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In Südasien fordert die Generation Z Jobs und echte Chancen. Von Britta Petersen

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Britta Petersen,

Proteste der Gen Z gegen Korruption und Social-Media-Verbot in Kathmandu Anfang September 2025. Die nepalesische Regierung stürzte wenige Tage später.  Foto: IMAGO / NurPhoto

Delhis Polizeichef, Satish Golchha, ist beunruhigt. Kurz nachdem im September in Nepal gewalttätige Demonstrationen der Generation Z die Regierung zum Rücktritt gezwungen hatten, beauftragte er drei Einheiten unter seiner Führung, einen Notfallplan zu erarbeiten für den Fall, dass die indische Hauptstadt ähnlich gelagerte «große, jugendgetriebene, führerlose Proteste» erleben sollte.

Britta Petersen leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi.

«Wir untersuchen derzeit eingehend die Muster der Proteste in Nepal, bei denen soziale Medien eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung spielten», erklärt ein hochrangiger Polizeibeamter. «Der Kommissar hat einen detaillierten Notfallplan angefordert, dessen Schwerpunkt auf präventiver Informationsbeschaffung, Strategien zum Umgang mit Menschenmengen und Mechanismen zur Bekämpfung von Falschinformationen im Internet liegt.» Auch der Vorrat an «nichttödlichen Waffen» soll überprüft werden.

Die Besorgnis ist nachvollziehbar. In drei indischen Nachbarländern – Sri Lanka, Bangladesch und Nepal – wurden in den vergangenen drei Jahren die Regierungen durch Massenproteste gestürzt. Und in Pakistan und Myanmar hat das traditionell starke Militär seine Macht konsolidiert: In Islamabad sitzt der bei der Jugend beliebte ehemalige Ministerpräsident Imran Khan seit 2023 im Gefängnis, in Myanmar putschte 2021 die Armee gegen die demokratisch gewählte Regierung von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi.

Kurz: Indien ist von Instabilität umgeben. Zwar sind sich die meisten Beobachter*innen einig, dass die Proteste «ihre Wurzeln in schwachen politischen Institutionen und weitverbreiteter Misswirtschaft» haben, so Shashi Tharoor, Abgeordneter der oppositionellen Kongress-Partei im indischen Parlament.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Zwar erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die Regierung in Neu-Delhi binnen weniger Tage aus dem Amt gefegt werden könnte. Dazu hat sie zu viel Rückhalt in wichtigen Teilen der Gesellschaft, der Mittelschichten, der Industrie, Polizei, Justiz und Armee. Aber Indien teilt einige der Herausforderungen, die derzeit weltweit die Generation Z (die zwischen 1997 und 2012 Geborenen) auf die Barrikaden treiben. In Südasien lebt weltweit der größte Anteil Jugendlicher. Sie machen 30 Prozent der Bevölkerung (mehr als 700 Millionen Menschen) aus und fordern nun Chancen und Perspektiven für ihr Leben.

«Wir wollen faire Chancen»

Zwar ist Indien derzeit mit durchschnittlich 6,5 Prozent Wirtschaftswachstum die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt, aber es leidet wie fast alle asiatischen Nachbarn unter dem Problem hoher Jugendarbeitslosigkeit. Diese hat sich durch die von US-Präsident Donald Trump angezettelten Handelskriege noch intensiviert. Die Verschärfung der Regeln für H-1B-Arbeitsvisa für die USA, die zu 70 Prozent von Inder*innen genutzt werden, erhöht den Druck auf den einheimischen Arbeitsmarkt weiter.

Nach einer Studie der Investmentbank Morgan Stanley mit dem Titel «Asia’s Youth Unemployment Crisis» von 2025 liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Asien bei durchschnittlich 16 Prozent, deutlich höher als in den USA (10,5 Prozent) und Europa (6,3 Prozent). In Südasien ist sie am höchsten; in Indien sind 17,6 Prozent, in Nepal und Sri Lanka sogar 20,8 Prozent der Jugend arbeitslos. Oft komme Unterbeschäftigung hinzu, ergänzt Chetan Ahya, Chefökonom bei Morgan Stanley. Das bedeutet, dass Menschen nicht Vollzeit arbeiten können, weil es nicht genügend Jobs gibt bzw. keine Jobs, die ihrer Qualifikation angemessen wären.

Der wachsende Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) bedroht zudem bestehende Jobs und mindert die Aussichten auf gut bezahlte neue. Dass Hochschulabsolvent*innen, die dauerhaft als Uber-Fahrer*innen oder Amazon-Bot*innen arbeiten, mit ihren Lebensperspektiven unzufrieden sind, kann nicht überraschen. In Nepal wurden die Proteste, die zum Sturz der Regierung führten, nicht zufällig durch einen von der Regierung verhängten Internet-Bann ausgelöst.

Indien verfügt über eine diversifizierte Wirtschaft und hat dank seines stabilen Wachstums genügend Mittel, um die Menschen durch Sozialmaßnahmen bei der Stange zu halten und die Binnennachfrage zu stimulieren. Diese Möglichkeit haben die meisten Nachbarländer nicht.

Wer in der Gig-Economy arbeitet, ist nicht nur auf ein funktionierendes Internet angewiesen, um an Aufträge zu gelangen. Soziale Medien wie Instagram spülen zudem einen regelmäßigen Strom an Bildern auf das Handy, die das Luxusleben der Oberschicht dokumentieren. «No more Nepo Babies – We demand Fair Opportunities», war daher einer der Slogans der Jugendproteste in Kathmandu. «Genug mit den Nepo-Babys (den Kindern reicher Eltern) – Wir wollen faire Chancen».

Doch davon gibt es immer weniger. Sogar die Weltbank warnt in einem neuen Bericht, dass die Zahl der von Armut bedrohten Menschen heute in den meisten asiatischen Ländern größer ist als die Mittelschicht. Der Grund: Das Wachstum in der Region habe sich von der Produktion in den Niedriglohn-Dienstleistungssektor verlagert. Dies, so der Bericht, drohe die Erfolge «zu erodieren», die im vergangenen Jahrzehnt «Millionen aus der Armut» geholt hätten. «Die Länder nutzen die Vorteile einer Verlagerung von Arbeitskräften aus weniger produktiven in produktivere Branchen und Unternehmen nicht in vollem Umfang», formuliert die Weltbank vorsichtig.

Doch während die Unternehmen die Möglichkeiten der Gig-Economy vor allem einsetzen, um Kosten zu sparen, mindert die von Donald Trump eingeleitete globale Wende zum Protektionismus die Chancen, das Wirtschaftswachstum durch Exporte zu steigern. Um das Problem der Unterbeschäftigung zu lösen, so Chetan Ayah, müsste Indiens Wirtschaft jährlich um zwölf Prozent wachsen. Das aber ist ein Wert, den das Land in seiner Geschichte seit der Unabhängigkeit noch nie erreicht hat.

Die Lage in Bangladesch, Sri Lanka und Nepal

Indien verfügt jedoch über eine diversifizierte Wirtschaft und hat dank seines stabilen Wachstums genügend Mittel, um die Menschen durch Sozialmaßnahmen bei der Stange zu halten und die Binnennachfrage zu stimulieren. Diese Möglichkeit haben die meisten Nachbarländer nicht. In Bangladesch etwa brachen während der Covid-Krise die Textilexporte ein, von denen die Wirtschaft des Landes maßgeblich abhängt. Statt gegenzusteuern, ging die damalige Premierministerin Sheikh Hasina mit drakonischen Maßnahmen gegen die Opposition vor, bis sie 2024 durch die Studierendenbewegung gestürzt wurde.

Auch in Sri Lanka versuchte die von der Familie Rajapaksa geführte herrschende Klasse, die Opposition gewaltsam zu unterdrücken, bis 2022 die Folgen der Misswirtschaft für die Menschen so massiv wurden, dass die Aragalaya-Massenbewegung das alte Regime hinwegfegte. Sri Lanka ist das einzige Land in Indiens Nachbarschaft, das seit 2024 über eine neue, demokratisch gewählte Regierung verfügt. Der linke Präsident, Anura Kumara Dissanayake, sitzt derzeit fest im Sattel, aber die Herausforderungen sind groß.

Das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz würden Möglichkeiten bieten, demokratische Kräfte in Südasien zu stärken. Doch dafür fehlt bisher die Weitsicht. Die Gesetze müssten eher ausgebaut als geschliffen werden.

Der Strukturwandel in der globalen Ökonomie ist im vollen Gange. Sri Lankas Wirtschaft hängt weitgehend von den Sektoren Landwirtschaft, Textil und Tourismus ab. Die Erwartungen der Zivilgesellschaft an die neue Regierung sind hoch. Viel wird daher davon abhängen, dass Dissanayake die demokratischen Kräfte, die ihn an die Macht brachten, einbindet und mit den autoritären Gewohnheiten bricht, die sich in der langen Zeit des Bürgerkriegs verfestigt zu haben scheinen.

In Bangladesch und Nepal sind derzeit Übergangsregierungen an der Macht, die angekündigt haben, im kommenden Jahr Wahlen abzuhalten. Die langfristige Stabilität der Region wird auch davon abhängen, inwieweit es den neuen Regierungen gelingt, Legitimität bei der jungen Generation zu finden. Dazu müssen sie die Volkswirtschaften zukunftsfähig machen, indem sie in Bildung, Gesundheitssysteme und Innovation investieren, sowie die digitale Wirtschaft zivilisieren. Gewerkschaften und Zivilgesellschaft erhöhen derzeit den Druck, auch in der Gig-Ökonomie soziale Sicherungssysteme zu schaffen und angemessene Löhne zu zahlen.

Mangelnde Weitsicht der deutschen Bundesregierung

Die Regierungen sollten auch im eigenen Interesse mit diesen Kräften zusammenarbeiten. Das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz würden hier Möglichkeiten bieten, demokratische Kräfte in Südasien zu stärken. Doch dafür fehlt bisher die Weitsicht. Die Gesetze müssten eher ausgebaut als geschliffen werden. Eine Ausweitung statt Kürzung der Entwicklungszusammenarbeit würde Europa Chancen eröffnen, Partnerschaften in Südasien zu vertiefen.

Dies würde auch der Gefahr entgegenwirken, die die bestehende Rivalität zwischen den Regionalmächten China und Indien darstellt. Aus China finanzierte Großprojekte wie der Flughafen von Pokhara in Nepal oder der Hafen in Sri Lankas Hauptstadt Colombo haben nicht nur die Schuldenlast der Regierungen erhöht, sondern auch geopolitische Konflikte verschärft, ohne den Ländern bisher ökonomischen Nutzen zu bringen.

Pakistan ist ein gutes Beispiel dafür, wie politische Eliten durch geschickte, wechselnde Allianzen mit Regional- oder Großmächten ihre Macht stärken, ohne dass die Bevölkerung davon profitiert. Das Land befindet sich seit Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise, die sich durch hohe Inflation und Verschuldung auszeichnet. Seit der ehemalige Ministerpräsident Imran Khan, der lange die Hoffnung der Generation Z verkörperte, im Gefängnis sitzt, hat das mächtige Militär wieder die Oberhand in Pakistan.

Nicht zuletzt um von diesen Problemen abzulenken, brachen Terrorgruppen, die als Handlanger der Armee fungieren, im Frühjahr eine neue militärische Auseinandersetzung mit Indien vom Zaun. Die darauffolgende Welle des Nationalismus stärkte Armeechef Asif Munir; auch die Zuneigung Donald Trumps konnte Munir sich sichern, indem er den US-Präsidenten für den Friedensnobelpreis vorschlug.

Ob Bangladesch, das bis zu seiner Unabhängigkeit 1971 zu Pakistan gehörte, eine Stärkung islamistischer Kräfte erleben wird, oder ob in Nepal statt der bisherigen linken Parteien die Monarchie eine Renaissance erlebt, wird auch davon abhängen, wie viel Unterstützung die demokratischen Kräfte weltweit mobilisieren können.