene.

Die Mittelschichten seien von einer Absturzangst gepackt. Eine solche Mittelschicht tendiere,  „nach oben zu buckeln und nach unten zu treten“. Die Wirtschafts- und Währungskrise hätten die Ängste vertieft und es gebe einen elitären Dünkel gegen die Unterschichten – nicht nur im eigenen Land: Denn in dem Erfolg von Sarrazin bilde sich nicht nur die Angst der Mittelschichten ab, sondern auch die Angst des Westens vor dem Verlust der Hegemonie gegenüber dem Rest der Welt.

Im Grunde genommen hätte Sarrazin nichts Originäres von sich gegeben, sondern geschickt in der Gesellschaft vorhandene Auffassungen miteinander verbunden und diese dann für seine Polarisierung ausgenutzt. Er habe an die Globalisierungsdiskussion, an den Migrations- und Desintegrationsdiskurs, den Sozialstaatsdiskurs und den Demografiediskurs („Deutsche sterben aus“, „die Gesellschaft altert“) angeknüpft.  Dabei versuche er, an dem  dem neoliberalen Umbau, welcher die eigentliche Ursache der gesellschaftlichen Probleme und Unsicherheiten sei, mitzuwirken. So gesehen könne behauptet werden, dass Sarrazin die „Agenda-Politik“ weiter radikalisieren wolle.

In der anschließenden Diskussion unterstrich Butterwegge zudem, dass der Rassismus eine Kernideologie des Rechtsextremismus sei und der Begriff „Islamophobie“ irreführend ist. Der zutreffendere Begriff sei Antimuslimismus.

Dass Positionen, die früher als nicht im Rahmen des „demokratischen Konsens“ gesehen und heute von den etablierten Parteien, der Wissenschaft und den gängigen Medien als „durchaus nachvollziehbare, empirisch belegte Tatsachen“ dargestellt und so salonfähig gemacht werden, habe einen engen Zusammenhang mit dem neoliberalen Projekt, so die Sozialwissenschaftlerin Katrin Reimer.

Reimer sprach dabei von drei Perioden des neoliberalen Projekts, die für die Verbreitung des Rechtspopulismus die eigentlichen Rahmenbedingungen geschaffen hätten – diese unterschieden sich in Bezug auf Hegemonieverhältnisse.

In der ersten Phase, die sie als Kohl-Thatcher-Reagan-Ära bezeichnete, sei es um die Schwächung der kollektiven Rechte und das Aufbrechen von Kräfteverhältnissen gegangen. Während in Deutschland die CDU/CSU-FDP-Regierung den Paradigmenwechsel forcierte, hätten europaweit rechtspopulistische Parteien das gleiche Ziel verfolgt. Beispielhaft sei die FPÖ-Programmatik, die mit der politischen Umsetzung der 80er und 90er Jahre identisch gewesen ist. In dieser Phase hätten die soziale Ungleichheit und die Prekarisierung der Lohnarbeit zugenommen. Die fremdenfeindliche Stimmung, der „Asylkompromiss“ in Deutschland sowie die rassistischen Angriffen (Solingen, Mölln, Hünxe…) hätten für rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien Aufwind gegeben.

Die zweite Phase sei das sozialdemokratische Zeitalter gewesen. Gerade in dieser Phase wäre die Verallgemeinerung des Neoliberalismus sehr hoch. Dennoch hätte es auch Kämpfe im neoliberalen Block gegeben. Als Beispiele dafür wurde die Staatsangehörigkeitsdebatte 1999 bzw. die Rüttgers-Intervention gegen die sog. „Greencard“ aufgezeigt. Während SPD, Grüne und Arbeitgeberverbände breite Zustimmung für „Greencard“ gezeigt hätten, kam Widerstand vor allem von der Union. Die NPD habe sich hier als „antineoliberale“ Partei positioniert. In diese Phase fallen auch der Lissabon-Prozess der EU, die verstärkte Militarisierung, die Angriffe vom 11. September 2011 und insbesondere ab März 2003 die Hartz-Gesetze.

Die dritte Phase dauere noch an. Soziale Ungerechtigkeiten hätten sich verfestigt und die Folgen der Prekarisierung treffe viele Menschen sehr hart. Die Erosion sozialstaatlicher Errungenschaften habe zur Traumatisierung breiter Schichten geführt. Es sei eine Kontinuität der neoliberalen Hegemonie zu beobachten, die Meritokratisierung der sozialen Frage sei voran geschritten. Man müsse den Neoliberalismus als ein Konzept der „offenen Eliten“ sehen. Die Botschaft sei: „unabhängig von Geschlecht, Herkunft usw. kann es jeder schaffen, zur Elite zu gehören – wenn dafür Leistung erbracht wird“. Dieses Konzept habe sich in der SPD systematisch ausgebaut.

Ausgehend vom Input dieser Referate waren die Diskussionen in den Workshops besonders intensiv. In fünf Workshops wurden die Themen „Vormarsch der Rechtspopulisten in West-, Ost-, Süd- und Nordeuropa“, „Sozialer Nährboden für rechte Bewegungen“, „Medialer Rechtspopulismus als Reproduktion rassistischer Ressentiments“, „Pro-Bewegung und Antiislamismus“ sowie „Rechtspopulist Berlusconi und kein Ende?“ diskutiert.

Die abschließende  Podiumsdiskussion widmete sich unter der Moderation des Soziologen Thomas Wagner der Frage nach  „Gegenstrategien linker und demokratischer Kräfte“ zum Rechtspopulismus.  Dabei wurde auch an linker Selbstkritik nicht gespart. Ein Vertreter der Antifa betonte: „die Schwäche der Linken ist die Stärke der Rechten“. Die Tatsache, dass es in den Reihen der Linken nach wie vor eine Fixierung auf den Staat gäbe, erschwere den Kampf gegen Rechtspopulismus. Die tendenzielle Idealisierung des Fordismus sei ein Problem der Linken. Außerdem müsse die Linke grundsätzlich ihre Bündnispolitik überprüfen. Es wären Fragen zu beantworten wie: „Ist bei der Bekämpfung antimuslimischer Positionen ein Zusammengehen mit islamischen Fundamentalisten eine richtige Strategie?“

Der französische Gewerkschafter René Monzat wies daraufhin, dass die Linke in Frankreich es nicht geschafft habe, den vakant gewordenen Platz des Klassenkampfes einzunehmen. Eine Studie würde belegen, dass die ArbeiterInnen von den traditionellen Linken enttäuscht seien, weil diese den von den ArbeiterInnen gewünschten Bruch nicht herbeigeführt hätten. Die französische Linke lasse sich von den Rechten lähmen, weil sie sich Themen diktieren lasse. Beispielsweise habe die Debatte um „Burka-Verbot“ besonders die feministischen und antirassistischen Bewegungen gelähmt. Die einzige Bastion sei die Gewerkschaftsbewegung, weil sie gegen den Rechtspopulismus klassenkämpferisch vorgehe.

Der Soziologe Alexander Häusler meinte, obwohl die rassistischen und fremdenfeindlichen Ressentiments hohe Zustimmungswerte hätten, würden sich diese nicht unbedingt im Wahlverhalten in Deutschland widerspiegeln. Das Kernproblem sei, dass rassistische Ressentiments und die Kulturalisierung der sozialen Frage innerhalb der linken Milieus Einzug erhalten habe. Deshalb müsse die Auseinandersetzung zu allererst in diesen Milieus stattfinden. Zudem dürfe die Linke nicht den Fehler machen, das identitäre Potential der europäischen Einigung nicht ausreichend aufzunehmen und so diesen Platz den Rechten zu überlassen.

Auf die Frage, ob es aufgrund der Tatsache, dass Teile der bürgerlichen Intellektuellen immer mehr Gemeinsamkeiten mit den Rechtspopulisten entdecken, eine Gefahr des Zusammengehens von mittigen intellektuellen Milieus und radikalen Rechten gegeben sei, entgegnete Richard Gebhardt, Politikwissenschaftler aus Aachen damit, man solle keine Gespenster aufbauen. Eine fiktive Rechtspartei habe in Deutschland keine charismatische Führung und es existiere kein Personal, welches eine solche Partei bundesweit aufbauen könnte. Gebhardt: „Für linke Analysen würde ich mir wünschen, dass der Alltag stärker in den Vordergrund gestellt wird. Mich interessiert nicht, was in einer Ideologie falsch ist, sondern was wahr ist. Es gilt, alltagsnah zu arbeiten. Wenn die Kulturalisierung der sozialen Frage alltagsmächtig wird, wird es schwer sein, dagegen vorzugehen“.

Ein junger Teilnehmer betonte, dass die Linke die Frage beantworten müsse, wie eine Sozialpolitik unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus aussehen könne. Eine bestimmte Form einer „großen Erzählung“ müsste wieder auf die Tagesordnung genommen und die Fixierung auf den Nationalstaat müsse aufgelöst werden. Notwendig sei eine radikale Gegenerzählung. Der Kampf gegen Rechtspopulismus und gegen die rassistischen Ressentiments müsse vor Ort, in den jeweiligen Milieus, beginnend mit den linksaffinen Alltagsmilieus, landes- und europaweit mit dem Kampf gegen den Neoliberalismus und Militarismus verbunden werden.

Murat Çakır