Nachricht | Geschichte - Arbeit / Gewerkschaften Arbeit in der Ära der Dekolonisierung

ArbeiterInnen und die Gestaltung der Welt – Bericht von der 60. ITH-Konferenz, 25.–27. September 2025, Linz

Von Milan Mentz, Hamburg

Was es denn schon groß zu feiern gebe in dieser Welt, fragte ITH-Präsidentin Therese Garstenauer (Wien) rhetorisch auf den Umstand hin, dass die Internationale Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen (ITH) in diesem Jahr zum sechzigsten Mal stattfand – die fünfzigste Instanz vor einigen Jahren sei ja noch mit einem entsprechenden Festakt begangen worden. Nein, die Teilnehmenden der ITH würden in diesem Jahr schlicht das tun, was Historiker:innen immer täten: nachdenken. Soweit der nüchterne Kern von Garstenauers Begrüßung der Anwesenden auf der ITH-Generalversammlung am 25. September 2025, unmittelbar vor Beginn der traditionell im Bildungshaus Jägermayrhof der Arbeiterkammer Oberösterreich (AK) in Linz abgehaltenen Konferenz. Gerhard Bremm (Linz) betonte das «besondere Interesse» der AK an der kontinuierlichen Ausrichtung der ITH vor Ort, komme den auf den Tagungen diskutierten Themen doch nicht nur angesichts weltpolitischer Krisen, sondern auch vor dem Hintergrund prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen in Österreich eine hohe Relevanz zu.

Danach konnte die eigentliche Tagung beginnen. Die Keynote lieferte Samita Sen (Cambridge, online): Unter anderem mit Blick auf Indien und Südafrika stellte sie Überlegungen zum Verhältnis von ‚Formalität‘ und ‚Informalität‘ in nachkolonialen Arbeitswelten an und problematisierte dabei die starre Dichotomisierung dieser zwei Pole. Mit Blick auf häusliche Arbeit benannte sie zudem sexualisierte Gewalt als strukturelles, global präsentes Problem insbesondere informeller Arbeitsverhältnisse und sprach diesbezüglich von einer tiefgreifenden Tabuisierung, da auch die politische Linke sich diesem Thema nur selten annehme. An die Rolle der (In-)Formalität in Arbeitsverhältnissen sollten viele der nachfolgenden Vorträge anknüpfen, wodurch Sens Beitrag nachträglich tatsächlich ein richtungsweisender Charakter, im besten Sinne einer Keynote, zukam. Kolya Abramsky (London) verwies in der Diskussion exemplarisch auf den rassistisch motivierten Ausschluss von Hausangestellten vom US-amerikanischen National Labor Rights Act von 1935, der die weitere Entwicklung von Gewerkschaften in den USA maßgeblich beeinflusst habe.

Milan Mentz studiert an der Universität Hamburg Geschichte im Master und ist u.a. Mitglied des Gesprächskreises Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Den zweiten Konferenztag eröffnete der profilierte Afrika- und Kolonialhistoriker Frederick Cooper (New York) mit einem Vortrag über Dekolonisierungsprozesse in den Kontexten nationalistischer Politik(en). Vor dem Hintergrund inflationsbedingter Jobrückgänge in Ländern wie Nigeria betonte er die Aufwertung (informeller) persönlicher Beziehungen gegenüber (formellen) Gewerkschaftsnetzwerken und skizzierte vor diesem Hintergrund die Herausbildung eines «informal urban sector». Ferner ging er auf die historische Rolle der Arbeitsmigration nach Europa ein, in deren Kontext europäische sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Netzwerke es versäumt hätten, transnational vereinigende Fronten zu schaffen. Diesen Aspekt sollte die Abschlussdiskussion zum Ende der Tagung wieder aufgreifen.

Das erste Panel, zu biografischen Perspektiven und Archiven, eröffnete Kolya Abramsky mit einem Beitrag über das John La Rose Archive im Londoner George Padmore Institute (GPI). Abramsky, bis 2021 zuständiger Archivar im GPI, verschaffte einen Überblick über die betreffenden Bestände, die, neben persönlichen Dokumenten des trinidadischen Gewerkschaftsaktivisten John La Rose (1927–2006), auch diverse Unterlagen zur Geschichte der Oilfields Workers‘ Trade Union (OWTU) aus Trinidad und Tobago umfassen – einer der ältesten noch bestehenden Gewerkschaften eines ehemals kolonisierten Landes. Siraz Durrani (London, online) umriss die Biografie des kommunistischen Aktivisten Makhan Singh (1913–1973) im Kontext der indischen und kenianischen Befreiungsbewegungen der 1940er- und 1950er-Jahre. Transnational-gewerkschaftliche Solidaritätsnetzwerke im Kontext von Kaltem Krieg und Dekolonisierung standen im Mittelpunkt des zweiten Panels: So beschrieb etwa Jeff Schuhrke (New York) die Kooperation des tunesischen Gewerkschaftsdachverbandes Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) mit der nordamerikanischen American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO). Die nationalistisch ausgerichtete UGTT war aktiv um Unterstützung aus den USA für ihren Unabhängigkeitskampf gegen die französische Fremdherrschaft bemüht und appellierte dafür an die antikommunistische Grundhaltung der AFL-CIO, die ihrerseits sowohl Kommunismus als auch Kolonialismus als Feinde freier Gewerkschaftsbildung verstand. So blieb sie über viele Jahre wichtiger Verbündeter der UGTT. Eric Burton (Innsbruck) beleuchtete antikolonial-solidarische Topoi aus der österreichischen Gewerkschaftspresse der 1950er- und 1960er-Jahre.

Momente der Entkolonialisierung

Panels III und IV widmeten sich konkreten historischen Momenten der «Entkolonisierung». Neben Joseph Duffy (Berlin), der seine Fallstudie zur Rolle der Arbeiterbewegung in der Irischen Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts vorstellte, umriss etwa André Ribeiro Fernandes (Coimbra) exemplarisch das Agieren angolanischer Gewerkschaften anhand der National Union of Angolan Workers (UNTA) und der General League of Angolan Workers (LGTA). Da die portugiesische Kolonialmacht politische Parteien sowie Gewerkschaften strikt verbot, operierten beide Bündnisse aus der kongolesischen Stadt Léopoldville (heute Kinshasa) und knüpften von dort intensive Kontakte nach Europa. Während die marxistisch-leninistisch ausgerichtete UNTA sich dabei weitgehend auf die Sowjetunion und Staaten des Warschauer Pakts konzentrierte, pflegte die LGTA Verbindungen nach Westdeutschland, Israel oder in die Schweiz. Zur Quellenlage konstatierte Fernandes erhebliche Einschränkungen hinsichtlich der Basis portugiesischer Archive: Diese ermögliche zwar selektive Einblicke in höhere Führungsebenen der jeweiligen Gruppen, liefere aber praktisch keine Informationen über deren interne Dynamiken auf einer Graswurzelebene. Das Agieren ‚einfacher‘ Mitglieder bleibe also bis auf Weiteres im Dunkeln.

Naina Manjrekar (Mumbai) vermochte demgegenüber eindrucksvoll detailliert transnational-antikoloniale Solidaritätsnetzwerke zwischen Indien und Indonesien zu beleuchten: Ab der Endphase des Zweiten Weltkriegs 1945 entsandte die britische Regierung Tausende indischer Soldaten zur Zerschlagung antikolonialer Widerstandsbewegungen in verschiedene Regionen um den indischen Ozean, so auch nach Indonesien. Die hierhin entsandten indischen Truppen verweigerten aber nicht nur ihren kolonialen Auftrag, vielmehr solidarisierten sie sich vielfach mit indonesischen Aufständischen und schlossen sich mitunter sogar proaktiv Revolten an. Parallel dazu beteiligten sich auch nach Indien entsandte indonesische Truppen an gewaltsamen Auseinandersetzungen indischer Demonstrierender mit der kolonialen Polizei. Auch indische Matrosen waren Teil dieser Solidaritätsnetzwerke, wie etwa an politischen Forderungen im Rahmen des großen Marinestreiks vom Februar 1946 ersichtlich wird. Die zentrale Rolle dieser vielschichtigen Verflechtungen für die jeweiligen Befreiungskämpfe Indiens und Indonesiens sei zeitgenössisch zwar durchaus anerkannt, in späterer Historiografie jedoch kaum weiter beachtet worden, so Manjrekar. Aspekte indischer Seefahrt griff auch Rahul Maganti (Göttingen) auf. Er beschrieb Aushandlungsprozesse indischer Seehandelsunternehmen und Investoren in der Frühphase indischer Unabhängigkeit ab 1947: mit dem neugegründeten indischen Staat sowie mit Großbritannien. Vor diesem Hintergrund problematisierte er die dichotomische Gegenüberstellung von «kolonialen» und «antikolonialen» Staaten. Geert Van Goethem (Gent) beleuchtete den Einfluss islamistischer Forderungen auf gewerkschaftliches Agieren im Kontext der ehemals britischen Kolonie Aden.

Der Konferenztag fand seinen Abschluss in einer öffentlichen Abendveranstaltung. Hier diskutierten Lucile Dreidemy (Professorin für Zeitgeschichte, Universität Wien) und Emma Wyschata (Politikwissenschaftlerin und Aktivistin, solidar Austria) Fragen antikolonialer Solidarität und diesbezüglicher (historisch-)österreichischer Blindspots.

Zwischen Transfer, Emanzipation und Ausbeutung

Der Folgetag begann mit einem Panel über Netzwerke transnationalen Transfers. Hierzu umriss etwa Lisa Hoppel (Wien) die Geschichte des israelischen Afro-Asian Institute for Labour Studies and Cooperation (AAI), das der gewerkschaftlichen Vereinigung Histadrut angehörte und ein mehrstufiges Bildungsangebot zu agrarökonomischer Entwicklung und gewerkschaftlicher Organisierung offerierte. Dieses nahmen vorrangig afrikanische Männer in Anspruch: Zwar hätten die israelischen Lehrpläne durchaus die hohe Relevanz von Frauen für die emanzipiert-ausgewogene Gestaltung nationaler Arbeitswelten betont, gleichwohl hätten aus den betreffenden afrikanischen Entsendeländern meist nur Personen in Führungspositionen einen entsprechenden Bildungsaufenthalt wahrnehmen können – in den meisten Fällen also Männer. Die Eskalation des Nahostkonfliktes über den Verlauf der 1960er-Jahre schlug sich zudem in einer weitreichenden Abwesenheit arabischer Teilnehmender nieder; ferner sah sich die Histadrut vor diesem Hintergrund auch wachsender Kritik, etwa aus westafrikanischen Ländern, gegenüber. Absolvent:innen des AAI hätte ihre dortige Bildung gleichwohl oft als Sprungbrett für eigene Initiativen und Projekte gedient. Ein gewissermaßen hochaktuelles Thema behandelte Tom Drechsel (Jena/Potsdam): Er referierte über mosambikanische «Vertragsarbeiter» in der DDR vor dem Hintergrund der antikolonialen Unabhängigkeitsbestregungen in Mosambik. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) hatte die Milizen der Mosambikanischen Befreiungsfront (FRELIMO) aktiv in deren Kampf gegen die portugiesische Kolonialherrschaft unterstützt, woraufhin diese sich verstärkt marxistisch-leninistisch ausrichtete und nach ihrem militärischen Sieg 1975 weiter enge Beziehungen zur DDR pflegte. Die beiden Staaten unterzeichneten 1979 ein bilaterales Abkommen, das in größerem Stil Arbeitsmigration mosambikanischer Werktätiger in die DDR vorsah. Ein umfassender Lohnbetrug wirkt dabei bis heute nach: Die Mosambikaner:innen sollten per Abkommen etwa die Hälfte ihres Gehalts nach Rückkehr in ihre Heimat erhalten – diese Entlohnung der als «Madgermanes» bezeichneten Vertragsarbeiter:innen steht aber bis heute aus. Drechsel legte einen besonderen Schwerpunkt auf die Handlungsmacht bzw. Agency der Mosambikaner:innen. Bella Ruhl (New York, online) umriss auf Basis britischer Archivquellen die Kampagne «Wages for Housewives» migrantischer Haushaltsarbeiterinnen in Großbritannien (1972–1977).

Ein finales Panel bespielte ausschließlich Duncan Money (Entebbe), der die Rolle weißer Gewerkschaftsrepräsentanten im Süden Afrikas beleuchtete: Die International Confederation of Free Trade Unions (ICFTU) entsandte während des Kalten Krieges aufeinanderfolgend eine Reihe weißer Männer nach Sambia oder Simbabwe. Money charakterisierte diese Akteure als aus industrieproletarischen Milieus stammend, trinkfreudig und mitunter rassistisch. Der Vortrag warf Fragen über Widersprüche zwischen gewerkschaftlich-solidarischen Ansprüchen einer emanzipatorischen Interessenvertretung auf der einen und teils gravierenden Beschneidungen autonomer Agency afrikanischer Arbeiter:innen auf der anderen Seite auf.

Das Organisationsteam der Konferenz lobte abschließend, neben den transnationalen Verflechtungsansätzen und der Auswertung bislang kaum berücksichtigter Archivquellen, das hohe Maß differenzierter Betrachtungsweisen. Die darauffolgende Abschlussdiskussion drehte sich um konzeptionelle Defizite von «Sozialstaaten»: Verfehlten diese – grundsätzlich national und damit «nach innen» ausgerichtet – die Korrektur schwerwiegender internationaler Ungleichheiten im Nord-Süd-Vergleich? Diese Überlegungen stützen nicht zuletzt weltweit zunehmende Exklusion und Benachteiligungen von Migrant:innen seitens europäischer «Sozialstaaten». Die 60. ITH endete damit in ernüchternden Erörterungen tagesaktueller Krisen und emanzipatorischer Defizite – für eine geschichtswissenschaftliche Konferenz etwas ungewöhnlich, dafür aber durchaus kongruent zum ITH-eigenen Selbstanspruch eines transnationalen Netzwerkes von Labour Historians und eines Podiums für Debatten über historische Krisen, die vor dem Hintergrund tagesaktueller Entwicklungen hochrelevant sind.

Das vollständige Programm der Tagung kann hier (als PDF) eingesehen werden.

Der Call zur Tagung 2026 mit dem Arbeitstitel «Working nature – exploring intersections of labour history and political ecology» findet sich unten als PDF.