Nachricht | Geschichte - Osteuropa Ein Leben zwischen Literatur, Diplomatie und politischem Umbruch

Eduard Goldstücker (30. Mai 1913 – 23. Oktober 2000)

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Eduard Goldstücker liest 1950 als der tschechoslowakische Gesandte in Israel das Beglaubigungsschreiben seiner Regierung vor. Wikimedia Commons, Theodore Brauner - National Photo Collection of Israel, Photography dept. Government Press Office

Eduard Goldstücker war einer der markantesten tschechoslowakischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Als Germanist, Diplomat und politisch engagierter Zeitzeuge war er tief in die dramatischen Entwicklungen der europäischen Geschichte eingebunden – von der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei über das Exil in Großbritannien nach dem deutschen Einmarsch, die Anfänge des Staates Israel in den 1950er Jahren, die antisemitische Kampagne des Spätstalinismus und den ‚Prager Frühling‘ 1968 bis hin zur erfolgreichen akademischen Karriere im Westen und der Transformation der postkommunistischen Gesellschaft in der Tschechischen Republik.[1]

Herkunft und frühe Jahre

Am 30. Mai 1913 im nordslowakischen Dorf Podbiel als Jizchak Jakub Schalom ben Jozef in eine religiös geprägte jüdische Arbeiterfamilie geboren, wuchs er in der jungen demokratischen Tschechoslowakei auf – einem Staat, der nach dem Ersten Weltkrieg auf den Trümmern der Habsburgermonarchie entstanden war. In einem interkulturellen Umfeld sozialisiert, entwickelte er früh ein Interesse an Sprachen: Als Gymnasiast beherrschte er bereits sieben, darunter Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Tschechisch und Ungarisch. Später kamen unter anderem Englisch, Russisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Polnisch hinzu.

In den späten 1920er Jahren, als Gymnasiast in Košice, stand Goldstücker unter dem Einfluss zionistischer Ideen und engagierte sich in der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair. Während seines Germanistik- und Romanistikstudiums an der Karls-Universität in Prag in den frühen 1930er Jahren schloss er sich der kommunistischen Bewegung an. Dabei dürften vor allem die verheerende Weltwirtschaftskrise ab 1929 sowie die Etablierung der antisemitischen und antikommunistischen NS-Diktatur im benachbarten Deutschland eine wesentliche Rolle gespielt haben. Er wurde zu einer zentralen Figur der kommunistischen Studentenorganisation KOSTRUFA und war 1935 Delegierter beim Kongress der Kommunistischen Jugendinternationale in Moskau. Zudem fungierte er als Sekretär der kommunistisch orientierten deutsch-tschechoslowakischen Liga für Menschenrechte. Nach seinem Studium war er als Aushilfsprofessor an einer Realschule und später als Lehrer an der Eckert-Wirtschaftsschule in Prag tätig.

Alexander Friedman, Dr. phil., Historiker, lehrt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, an der Universität des Saarlandes, ist aktiv als Publizist unter anderem für die Jüdische Allgemeine Zeitung, die Deutsche Welle und taz, die tageszeitung. Er beschäftigt sich in erster Linie mit der Geschichte Osteuropas, mit der israelischen Geschichte und mit dem Themenkomplex Antisemitismus.

Exil und diplomatische Karriere

Nach der nationalsozialistischen ‚Zerschlagung der Rest-Tschechei‘ im März 1939 floh Goldstücker zusammen mit seiner Frau Marta nach Großbritannien. 1942 promovierte er in Oxford über «Scherz, Satire und Ironie als künstlerisches Mittel des Jungen Deutschland». In der tschechoslowakischen Exilregierung übernahm er kulturelle und diplomatische Aufgaben – zunächst im Innen-, dann im Außenministerium, bevor er 1944/45 als Presse- und Kulturattaché in Paris und 1946 bis 1949 als Botschaftsrat in London tätig war.

1950 wurde er gegen seinen Willen zum ersten Gesandten der Tschechoslowakei in Israel ernannt. Obwohl er seine früheren zionistischen Überzeugungen und die ganze «jüdische Erbschaft» abgelegt hatte und sich als tschechoslowakischer Kommunist verstand, blieb ihm seine jüdische Herkunft bewusst – ein Umstand, der ihn im jüdischen Staat in einen inneren Zwiespalt versetzte.[2] Das Intermezzo in Israel hinterließ tiefe Spuren, beeinflusste sein weiteres Schicksal – und endete bereits 1951. Er kehrte in die Tschechoslowakei zurück und bereitete sich bereits auf seine neue diplomatische Station in Schweden vor – doch es sollte anders kommen.[3]

Verhaftung und Rehabilitation

Goldstücker, inzwischen zweifacher Vater (Töchter Anna 1942 und Helene 1947), wurde zu Beginn der 1950er Jahre Opfer der antisemitischen Kampagne rund um den Prozess «gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slánský an der Spitze». Ende 1951 verhaftet, wurde er 1953 wegen Hochverrats und einer «zionistisch-trotzkistischen Verschwörung» zu lebenslanger Haft verurteilt – ursprünglich war die Todesstrafe beantragt worden. Vier Jahre verbrachte er im Zuchthaus Leopoldov und in den Uranbergwerken von Jáchymov. 1955 wurde er freigelassen, rehabilitiert und kehrte an die Karls-Universität als Dozent zurück.[4]

Kafka-Forscher und intellektueller Vordenker

In den 1960er Jahren avancierte Goldstücker zu einer führenden Figur der tschechoslowakischen Literaturwissenschaft. Als Professor und Prorektor der Karls-Universität machte er sich insbesondere als Kafka-Forscher einen Namen. 1963 organisierte er auf Schloss Liblice eine internationale marxistische Kafka-Konferenz anlässlich des 80. Geburtstags des Autors, der im Ostblock bis dahin als ‚dekadent‘ und ‚unerwünscht‘ galt – ein symbolträchtiger Akt, der zu einer Neubewertung von Kafkas Werk führte.[5]

Während diese Tagung in der DDR eher kritisch aufgenommen wurde, stieß sie in der Bundesrepublik auf großes Erstaunen.[6] Rückblickend sah Goldstücker die Konferenz als «Anfang einer geistigen Befreiung», die später im ‚Prager Frühling‘ kulminierte.1965 folgte eine Tagung zur zuvor in der ČSSR tabuisierten und aus Goldstückers Sicht «progressiver» deutschen Prager Literatur.[7]

Der ‚Prager Frühling‘ und die zweite Emigration

Der Führungswechsel in der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei im Januar 1968 markierte einen tiefgreifenden Einschnitt in der Geschichte des Landes: an die Stelle des unbeliebten Altstalinisten Antonín Novotný trat der dynamische Reformer aus der Slowakei – Alexander Dubček. Im Kontext des tschechoslowakischen ‚Kommunismus mit menschlichem Antlitz‘ rückte der bis dahin vor allem in akademischen Kreisen bekannte Germanist Goldstücker zunehmend in den Vordergrund. Als Präsident des Schriftstellerverbands, Mitglied des Nationalrats und weiterer Gremien sowie Präsidiumsmitglied des ZK der KP unterstützte er die Reformpolitik aktiv. Die Zeitschrift des Schriftstellerverbandes Literární listy, die unter seiner Leitung stand, wurde zum Sprachrohr der Reformbewegung.[8]

Öffentlich prangerte er auch die antisemitische Färbung der staatlichen, weitgehend von der UdSSR übernommenen antiisraelischen Propaganda an und kritisierte offen die einseitig proarabische, von Moskau vorgegebene Haltung der ČSSR im Nahostkonflikt. Seine prominente gesellschaftliche Stellung, verbunden mit seiner jüdischen Herkunft und seinem Einsatz für eine Annäherung zwischen der Tschechoslowakei und Israel, machte Goldstücker zur Zielscheibe antisemitischer Hetze – sowohl in der ČSSR als auch in anderen Ostblockstaaten.[9] Im Juni 1968 machte Eduard Goldstücker in der Parteizeitung Rudé právo einen anonymen, gegen ihn gerichteten antisemitischen Leserbrief öffentlich – ein Schritt, der eine breite Debatte über Antisemitismus in der ČSSR auslöste.[10]

Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 floh Goldstücker nach Wien und dann weiter nach Großbritannien. Dort lehrte er bis zu seiner Pensionierung Komparatistik an der University of Sussex in Brighton und war zudem in den frühen 1980er Jahren als Gastprofessor an der Universität Konstanz tätig. In der ČSSR wurde Goldstücker inzwischen zum ‚Anführer der Konterrevolution‘ und zum ‚Agenten des internationalen Zionismus‘ erklärt. 1970 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, vier Jahre später ausgebürgert. Der Klement-Gottwald-Orden, den er 1968 für seinen Beitrag zum ‚Aufbau der sozialistischen Heimat‘ erhalten hatte, wurde ihm aberkannt.[11]

Rückkehr und spätes Leben

In einem «Spiegel»-Interview 1971 sagte Goldstücker zur Zerschlagung des ‚Prager Frühlings‘: «Als die Moskauer Führung und ihre Verbündeten das tschechoslowakische Experiment mit Panzern zerquetschten, haben sie ihre eigene Zukunft zerquetscht.»[12] Seine Analyse sollte sich als zutreffend erweisen.

Nach der ‚Samtenen Revolution‘ 1989 kehrte er in die Tschechoslowakei zurück und erlebte die Teilung des Landes 1992/93. Bis zu seinem Lebensende blieb Goldstücker ein überzeugter Sozialist und übte scharfe Kritik an der politischen und wirtschaftlichen Transformation Tschechiens und der Slowakei. Er beklagte die Marginalisierung kritischer Intellektueller und sprach vom «Leben in der inneren Emigration».[13]

Eduard Goldstücker verstarb am 23. Oktober 2000 in Prag. Seine Biografie bleibt ein eindrucksvolles Zeugnis der politischen und kulturellen Brüche des 20. Jahrhunderts.

Zum Weiterlesen

Ebbinghaus, Angelika (Hrsg.): Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa. Analysen und Berichte über ein Schlüsseljahr, Hamburg 2008.

Goldstücker, Eduard/Schreiber, Eduard: Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts. Gespräche, Wuppertal 2009.

Goldstücker, Eduard: Prozesse: Erfahrungen eines Mitteleuropäers, München/Hamburg 1989.

Friedman, Alexander: ‚Prager Frühling‘ (1968) als ‚zionistische Verschwörung‘. Der Fall Eduard Goldstücker (1913–2000), in: Medaon 12 (2018), 23, unter: http://www.medaon.de/pdf/medaon_23_friedman.pdf.

Kříž, Jiří: Eduard Goldstücker (1913–2000). Bedeutender Prager Germanist, Publizist und Politiker, Prag 2015, unter: https://is.cuni.cz/webapps/zzp/download/120211816


[1] Zur Biographie von Goldstücker siehe bspw. Goldstücker, Eduard: Prozesse: Erfahrungen eines Mitteleuropäers, München Hamburg 1989; Goldstücker, Eduard/Schreiber, Eduard: Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts. Gespräche, Wuppertal 2009; König, Christoph: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Bd. 1, Berlin 2003, S. 581–583; Kříž, Jiří: Eduard Goldstücker (1913–2000). Bedeutender Prager Germanist, Publizist und Politiker, Prag 2015, unter: https://is.cuni.cz/webapps/zzp/download/120211816; Friedman, Alexander:‚Prager Frühling‘ (1968) als ‚zionistische Verschwörung‘. Der Fall Eduard Goldstücker (1913–2000), in: Medaon 12 (2018), 23 (PDF); Wiehn, Erhard Roy: Jüdische Schicksale in und aus Tschechien und der Slowakei, Konstanz 2021, S. 15–19.

[2] Goldstücker/Schreiber, Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts, S. 7, 12, 21. Siehe auch Goldstücker, Eduard: Eine bunte und lebendige Stadt, ein intensives, intellektuelles Leben, in: Šimko, Dušan (Hrsg.): Košice-Kaschau. Ein Reise- und Lesebuch, Wuppertal 2013, S. 93–100, hier S. 95f.

[3] König: Internationales Germanistenlexikon, S. 581.

[4] Friedman: ‚Prager Frühling‘ (1968) als ‚zionistische Verschwörung‘.

[5] Prager Frühling, in: Der Spiegel, 23.7.1963, S. 66–68, hier S. 67.

[6] Tote im Tresor, in: Der Spiegel, 8.5.1966, S. 113 Siehe auch Prager Frühling, S. 66 –68. 

[7] Goldstücker, Eduard: Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen, in: Goldstücker, Eduard (Hrsg.): Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur, Prag 1967, S. 21–45.

[8] Kruntorad, Paul: Eine Literaturzeitschrift macht PolitikEin Porträt der «Literárni listy», in: Die Zeit, 30.8.1968.

[9] Kubátová, Hana/Láníček, Jan: The Jew in Czech and Slovak Imagination, 1938–89. Antisemitism, the Holocaust, and Zionism, Leiden/Boston 2018, S. 228; Oschlies, Wolf: Misstrauen gegen Genossen jüdischer Herkunft: Antisemitismus und Antizionismus in der Tschechoslowakei, Köln 1971, S. 26f.; Skilling, H. Gordon: Czechoslovakia’s Interrupted Revolution, Princeton (New Jersey) 1976, S. 273; Kieval, Hillel J.: Languages of Community.The Jewish Experience in the Czech Lands, Berkeley Calif.2000, S. 227; Hallama, Peter: Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust, Göttingen 2015, S. 269.

[10] Goldstücker, Eduard: Občané, pozor!, in: Rudé právo, 22.6.1968, S. 3; Znovu: Občané, pozor!, in: Rudé právo, 10.7.1968, S. 5, Špaček, Bohumil: Antisemitismus=Antikommunismus, in: Rudé právo,16.7.1968, S. 5.

[11] Wiehn: Jüdische Schicksale in und aus Tschechien und der Slowakei, S. 16.

[12] «In Russland droht eine Explosion.» Spiegel-Gespräch mit Professor Eduard Goldstücker über sozialistische Demokratie, in: Der Spiegel, 7.3.1971, S. 124–138, hier S. 124. 

[13] Goldstücker/Schreiber: Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts, S. 145f., 148, 156, 158f., 168ff.