
Anspruch des vorliegenden Sammelbandes (hier als PDF) ist es, einen Überblick über jüdische Akteur:innen in der deutschen Arbeiterbewegung zu bieten. Als «jüdische Menschen» definiert der Herausgeber dabei sowohl Menschen, die das «Judentum aktiv praktizierten», als auch jene, die «an einem Punkt ihres Lebens eine jüdische Sozialisation erfahren haben» oder «unmittelbar als Jüdinnen und Juden von Antisemitismus betroffen waren» (S. 7).
Für Jüdinnen und Juden war ein politisches Engagement in bürgerlich-konservativen Parteien aufgrund des dort vorherrschenden Antisemitismus zumeist keine Option. Dies war schon per se ein Grund für ihr verstärktes Engagement in der Arbeiterbewegung. Auf individueller Ebene jedoch, so betont Hirsch, gab es darüber hinaus eine Vielzahl von Motiven, sich der Sozialdemokratie anzuschließen. Auf genau dieser Beschaffenheit der Verbindung zwischen jüdischen Akteur:innen und der Arbeiterbewegung liegt der Fokus des aus 22 Beiträgen bestehenden Bandes.
Die meisten Autor:innen (17) nutzen biographische Zugänge (davon sind zwölf einzel- und fünf doppel-/gruppenbiographische Artikel). Die übrigen fünf Beiträge beschäftigen sich mit der Frage nach der Verbindung von Judentum und Sozialdemokratie durch die Linse historischer Konstellationen und Debatten (beispielsweise anhand des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens oder der sogenannten «Ostjudendebatte» des preußischen Landtages 1922). Der Band gliedert sich in drei zeitliche Abschnitte: Der erste umspannt die Phase von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg; der zweite von der Etablierungsphase der Republik 1918/19 bis zum Ende der Weimarer Republik; der dritte Teil schließlich widmet sich Akteur:innen, die den nationalsozialistischen Terror überlebten und auch nach 1945 politisch aktiv waren.
«Das Streben nach Emanzipation» als Verbindung
Die Beiträge betonen die «historisch gewachsene, enge Verbindung» zwischen Judentum und deutscher Sozialdemokratie, die mal implizit, mal explizit auf die gemeinsame Erfahrung zurückgeführt wird, «ständiger politisch-kultureller Diskriminierung ausgesetzt» gewesen zu sein (S. 91). Verbindend sei zwischen beiden Gruppen «das Streben nach Emanzipation» gewesen (ebd.). Zwei Beiträge ziehen für die jeweils untersuchten Akteur:innen (Hugo Sinzheimer und Jeanette Wolff) eine direkte Verbindung zwischen den Sozialgeboten der Thora, der Idee der Gleichheit (vor Gott) und der daraus erwachsenden gesellschaftlichen «Aufgabe der Realisierung von Gerechtigkeit und Engagement für sozial Schwächere und Verfolgte» (S. 144), welche für Sinzheimer und Wolff in der Sozialdemokratie verwirklicht werden sollte. Abraham de Wolf sieht es als Grundanliegen von sozialdemokratischen Juden:Jüdinnen, «soziale Gerechtigkeit als politische Aufgabe zu verwirklichen» (S. 49).
Besonders verdienstvoll ist die breite Auswahl an Biographien jüdischer Akteur:innen. Eher unbekannt ist wohl der «Sozialist der Tat» Fritz Lamm, der sich, ohne große Parteikarriere zu machen, insbesondere für Bildungs- und Jugendarbeitsbelange einsetzte und dem Maria Daldrup ihren Beitrag widmet.
Vermutlich die bekanntesten Persönlichkeiten, die im Band skizziert werden, sind Rosa Luxemburg und Kurt Eisner. Frank Jacob arbeitet in seinem Beitrag heraus, wie diese beiden zur Essenz des Feindbildes «Judäobolschewismus» wurden, also der «Bolschewismusfurcht, die sich […] mit antisemitischen Ressentiments und Stereotypen verband» (S. 40). Innerhalb der Sozialdemokratie waren Anfeindungen demgegenüber keineswegs immer antisemitisch, sondern basierten, so Jacob, «oft eher auf politischen Meinungs- und Ausrichtungskonflikten» (S. 41). Ergänzend beobachtet Yuval Rubovitch, dass insbesondere während des Ersten Weltkrieges innerhalb der sozialdemokratischen Partei ein größerer Druck auf jüdischen Genoss:innen lastete, sich als «‚gute‘ Deutsche» zu erweisen (S. 46). Nach dem Krieg schützte sie das bekanntlich in keiner Weise vor antisemitischen Anfeindungen (S. 46).
Insgesamt bleibt jedoch die Frage nach dem Antisemitismus in den eigenen (Partei-)Reihen zugunsten der Betonung des Verbindenden größtenteils ausgespart. Eine Ausnahme, allerdings mit Bezug auf die KPD, nicht die SPD, findet sich im Beitrag von Stefan Braun zu Elias Laub. Wie Braun darlegt, wurde Laub 1922 aus der KPD ausgeschlossen und lieferte sich anschließend eine hitzige Auseinandersetzung mit seiner ehemaligen Partei um die Eigentümerrechte am Verlag «A. Seehof & Co». Im Zuge dessen wurde er von den Ex-Genoss:innen auch unverhohlen antisemitisch angefeindet (S. 70 f.).
Positiv hervorzuheben ist, dass mehrere Beiträge die Intersektionalität der portraitierten Akteur:innen benennen – sei es, eine dreifache Verfolgung als «Jude, Sozialist und Homosexueller» (Jakob Altmeier, S. 115; Fritz Lamm, S. 126), oder die Diskriminierung Rosi Wolfensteins «als Frau, als Jüdin, als Sozialistin bzw. Kommunistin und damit verbunden als vermeintliche Russin» (S. 99) bzw. Jeanette Wolffs (vgl. S. 138 f.) und Toni Senders als «Frau, Jüdin und Sozialdemokratin» (S. 146). Aufgrund der Kürze der Beiträge können solche Konstellationen lediglich festgehalten werden: Zu wünschen bleiben künftige, vertiefende Untersuchungen in diese Richtung.
Juden und Jüdinnen als aktive Mitgestalter:innen der deutschen Arbeiterbewegung
Die Beiträge sind wissenschaftlich fundiert, gut lesbar und bestens geeignet, einem breiteren Publikum auch über die Academia hinaus einen Einstieg zu bieten. Fußnoten und Literaturverweise bieten rote Fäden, die Leser:innen eigenständig weiterspinnen können. Der Sammelband hält, was Hirsch in der Einleitung als Anspruch formuliert, «nämlich Jüdinnen und Juden nicht nur passiv und ex negative aus der Opferperspektive antisemitischer Diskriminierung dazustellen, sondern ebenfalls zu demonstrieren, welche aktive und konstruktive Rolle sie in Prozessen hin zu einer liberalen Demokratie in Deutschland gespielt haben» (S. 7). Ob sie sich selbst als dergestalte Vorkämpfer:innen des Liberalismus verstanden, sei allerdings dahin gestellt. Dessen ungeachtet rückt der Band eine bislang sträflich unterbelichtete Geschichte in den Fokus: die von jüdischen Sozialist:innen, die nicht nur Opfer des antisemitischen Wahns wurden, sondern vor allem aktive Mitgestalter:innen der deutschen Arbeiterbewegung waren. Die Lebensläufe, politischen Kämpfe und theoretischen Beiträge jüdischer Sozialdemokrat:innen werden in den Porträts lebendig.
Die Beiträge bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für schulische wie außerschulische Bildung und sollten auch in Gewerkschaften, Parteien und politischen Jugendorganisationen breit diskutiert werden. Es bleibt dieser verdienstvollen Publikation eine breite Wahrnehmung gewünscht, und dies nicht um ihrer selbst willen: Sie erweitert den Horizont sozial- und arbeitergeschichtlicher Betrachtungen um eine marginalisierte Dimension und setzt so auch in der gegenwärtigen Forschungslandschaft ein wichtiges Zeichen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung und das Archiv der sozialen Demokratie zeigen hier beispielhaft, wie politische Bildung, historische Forschung und Erinnerungskultur miteinander verbunden werden können.
Charlotte Rönchen
Jacob Hirsch (Hrsg.): Jüdische Menschen in der Arbeiterbewegung. Porträts – Debatten – Motive, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2023, 164 Seiten (hier als PDF open access)
Diese Rezension erschien zuerst in der Ausgabe 3/2025 der Zeitschrift Arbeit - Bewegung - Geschichte. Charlotte Rönchen ist Mitarbeiterin des Institut für historische Sozialforschung, einer gemeinsame Gründung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes und der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien.


