Kommentar | Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Waffenruhe in Gaza. Stimmen aus Palästina

18. September 2025: Vertriebene Palästinenser*innen fliehen aus Gaza-Stadt mit den Habseligkeiten auf der Küstenstraße im zentralen Gazastreifen in Richtung Süden.
18. September 2025: Vertriebene Palästinenser*innen fliehen aus Gaza-Stadt mit den Habseligkeiten auf der Küstenstraße im zentralen Gazastreifen in Richtung Süden. Foto: Doaa Albaz/Activestills

Zwei Jahre nach dem brutalen Massaker der Hamas und zwei Jahre nach Beginn des genozidalen Krieges im Gazastreifen, wurde am 9. Oktober 2025 endlich eine Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas unterzeichnet. 

Auch wenn der sogenannte Friedensplan, vermittelt durch den US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, viele wichtige Fragen völlig offen lässt und es berechtigt ist, mit Skepsis auf die Entwicklungen zu schauen, so ist die vereinbarte Waffenruhe, die mit dem Rückzug der israelischen Armee, der Freilassung der israelischen Geiseln sowie der Freilassung palästinensischer Gefangenen aus israelischen Gefängnissen einhergehen soll, ein wichtiges Momentum. 

Endlich gibt es einen Schimmer der Hoffnung und die Menschen in Palästina und in Israel können aufatmen, auch wenn sie wissen, dass es ein kurzer Moment sein kann. Und selbst dieser Moment der Freude ist durchzogen von Schmerz, Leid und Angst. Um in dieser Situation Menschen von vor Ort zu hören, veröffentlichen wir Stimmen aus Palästina und Israel, die Teil unserer dortigen Netzwerke sind. Wir bedanken uns herzlich bei den Autor*innen, dass sie ihre Gedanken mit uns teilen.

Ali Abu Yassin, Theaterdirektor, Gaza

«Über den Waffenstillstand. Seit heute Morgen, als der Waffenstillstand verkündet wurde, habe ich gemischte Gefühle zwischen Freude und Angst, dass das Abkommen nach all den vorherigen fehlgeschlagenen  Versuchen doch scheitern könnte. Wir möchten vor Freude springen und vor Schmerz schreien für all unsere geliebten Menschen, die wir verloren haben, für Gaza, das zerstört wurde, und für unsere Träume, die vernichtet  wurden. Unser Schmerz und unsere Tragödie sind unbeschreiblich. Es scheint, dass der Raum für Traurigkeit, Angst und Schmerz viel größer ist als der Raum für Freude. Wir brauchen Zeit, um uns freuen zu können und von all unseren Traumata und psychischen Erkrankungen zu genesen, die die israelische Besatzungsarmee hinterlassen hat. Ja, wir träumen von Frieden, Stabilität und einem Leben in Sicherheit wie die übrigen Völker dieser Welt. Wir hoffen, dass die Grenzübergänge bald geöffnet werden und wir saubere Luft ohne Pulverdampf atmen und unverschmutztes Wasser trinken können, dass die Hungersnot, unter der wir seit Monaten leiden, ein Ende findet und dass Hilfsgüter ins Land gelangen. Wir sind voller Hoffnung, dass alle freien Menschen der Welt uns zur Seite stehen werden, um diesen Traum zu verwirklichen und einen dunklen Moment der Geschichte zu beenden, der vom Gewissen aller freien Menschen der Welt nicht vergessen werden wird.

Abschließend möchte ich allen Menschen, Völkern und Regierungen aus allen Ländern der Welt, die unsere Standhaftigkeit unterstützt haben, meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Wir sind frei, und ihr seid frei.»

Bassam al-Salhi, Generalsekretär der Palästinensischen Volkspartei (PPP), Ramallah

«Die Reaktion der Hamas ist verantwortungsbewusst, und wir haben sie dabei unterstützt. Wir fordern ein sofortiges Treffen der Palästinenser, um gemeinsam den Folgen dieser Phase zu begegnen und das Kapitel der Spaltung zu schließen. Der Vernichtungskrieg Israels muss sofort beendet und Hilfslieferungen nach Gaza müssen zugelassen werden. Es ist notwendig, in das sehr turbulente internationale Klima und die Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu investieren, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu erreichen und Kriegsverbrecher für den Völkermord an den Palästinensern in Gaza zur Rechenschaft zu ziehen.»

Marah Elwadiya, Journalistin

«In dem Moment, als der Waffenstillstand verkündet wurde, spürte ich, wie die Taubheit meinen Körper verließ und mein Herz wild zu schlagen begann. Ich brach in Schweiß aus und Tränen liefen über mein Gesicht. Ich versuchte, mich zu beherrschen. Nach zwei Jahren voller Tod und Zerstörung habe ich kein Zuhause mehr. Ich habe viele Kollegen und Freunde verloren, von denen einige direkt durch Raketen der Besatzungsmacht getötet wurden, während andere gewaltsam verschwunden sind und ihr Schicksal bis heute unbekannt bleibt. Eine dieser Personen ist Nidal al-Wahidi.

Nachdem ich acht Monate nach meiner Flucht aus Gaza nach Kairo gezogen war, wurde ich von meiner Familie getrennt. Selbst wenn ich meine Augen schließe, kommt mein Geist nie zur Ruhe. Ich schalte mein Telefon nie auf lautlos, weil ich immer auf schlechte Nachrichten warte. Nachts schließe ich meine Augen, aber ich habe Albträume. Immer wieder sehe ich mein Kind ohne Gliedmaßen in meinen Träumen. Ich habe auch Albträume, in denen ich meinen Mann verliere und den Schmerz über das Martyrium meiner Familie erlebe. Ich habe auch geträumt, dass ich selbst getötet wurde und mein Kind allein den Völkermord überlebte.

Nach zwei Jahren ist ein Waffenstillstand eine Tragödie, und es wäre eine noch größere Tragödie, wenn der Krieg weiterginge oder wenn wir von der Besatzungsmacht hintergangen würden. Alles, was ich mir im Augenblick wünsche, ist ein Ende des Blutvergießens. Ich erwarte nichts anderes von der Welt als das. Ich möchte zusammenbrechen, ich möchte weinen und schreien. Ich möchte all die Tragödien verstehen, die uns widerfahren sind. Vielleicht werde ich verrückt, wenn ich das tue! Aber ich weiß, dass wir bereits verrückt geworden sind, zusammen mit all den seelischen Traumata, die mit Völkermord einhergehen.

Was mich derzeit am meisten beschäftigt, sind die einzigen Überlebenden und die Familien der Gefangenen, die den Waffenstillstand möglicherweise nicht mehr erleben werden. Sie sind in einem endlosen Kreislauf gefangen, wie lebendige Tote, und ich fühle mit ihnen.»

Hossam Al-Madhoum, Gründer des «Theater for Everybody» in Gaza

«Als heute der Waffenstillstand in Gaza verkündet wurde, hielt ich es für das Angemessenste, meinen Kollegen in Gaza einen freien Tag zu gönnen – diesem Team von mehr als 150 Mitarbeitern, darunter Berater, Sozialarbeiter, Moderatoren und Animateure, die in Gaza Unmögliches leisten, um Kindern zu helfen und sie zu unterstützen. 

Und genau das haben sie getan: Sie haben sich versammelt, um die Nachricht zu feiern, um das Ende des täglichen Tötens zu feiern. 

Sehen Sie sich ihre Gesichter an, sehen Sie sich diese Freude an. Hier in Kairo vermisse ich sie alle, ich warte auf den Moment, sie zu treffen, sie zu umarmen, ihnen zuzuhören, sie erzählen zu lassen, was sie in diesen zwei schrecklichen Jahren durchgemacht haben. 

Aber hinter dieser überwältigenden Freude verbergen sich unaussprechlicher Schmerz, Qual, Trauer, Verlust und große Sorge. 

Der Krieg hört auf, die Bombardierungen hören auf. Das Töten hört auf. Was nun? Mit einer vollständig zerstörten Stadt. Ohne Recht und Ordnung, ohne funktionierende Behörden, die Mehrheit der Menschen in Gaza in Armut und ohne Arbeit. Wie wird das Leben dort aussehen? Werden zwei Millionen Menschen weiterhin von humanitärer Hilfe abhängig sein? Von der Verteilung von Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern? Ist das das Leben, das sie erwartet? 

Während dieser zwei Jahre des Krieges und des Chaos hat Israel an mehreren Orten bewaffnete Milizen aufgebaut. 

Der Wiederaufbau Gazas wird Jahre dauern, und Israel wird alles in seiner Macht Stehende tun, um den Wiederaufbau zu verzögern, die internen Streitigkeiten weiter anzuheizen und die Milizen zu unterstützen. 

Der eigentliche Krieg geht zu Ende, aber es stehen noch viele Kämpfe bevor, und diesmal werden sie nicht in den Nachrichten zu sehen sein.»

Omar Assaf, Koordinator des Vorbereitungskomitees der Palestinian Popular Conference (PPC)

«Wir hoffen, dass das Waffenstillstandsabkommen ein Ende des Völkermords an den Palästinensern in Gaza bedeutet und die Einfuhr humanitärer Hilfe ermöglicht. Wir vertrauen jedoch weder Israel noch den USA, da Israel bereits zuvor gegen das Waffenstillstandsabkommen verstoßen hat, und wir befürchten, dass Israel den Waffenstillstand sofort nach Abschluss des Gefangenenaustauschs wieder brechen wird. Wir verlassen uns auf die internationale Solidarität, die Palästina weltweit unterstützt hat. Netanjahu wird vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht, und Israel sollte für den Völkermord und die Kriegsverbrechen, die es in Gaza begangen hat, zur Rechenschaft gezogen werden. Was wäre sonst der Sinn des Völkerrechts und der Menschenrechte?»

Ratebha Al Natsha, Mitglied des Politbüros der FIDA Partei, Ramallah

«Alle palästinensischen politischen Parteien begrüßen das Waffenstillstandsabkommen, da es ein Ende der israelischen Angriffe auf Gaza und des andauernden Prozesses der ethnischen Säuberung bedeutet. Dennoch hat Israel bereits in der Vergangenheit Waffenstillstandsabkommen verletzt, sodass es keine Garantien gibt. Äußerungen wie die von Smotrich, dass Israel seine Angriffe auf Gaza nach dem Gefangenenaustausch wiederaufnehmen sollte, offenbaren die wahren Absichten der israelischen Regierung, die auf die Vernichtung des palästinensischen Volkes abzielen. Israel sollte für den Völkermord, den es in Gaza begangen hat, zur Rechenschaft gezogen werden; andernfalls verliert die gesamte Struktur des Völkerrechts und der Menschenrechte für die Welt ihre Bedeutung.»