Analyse | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Südostasien Die Philippinen: Ein Land am Rande des Aufstands?

Ausbeutung und Korruption haben viele Menschen in die Verzweiflung getrieben

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Zehntausende Demonstrant*innen gehen am 21. September 2025 in Manila auf die Straße, um gegen Korruption zu protestieren. Photo: IMAGO / Anadolu Agency

Auf der gerade stattfindenden Frankfurter Buchmesse werden dieses Jahr die Philippinen als Ehrengast gefeiert unter dem Motto «Fantasie beseelt die Luft» – ein Inselstaat, in dem «Vielfalt im Mittelpunkt steht». Doch die Philippinen sind nicht nur ein Land kultureller Vielfalt, sondern auch ein Land der Widersprüche und der tiefen sozialen Ungleichheit, wie die Unruhen Ende September auf drastischste Weise zeigten. Und solange diese soziale Ungleichheit bestehen bleibt, ist mit weiteren Unruhen zu rechnen, wie der philippinische Sozialist Herbert Docena schildert.

Ende September dieses Jahres gingen zehntausende Philippiner*innen auf die Straße, nachdem über Wochen hinweg immer wieder Enthüllungen über hochrangige Beamt*innen bekannt wurden, die Bestechungsgelder in Millionenhöhe aus staatlich finanzierten Projekten erhalten hatten. Etwa tausend Demonstrierende, überwiegend junge Menschen aus armen Stadtvierteln, marschierten dabei entschlossen bis zum Präsidentenpalast, wo es zu den wohl schwerwiegendsten Auseinandersetzungen mit der Polizei in der jüngeren Geschichte der Philippinen kam. 

Herbert Docena ist Forscher und Pädagoge sowie Mitorganisator der «The Workers’ School», einer neuen Bildungsinitiative, die unterdrückte Gruppen auf den Philippinen dabei unterstützt, sich selbst Wissen anzueignen und an andere weiterzugeben. 

Die jungen Demonstrierenden versuchten, einen Ten-Wheeler, der ihnen den Weg versperrte, in Brand zu setzen, und warfen Molotowcocktails auf gepanzerte Polizeifahrzeuge. Selbst nachdem die Polizei scharfe Munition einsetzte, weigerten sie sich  zurückzuweichen. Ein Video zeigt einen Demonstrierenden, wie er lautstark «nieder mit dem System» ruft, während andere ergänzend skandieren «Revolution! Revolution! Revolution!»

Regierungsbeamt*innen und viele Kommentator*innen taten das Geschehen schnell als sinnlose Krawalle ab – das Werk von gedankenlosen oder irrationalen «Unruhestifter*innen», die von «Akteur*innen mit unlauteren Absichten» bezahlt würden, um eine ansonsten stabile Regierung zu destabilisieren. Hinter diesen Anschuldigungen verbirgt sich eine unausgesprochene Annahme: dass niemand auf den Philippinen, am allerwenigsten die Kinder der arbeitenden, armen Bevölkerung, Grund habe, das System «zerstören» zu wollen. Allerdings dürfte die Unzufriedenheit mit «friedlichen» Protesten nur für jene schwer nachzuvollziehen sein, denen die Lebensumstände der philippinischen Arbeiter*innenklasse völlig fremd sind.

Tatsächlich bleibt nur den Reichen, die in ihren vergoldeten Penthäusern oder Glastürmen leben und von der Lebensrealität im Land völlig abgeschottet sind, die Logik hinter diesem Ruf nach einer «Revolution» verschlossen. Denn die Philippinen sind ein Land, das von tiefer Ungleichheit und noch tieferem Leid geprägt ist – einem Leid, das irgendwann in der einen oder anderen Form an die Oberfläche brodelt.

Die üblichen Verdächtigen

Um nachzuvollziehen, warum arme Jugendliche in philippinischen Städten ihren Protest nicht länger auf symbolische Gesten oder Rituale beschränken wollen, muss man verstehen, was der philippinische Staat ihnen in den vergangenen Jahren zugemutet hat. Erst aus dieser Perspektive lässt sich ein Bild der heutigen philippinischen Gesellschaft zeichnen – eines, das sich grundlegend von jenem unterscheidet, das die politische und wirtschaftliche Elite des Landes kultiviert und verbreitet.   

Seit Jahrzehnten tragen junge Menschen aus den ausgebeuteten und marginalisierten Schichten der Bevölkerung die Hauptlast der direkten und indirekten Gewalt, die von staatlichen Institutionen ausgeht – ob durch die Regierung selbst, durch Gerichte, die Polizei oder das Militär. Wie mehrfach betont wurde, sind Teenager und junge Erwachsene aus den dicht besiedelten Slums und Arbeitervierteln der Philippinen zu bevorzugten Prügelknaben – wenn nicht gar zu lebenden Zielscheiben – einer gewalttätigen Polizei geworden. 

Im Gegensatz zu Jugendlichen aus der Mittelschicht, die in bewachten Wohnsiedlungen, luxuriösen Eigentumswohnungen oder anderen Orten leben, zu denen die Polizei keinen freien Zugang hat, sind diese Jugendlichen aus der Arbeiterklasse leichtere Beute: Sie sind immer die ersten, die bei Drogenrazzien oder anderen Polizeieinsätzen festgenommen werden. Ihre Väter arbeiten als Müllmänner oder Fabrikarbeiter und verfügen daher kaum über einflussreiche soziale Kontakte, mit denen sie ihre Kinder schützen könnten – anders als etwa Anwält*innen oder leitende Angestellte mit Verbindungen zu mächtigen Kreisen. Entsprechend hoch ist das Risiko, dass diese Jugendlichen in Polizeigewahrsam geschlagen, gefoltert oder auf andere Weise misshandelt werden. 

Wie einige Beobachter*innen zu Recht festgestellt haben, gehörten arme Jugendliche aus den Städten zu den Hauptopfern des brutalen «Krieges gegen die Drogen», den die Polizei unter Rodrigo Duterte weitgehend ungestraft geführt hat. Mittlerweile wird der ehemalige Präsident der Philippinen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt, diesen mörderischen Feldzug initiiert zu haben. Man denke nur an Kian de los Santos, den 17-jährigen Schüler aus Caloocan, einem bekannten Arbeiterviertel nördlich von Manila, der zu Unrecht als Drogendealer beschuldigt und dann von Polizisten erschossen wurde, die anschließend wegen seiner Tötung verurteilt wurden. Er war nur einer von vielen Minderjährigen aus der Arbeiterklasse unter den schätzungsweise 12.000 bis 30.000 Menschen, die im Krieg zu Tode kamen, den Duterte offen gegen die arme Bevölkerung der Philippinen geführt hatte. 

Es ist kaum überraschend, dass einige dieser Jugendlichen nach Jahren der Unterdrückung, Marginalisierung und Entmenschlichung ihre früheren Hemmungen abgelegt haben und nun offen gegen einen Staat rebellieren, der ihnen nie etwas gegeben hat. Überraschend ist höchstens, dass es erst jetzt passiert.

Die Gewalt hat viele Gesichter 

Diese direkten Formen staatlicher Gewalt sind allerdings nicht die einzigen Faktoren, die Kinder der armen philippinischen Arbeiter*innenklasse in die Gewalt drängen. Nehmen wir erneut Kian als Beispiel: Seine Mutter Lorenza arbeitete in den letzten drei Jahren von Kians kurzem Leben als Hausangestellte in Riad. Sie ist nur eine von Millionen Menschen aus der philippinischen Arbeiter*innenklasse, die ihr Land verlassen mussten, weil es dem Staat nicht gelungen war, ausreichend Arbeitsplätze im Inland zu schaffen. Stattdessen wurde sie nach Saudi-Arabien gedrängt – von einem sogenannten «Arbeitsvermittlungsstaat», der aktiv die Auswanderung von Arbeitskräften vorantreibt, um die heimische Wirtschaft anzukurbeln.  

Im Jahr 2023 arbeiteten Berichten zufolge rund 2,2 Millionen Philippiner*innen als «Overseas Filipino Workers» im Ausland, etwa die Hälfte von ihnen Frauen, die wie Lorenza als Hausangestellte tätig waren. Wie viele derjenigen, die im September an den sogenannten «Unruhen» teilnahmen oder die «Randalierer» anfeuerten, sind wie Kian aufgewachsen – jahrelang getrennt von ihren Müttern, ohne von ihnen umarmt zu werden, wenn sie krank waren, oder ihre Freude mit ihnen teilen zu dürfen, wenn sie glücklich waren?     

Armut, Landlosigkeit, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten im Heimatland und patriarchalische Strukturen, in denen Frauen kaum mehr als glorifizierte Sklavinnen ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder sind, zählen zu den Gründen, die philippinische Frauen auf die eine oder andere Weise dazu zwingen, aus ihrem Land zu fliehen, um im Ausland zu arbeiten. Es handelt sich dabei um alles andere als unveränderliche Gesetze der Natur. Diese Umstände müssen durch gezielte Maßnahmen des Staates oder der Machthabenden aufrechterhalten oder neu geschaffen werden. 

Nichts anderes hat der philippinische Staat seit den 1970er Jahren getan: Er verweigerte die Umverteilung des Reichtums von den Wohlhabendsten, scheiterte daran, sich den Interessen der Großgrundbesitzer*innen entgegenzustellen, die Landreformen blockierten, unterließ es, gegen Unternehmer*innen und neoliberale Ideolog*innen vorzugehen, die sich gegen eine Industriepolitik stellten, und lehnte Maßnahmen ab, die darauf abzielten, die Macht der Kirche und anderer konservativer, antifeministischer Kräfte zu brechen – und vieles mehr. Sind all diese ergriffenen oder unterlassenen Maßnahmen, die dazu führen, dass so viele Kinder von ihren Müttern getrennt werden, nicht selbst eine Form von Gewalt gegen die Kinder der mittellosen Arbeiter*innenklasse?

Die Arbeiter*innenklasse als Zielscheibe 

Man denke auch an die Söhne und Töchter derjenigen, denen nicht einmal das «Privileg» zuteil wird, im Ausland ausgebeutet zu werden: diejenigen, die sich die hohen Vermittlungsgebühren für Arbeitsplätze in anderen Ländern nicht leisten können. Sie haben keine andere Wahl, als zurückzubleiben und in den überfüllten Städten der Philippinen als Teil des städtischen Proletariats oder auf dem Land als landlose Arbeiter*innen oder Kleinbäuer*innen zu arbeiten.

In den letzten Jahrzehnten haben die urbane und die ländliche mittellose Arbeiter*innenklasse sowohl auf den Philippinen als auch in anderen Ländern zunehmend an Boden verloren. Trotz enormer Produktivitätssteigerungen sank ihr Anteil am gesellschaftlichen Reichtum im Verhältnis zum Kapital. Die Reallöhne hielten mit den steigenden Lebenshaltungskosten und sozialen Erwartungen nicht Schritt. Und auch die philippinischen Landwirt*innen, deren Anzahl ohnehin stetig schrumpft, stehen zusätzlich unter Druck: Billige Agrarimporte überschwemmen den heimischen Markt, während die Preise für Düngemittel und andere Betriebsmittel unerschwinglich bleiben.  

Als wäre das noch nicht genug, haben Unternehmen auf der Suche nach Spekulationsmöglichkeiten oder Gebieten für die Rohstoffgewinnung ihre Anstrengungen intensiviert, möglichst große Landflächen aufzukaufen. Dadurch werden Landwirt*innen gezwungen, in die Städte abzuwandern, um sich dort der von Karl Marx so genannten «industriellen Reservearmee» – den wachsenden Massen der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten –anzuschließen. Die Lage vieler arbeitender und in Armut lebender Philippiner*innen wird zusätzlich durch die völlig unzureichenden «sozialen Sicherheitsnetze» im Land verschärft, die sie eigentlich vor der Willkür des Marktes schützen sollten. Seit den 2000er Jahren wurde der Zugang zu sozialen Hilfsleistungen entweder eingeschränkt oder die Empfänger*innen wurden durch Auflagen oder «Targeting»-Systeme stigmatisiert, die zwischen «verdienter» und «unverdienter» Unterstützung unterscheiden.

Diese Entwicklungen bahnen sich schon lange an. Seit den 1960er Jahren hat der philippinische Staat systematisch seine enormen Ressourcen eingesetzt, um eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu schaffen und zu festigen, die die Interessen der Großgrundbesitzer*innen und Großkapitalist*innen über die Interessen der Mehrheit der Arbeiter*innenklasse stellt. Ab den 1980er Jahren nahm diese Politik noch härtere Formen der kapitalistischen Entwicklung an. Konzerne konnten nun noch leichter riesige Landflächen und Ressourcen von Kleinbäuer*innen oder indigenen Gemeinschaften aufkaufen, Arbeitskräfte weit unter dem Existenzminimum entlohnen und sich der Verantwortung für die Unterhaltung öffentlicher Krankenhäuser und Schulen sowie anderer wichtiger Dienstleistungen entziehen. Gleichzeitig tolerierte oder förderte der Staat gar verschiedene Formen von Korruption und Rent-Seeking-Aktivitäten und ermöglichte es einem riesigen Netzwerk politischer Dynastien, sich mit öffentlichen Geldern die Taschen zu füllen. 

Das Leid des Spätkapitalismus 

Mit der Konsolidierung des Kapitalismus und der neoliberalen Entwicklung trug der philippinische Staat dazu bei, der mittellosen Arbeiter*innenklasse enorme Mengen an Reichtum zu entziehen. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes wuchs in den letzten fünf Jahrzehnten um über 1.000 Prozent; die philippinische Wirtschaft zählt inzwischen zu den größten Asiens – die neuntgrößte des Kontinents und die zweiunddreißigste weltweit – und übertrifft damit mehr als 150 andere Volkswirtschaften.  

Doch indem der Staat die Bedingungen schuf und festigte, unter denen die unteren Klassen gezwungen sind, diesen Reichtum zu produzieren, trug er zugleich maßgeblich zu ihrem Leid bei. Die philippinische Bevölkerung musste die ganze Bandbreite aller erdenklicher Emotionen durchleben, Gefühle über die selten gesprochen oder nachgedacht wird, da Sozialpolitik oder staatliche Maßnahmen in der Regel in Zahlen ausgedrückt werden – Anzahl der zerstörten Arbeitsplätze, Summe der nicht gezahlten Löhne, Gesamtfläche enteigneter Flächen usw. Was dabei allerdings nicht zur Sprache kommt, ist das menschliche Leid, das hinter diesen Zahlen steht. 

Man denke dabei etwa an das Schicksal des Kleinbauern auf der Insel Sicogon, der mit ansehen musste, wie das kleine Stück Land, das ihm im Rahmen des staatlichen Landreformprogramms zugesprochen werden sollte, asphaltiert wurde, um Platz für ein Luxusresort zu schaffen. Man denke an das Trauma der Mutter, die ohnmächtig zusehen musste, wie ihre Hütte im Bezirk North Triangle von Quezon City abgerissen wurde, um einem Einkaufszentrum zu weichen. Man stelle sich die Qualen von Millionen von Arbeiter*innen vor, die feststellen müssen, dass ihre Löhne nicht ausreichen, um ihre Kinder zur Schule zu schicken, oder die Verzweiflung der Menschen in Bicol, deren Häuser von Überschwemmungen weggerissen wurden – Katastrophen, die durch längst überfällige, aber nie realisierte Hochwasserschutzprojekte hätten verhindert werden können. 

Und dann sollte man die Folgen all dieses Leids für die Kinder betrachten. Ist es da wirklich überraschend, dass so viele junge Philippiner*innen aus der Arbeiterklasse «das System zerstören» wollen und zur «Revolution» aufrufen? Für die Machthabenden mag diese Wut ein Rätsel sein. Doch wer die philippinische Realität aus der Perspektive der Arbeiter*innenklasse betrachtet, erkennt, dass das eigentliche Rätsel nicht der Ausbruch, sondern das Ausbleiben einer größeren Revolte ist. Viele Kommentator*innen fragen, «warum all diese armen Kinder nicht einfach friedlich bleiben können». Doch angesichts dessen, was sie in den letzten Jahrzehnten ertragen mussten, drängt sich eine andere Frage auf: Wie ist es überhaupt möglich, dass sie so lange friedlich geblieben sind?

Die Philippiner*innen haben großes Leid erfahren. Und wenn Menschen leiden, reagieren sie – manchmal gemeinsam. Mitunter gelingt es ihnen sogar, einen Aufstand zu organisieren. Dass dies auf den Philippinen, anders als in Bangladesch oder Nepal, noch nicht geschehen ist, bedeutet nicht, dass es nicht noch eintreten wird.