
Das Buch widmet sich in drei Teilen der Entwicklung einer spezifischen psychoanalytischen Perspektive auf Antisemitismus und den Umgang mit Antisemitismus (insbesondere in Deutschland). Es basiert auf den Adorno-Vorlesungen am Frankfurter Institut für Sozialforschung, die die Autorin, selbst Analytikerin und Professorin für klinische Psychologie, im Jahr 2023 gehalten hat.
Wozu Antisemitismus?
Der erste Teil, überschrieben «Wozu Antisemitismus», entfaltet einen psychoanalytischen Zugang zu Antisemitismus mit maßgeblichem Bezug auf Jean Laplanches «alteritätstheoretische Psychoanalyse», wobei die Psychoanalyse mehr als «Methode» (des Zugangs zum Unbewussten) denn als (Trieb-)Theorie nutzbar gemacht werden soll. In Abgrenzung zur klassischen Kritischen Theorie und ihrer Anwendung der Psychoanalyse wird Antisemitismus nicht zuerst mit dem autoritären Charakter in Verbindung gebracht/erklärt (hiervon grenzt sich Quindeau deutlichst ab: «Antisemitisch sind nicht nur autoritäre Personen», S. 278), sondern als «Ersatzbefriedigung für konflikthaftes Begehren allgemein» unter Bezugnahme auf eine mit dem Antisemitismus vorhandene «passgenaue» (ebd.) spezifische gesellschaftliche Semantik von Wir-Sie-Relationen.
Schuld und Abwehr
Der zweite Teil ist eine Auseinandersetzung mit dem Schuldabwehrtheorem der Kritischen Theorie. Dessen Voraussetzung – die Annahme der gewissen Weitergeltung einer bürgerlichen Moral, die daher zu Schuldempfinden der Deutschen angesichts der NS-Verbrechen führte, was dann wiederum abgewehrt werden musste –- stellt die Autorin radikal in Frage. Vielmehr zeigt sie am eigenen Material der Studien des «Gruppenexperiments», mit dem die Arbeitsgruppe des Instituts für Sozialforschung das Schuldabwehrtheorem begründete, dass keine Schuld abgewehrt wird, weil keine Schuld empfunden wird. Zu groß war die Identifizierung mit dem Nationalsozialismus und damit die Übernahme einer die Verbrechen legitimierenden nationalsozialistischen Moral. Die gleichwohl existente Abwehr ist also keine unbewusste Abwehr von Schuldempfinden, sondern eine strategische Weigerung, sich dem Geschehenen zu stellen, ein Sich-Zur-Wehr-Setzen gegen als ungerechtfertigt empfundene Vorwürfe.
Bei entsprechenden Phänomenen der Nachgeborenen der Tätergeneration gehe es dann eher um Befreiungs- und Erlösungswünsche. Dies verdeutlicht Quindeau beispielhaft am Erfolg und der positiven Resonanz von Daniel Goldhagens Thesen in Deutschland (was angesichts des auch weit verbreiteten Widerstands gegen Goldhagens Positionen zunächst überrascht; Quindeau sieht da allerdings auch eine Generationenspaltung in der Rezeption von Goldhagens Thesen). Aus genau diesen Erlösungshoffnungen rühret im Übrigen auch die Dominanz des Anti-Antisemitismus als «kultureller Code» im Nachkriegsdeutschland (205).
Aufgrund der Bedeutung des Antiantisemitismus für ein positives kollektives Selbstbild wird also Antisemitismus heute so skandalisiert, nicht etwa aus moralischen Beweggründen (207). Das wird anhand von Reden prominenter Politiker, die den Erinnerungsstolz der Deutschen verkörpern, auch gut plausibilisiert. Die im (erinnerungs-)politischen Diskurs verbreitete, mantrahafte Wiederholung dieser Selbstvergewisserung überdecke aber weiterbestehende mentale Kontinuitäten und Identifizierungen mit dem Nationalsozialismus.
Quindeau äußert auch, dass sie andere moralische Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus für angemessen hielte. Leider werden diese von ihr argumentativ nicht ausgebaut und verbleiben, bis auf den Bezug zu Dan Diners These vom Zivilisationsbruch als imperativem Bezugspunkt weitgehend im Vagen. Das ist eine erstaunliche Leerstelle der Argumentation, die eine anscheinend nicht der weiteren Erklärung würdige Sache (was also tatsächlich aus dem Holocaust zu schlussfolgern wäre) als schlicht gegeben zu unterstellen scheint.
Der Vorwurf des Antisemitismus
Teil III beschäftigt sich auf Basis der in I und II gelegten Voraussetzungen (hervorgehoben wird von ihr an dieser Stelle nochmal besonders: die Relationalität des Antisemitismus in Bezug auf Selbst- und Fremdbild und seine Funktionsweise als projektive Verarbeitung unbewusster Konflikte und Abwehrhaltungen) mit der von Quindeau (und vielen anderen) beobachteten typischen Intensität und Emotionaliät, also Affektaufgeladenheit, der Debatten über Antisemitismus.
Wie der Antisemitismus selbst (der Ambivalenz in Eindeutigkeit verwandele), agierte auch der Norm gewordenen Antiantisemitismus, besonders in Deutschland. Der unterscheide sich deutlich von einer Kritik des Antisemitismus; die wäre nämlich selbstreflexiv und fähig zu Ambiguitätstoleranz.
Ursächlich für die Affektaufladungen des Themas seien u.a. intergenerationale «Transmissionen», im Grundsatz «Gefühlserbschaften», den Nachgeborenen weitergereichte psychische Dispositionen. Sie zeigen sich als von den Eltern übernommene Strategien der Abwehr der NS-Vergangenheit und der Verantwortung für diese. Beispielhaft verweist Quindeau dazu auf «Hygienedemos» und die dort immer wieder erfolgte Selbststilisierung der Impfgegner*innen als NS-Verfolgte. Und Transmissionen werden sichtbar in elterlichen Delegationen an die Nachgeborenen, bspw. in unbewusst weitergegebenen Aufträgen, eigenes Versagen zu korrigieren oder Unterlassenes verbessernd nachzuholen. Im Antiantisemitismus erkennt sie eine «Abwehr des Transmittierten» (251).
Hier dient Quindeau v.a. die Debatte um die Documenta15 als Beleg für die ambiguitätsintolerante, unkritische, nicht selbstreflexive, auf Erinnerungsstolz der Wir-Gruppe ausgerichtete Antisemitismusskandalisierung. Doch solche harschen Schlachten mit dem Antisemitismusvorwurf würden die Kritik des Antisemitismus geradezu verhindern: «Denn mit der Geste des Vorwurfs wird von der eigenen Beteiligung abgelenkt: Antisemitisch sind die anderen.» (278).
Übertragbarkeit ins Soziale?
Die immer wieder in Quindeaus Text eingestreuten Bezüge zur sozialen Realität des gegenwärtigen Antisemitismus stehen teils hinter dem Niveau des aufgespannten Analyserahmens zurück. Das gilt für etwas naiv anmutende Plattitüden wie die Darlegung, dass Tiktok eine zentrale Stellung in der Verbreitung des Antisemitismus einnehme, den betonten Verzicht auf den Quellennachweis bei einem analysierten Zeitungsartikel (der mit wenigen Klicks gegoogelt werden kann) oder – hier auch inhaltlich relevanter – in der holzschnittartigen en-passant-Einordnung der Parole «Free Palestine from German Guilt» in die Erinnerungsabwehr, ganz ähnlich der ebenso en passant erfolgenden Einordnung von israelkritischen Reden auf der Berlinale als antisemitisch. Weitere Beispiel ließen sich ergänzen.
In Bezug auf die Auslegung der Parole «Free…» wird von Quindeau u.a. deren transnationaler Referenzrahmen übersehen. Hinter dem Ruf stehen linke, oft international und migrantisch geprägte Akteure mit unterschiedlichsten nationalen/kulturellen Hintergründen, denen man wahrscheinlich großteils gar kein Motiv zu dieser Art von Abwehr unterstellen kann. Vor allem aber scheint Quindeau nicht zu sehen, dass die Parole einer – im Grundsatz – ganz ähnlichen Analyse folgt wie die Autorin im Buch selbst, egal ob man die Übertragungsleistung auf Israel-Palästina nun inhaltlich teilt oder nicht.
An solchen Stellen, vor allem wenn sie sich auf Ereignisse nach den Vorlesungen und damit nach dem 7.10.2023 beziehen, tritt auch bei Quindeau immer wieder Moral an die Stelle von Analyse, werden Dinge nicht mehr begrifflich gefasst, sondern so unbestimmt wie vieldeutig als «problematisch» beschrieben (bspw. 208/209). Das kann man der Autorin allerdings nur teilweise zum Vorwurf machen und liegt am Charakter des Antisemitismusbegriffs als thick concept, dessen analytische und moralische Komponenten untrennbar miteinander verbunden sind, was einen Sog zu moralischer Kommunikation impliziert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Buch, vor allem Teil I für Nicht-Psychoanalytiker*innen, eine extrem fordernde Lektüre darstellt, deren Mühen aber auch belohnt werden. Besonders überzeugt die Kritik an den Grundannahmen des Schuldabwehrtheorems und die Herstellung des engen Zusammenhangs zwischen den unbewussten Motiven hinter der Beharrlichkeit von Antisemitismus und dem gegenwärtigen Antiantisemitismus.
Ilka Quindeau: Psychoanalyse und Antisemitismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2023; Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 284 Seiten, 32 Euro.