Interview | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Parteien / Wahlanalysen - Umverteilung Attacke auf Sozialstaat: «Das ist moralisch verroht»

Im Gespräch mit der Linken-Bundestagsabgeordneten Cansın Köktürk

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Cansın Köktürk im Portrait, sitzend auf einer Treppe, schaut in die Kamera.
«Die Koalition muss sich entscheiden: Steht sie auf der Seite der Menschen oder auf der Seite der Verachtung?» Cansın Köktürk, Foto: privat

Kaum eine Woche vergeht ohne neue Angriffe auf den Sozialstaat. Der von Bundeskanzler Merz ausgerufene «Herbst der Reformen» zeigt sich derzeit als orchestrierte Kampagne von Union und Arbeitgebern, die mit ihren vielen Vorstößen die öffentliche Debatte dominieren und ihren Sparkurs als alternativlos darstellen wollen. Cansın Köktürk ist Sozialpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag. Mit ihr sprach Eva Völpel (Rosa-Luxemburg-Stiftung) über die Reformpläne der schwarz-roten Bundesregierung.
 

Eva Völpel: CDU/CSU und SPD haben sich auf eine Reform des Bürgergelds geeinigt. Menschen, die zum dritten Termin im Jobcenter nicht erscheinen, soll komplett das Geld gestrichen werden. Es soll dann sogar möglich sein, die Zahlungen für Miete und Heizung einzustellen. Was motiviert solch eine Politik? 

Cansın Köktürk: Diese Reform ist reine Symbolpolitik auf dem Rücken der Ärmsten. Sie sendet die Botschaft: Wer arm ist, trägt Schuld – und wird bestraft. Dabei geht es nicht ums Sparen, sondern um Macht und Stimmungsmache. Die Regierung hält Menschen in Angst und schwächt Solidarität, denn wer um die Miete fürchtet, stellt keine Forderungen mehr.

Cansın Köktürk sitzt seit 2025 für die Linke im Bundestag und ist deren sozialpolitische Sprecherin. Sie hat Soziale Arbeit studiert und etliche Jahre als Sozialarbeiterin in Bochum gearbeitet. 2023 erschien ihr Buch «Unsozialstaat Deutschland. Warum wir radikal humanistisch werden müssen». Köktürk trat 2023 bei den Grünen aus, weil sie die Asylpolitik der Partei auf europäischer Ebene sowie die Räumung des Weilers Lützerath (Proteste gegen den dortigen Braunkohleabbau) nicht mittragen wollte. 

Auch finanziell bringt das nichts. Im Gegenteil, es wird teurer. Jede Sanktion verursacht Bürokratie, Widersprüche und Gerichtsverfahren. Die Politik dient also einem ideologischen Zweck. Es geht darum, Härte zu zeigen und die Gesellschaft zu spalten, zwischen «Leistungsträgern» und denen, die angeblich «auf der Tasche liegen». Aus meiner Arbeit als Sozialarbeiterin weiß ich aber: verpasste Termine haben nichts mit Faulheit zu tun, sondern damit, dass Menschen keine Kinderbetreuung haben, krank oder psychisch überfordert sind oder schlicht keinen Euro für das Bahnticket übrighaben. Wer das ignoriert, betreibt keine Sozialpolitik, sondern Menschenverachtung in Verwaltungsform.

Es ist eine Politik, die Menschen kaputtmacht, statt sie zu unterstützen.

Zu wenige stellen die entscheidende Frage: Warum müssen Menschen überhaupt Bürgergeld beantragen? Nicht individuelles Versagen ist das Problem, sondern politische Entscheidungen. Prekäre Löhne, unsichere Jobs, teure Mieten und ein ungleiches Bildungssystem schaffen Armut und halten Menschen darin fest. Eine Gesellschaft, die soziale Sicherheit ernst meint, würde für existenzsichernde Löhne, ein gerechtes Steuersystem und eine gute öffentliche Daseinsvorsorge sorgen. Stattdessen erleben wir erneut, wie die Schwächsten bestraft werden, um Stärke zu demonstrieren. Das ist nicht nur sozialpolitisch verfehlt, es ist auch moralisch verroht.

Du hast als Sozialarbeiterin im Ruhrgebiet konkret erlebt, was Armut bedeutet. Welche Folgen wird die Reform haben für Menschen, die auf die sogenannte Neue Grundsicherung angewiesen sind? 

Es bedeutet Stromsperren, Zwangsräumungen, psychischen Druck. Wenn jetzt selbst Miet- und Heizkosten gestrichen werden können, heißt das steigende Obdachlosigkeit, überlastete Kommunen und noch mehr Armut. Das ist keine «Motivation zur Arbeit», das ist Demütigung und Ausgrenzung. Vor allem Alleinerziehende, junge Menschen, psychisch Erkrankte werden unter die Räder kommen. Es ist eine Politik, die Menschen kaputtmacht, statt sie zu unterstützen.

Karlsruhe hat 2019 zu Sanktionen im Bürgergeld geurteilt, dass der vollständige Entzug von Leistungen nicht vereinbar ist mit der Verfassung bzw. dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Warum geht die Koalition trotzdem so vor?

Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständlich festgestellt, dass der Staat niemandem das Existenzminimum entziehen darf. Niemals, unter keinen Umständen! Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist nicht verhandelbar, es ist Grundgesetz. 

Wer Menschen Leistungen kürzt, die ohnehin kaum zum Leben reichen, betreibt Demütigung statt Unterstützung und verfolgt seine Agenda, Klassenkampf von oben.

Und trotzdem geht die Regierung jetzt hin und verschärft die Sanktionen im Bürgergeld. Warum? Weil sie sich dem Druck von rechts beugt. Weil sie glaubt, mit Härte gegen Arme punkten zu können, statt endlich Armut ernsthaft zu bekämpfen. Wer Menschen Leistungen kürzt, die ohnehin kaum zum Leben reichen, betreibt Demütigung statt Unterstützung und verfolgt seine Agenda, Klassenkampf von oben. Es geht bei der Neuen Grundsicherung nicht um «Anreize», wie die Regierung gerne behauptet, es geht um Misstrauen, Kontrolle und Strafe. Man kriminalisiert Erwerbslose, statt ihnen faire Chancen zu geben. Die Koalition muss sich entscheiden: Steht sie auf der Seite der Menschen oder auf der Seite der Verachtung? Wir als Die Linke werden nicht zulassen, dass das Grundrecht auf Menschenwürde zugunsten populistischer Symbolpolitik geopfert wird.

Wie erklärst Du Dir, dass die Hetze gegen Menschen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind, immer häufiger auf so fruchtbaren Boden fällt? 

Seit Jahrzehnten erzählen uns Politiker*innen, Wirtschaftslobbys und manche Medien das gleiche Märchen: dass Armut selbstverschuldet sei, dass Menschen «mehr Anreize» bräuchten, um zu arbeiten, dass Sozialleistungen «belasten». Diese neoliberale Erzählung hat sich tief in die Köpfe gefressen. Sie lenkt ab von den wahren Ursachen und Auswirkungen sozialer Ungleichheit, also etwa von Niedriglöhnen, Wohnungsnot, Reichtumskonzentration und Steuerflucht der Hochvermögenden. 

Wer Arme gegeneinander ausspielt, schützt die Reichen vor Kritik.

Wenn dann noch Krisen dazu kommen wie Inflation, teure Energie, unsichere Jobs, wird die Wut, die darüber entsteht, nicht nach oben auf die Profiteure gelenkt, sondern nach unten, auf diejenigen, die am wenigsten haben. Das ist politisch gewollt. Wer Arme gegeneinander ausspielt, schützt die Reichen vor Kritik.

Seit Wochen attackiert die Union, flankiert von den Arbeitgebern, den Sozialstaat. Mal gibt es Vorschläge, den Pflegegrad 1 einzukassieren oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einzuschränken, dann kritisiert Bundeskanzler Merz die steigenden Ausgaben in der Jugend- oder Eingliederungshilfe. Massive Angriffe gibt es auch auf die gesetzlichen Krankenkassen. Geht es nach dem einflussreichen CDU-Wirtschaftsrat, sollen wir künftig Leistungen beim Zahnarzt oder Kieferorthopäden selbst bezahlen oder uns privat versichern. Das bedeutet höhere Kosten für die Vielen bei zugleich schlechterer Qualität. Welches politische und ökonomische Projekt verfolgen Merz und Co. mit Blick auf das große Ganze?

Wenn Merz den Pflegegrad 1 streichen, die Lohnfortzahlung kürzen oder Kassenleistungen privatisieren will, verfolgt er eine klare Linie. Die Reichen sollen entlastet werden, die Beschäftigten, Rentnerinnen, Pflegebedürftigen und Kranken sollen zahlen. Das ist das alte neoliberale Drehbuch und Merz ist sein treuester Schüler. Die Union und ihre Verbündeten in den Arbeitgeberverbänden träumen von einem Land, in dem soziale Sicherheit wieder zum Privileg wird, für jene, die es sich leisten können. Der Rest soll sich bitte «anstrengen», «vorsorgen» und «Eigenverantwortung übernehmen». Das heißt jeder gegen jeden, statt gemeinsam füreinander und für alle besser. Währenddessen werden öffentliche Gelder weiter in Rüstung, Konzernsubventionen und Steuererleichterungen für Vermögende gepumpt. Das ist Sparen am Sozialstaat und Umverteilung von unten nach oben.

Sozialstaat und Solidarität sind keine Kostenfaktoren, sondern Grundlage von Demokratie und sozialem Frieden. Und wir alle wollen und brauchen in unseren Leben einen guten, einen besseren Sozialstaat. Wenn Merz und Co. das zerschlagen wollen, dann nicht aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern aus politischem Kalkül. Sie wollen Macht sichern, indem sie Reiche schützen bzw. deren Interessen bedienen und schwächen so den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Unser Gegenprojekt heißt Gerechtigkeit, Solidarität und ein Sozialstaat, der allen gehört und nicht nur denen, die ihn sich kaufen können.

Herbst der Kommissionen

Um den Umbau des Sozialstaats vorzubereiten, setzt die Bundesregierung verschiedene Kommissionen ein. Die «Kommission zur Sozialstaatsreform» soll steuerfinanzierte Sozialleistungen (Bürgergeld, Wohngeld, Kindergeld etc.) «modernisieren» und «entbürokratisieren». Erste Ergebnisse werden ab Anfang 2026 erwartet. Auch eine Rentenkommission soll laut Koalitionsvertrag eingesetzt werden und bis zur Mitte der Legislatur (also Anfang 2027) Reformvorschläge vorlegen. Für die gesetzlichen Krankenkassen ist im September 2025 bereits die «FinanzKommission Gesundheit» berufen worden. Sie soll kurzfristige Maßnahmen zur Stabilisierung der Beitragssätze bis Ende März 2026 und Vorschläge für weitergehende Strukturreformen bis Ende 2026 vorlegen. Im Bereich Pflege arbeitet bereits seit Juli 2025 eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe «Zukunftspakt Pflege». Sie hat im Oktober 2025 einen ersten Zwischenbericht vorgelegt. Endgültige Ergebnisse werden Ende des Jahres erwartet.

Die Bundesregierung hat unter anderem eine Kommission eingesetzt, die Vorschläge für einen «modernen und entbürokratisierten Sozialstaat» vorlegen soll. Im Fokus stehen das Bürgergeld, Wohngeld und der Kinderzuschlag. Leistungen sollen eventuell zusammengelegt, Abläufe beschleunigt werden. Wie schätzt Du den Arbeitsauftrag und die Besetzung der Kommission ein? 

Auf dem Papier klingt das erst einmal gut. Weniger Bürokratie, mehr Übersicht, einfachere Verfahren. Aber wenn man sich anschaut, wer da in der Kommission sitzt, wird schnell klar, wohin die Reise wirklich geht. Ministerialbeamte unter sich, kaum Platz für Sozialverbände, keine Stimmen aus der Praxis, keine Betroffenen, keine Armutsforscher*innen. Das ist vor allem Selbstverwaltung der Bürokratie.

Ein moderner Sozialstaat heißt, Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht Aktenordner.

Ein Sozialstaat wird nicht menschlicher, wenn er von oben technokratisch «optimiert» wird. Ein moderner Sozialstaat heißt, Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht Aktenordner. Aber genau das droht verloren zu gehen. Statt über echte Verbesserungen zu reden wie höhere Regelsätze, existenzsichernde Leistungen, die Abschaffung von Sanktionen, einfacherer Zugang zu Hilfen, wird wieder an Strukturen herumgedoktert, als wäre Armut ein Verwaltungsproblem.

Nochmal zur Kommission: Entbürokratisierung kann sinnvoll sein, wenn Menschen dadurch einfacher Leistungen beantragen können. Dann wächst aber oft der Kreis derjenigen, die das tun und die Kosten steigen. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Bundesregierung das im Sinn hat. Was hörst du dazu, wie klar der Kommission Sparvorgaben gemacht wurden? Was bekommt man überhaupt von deren Arbeit mit? 

Von Transparenz kann bei dieser Kommission keine Rede sein, weil es Hinterzimmergespräche sind. Ein moderner Sozialstaat bemisst sich nicht an der Zahl der gesparten Milliarden, sondern an der Zahl der Menschen, die endlich ohne Angst leben können. Wenn Entbürokratisierung zum Vorwand für Kürzungen wird, dann ist das kein Fortschritt, sondern sozialer Rückschritt.

Auch die gesetzliche Rente wird angegriffen. Bundeswirtschaftsministerin Reiche fordert, wir müssten alle länger arbeiten, Merz sagt, man müsse den Menschen mehr abverlangen. Laut Koalitionsvertrag will die Regierung bis zur Mitte der Legislatur eine «neue Kenngröße für ein Gesamtversorgungsniveau über alle drei Rentensäulen» prüfen. Das heißt, man will das Versorgungsniveau der drei Säulen allgemeine gesetzliche Rentenkasse, Betriebsrente und private Altersvorsorge neu zueinander ins Verhältnis setzen. Das wird wohl absehbar darauf hinauslaufen, das Versorgungsniveau in der gesetzlichen Rente weiter abzusenken und den Markt für private Rentenprodukte zu stärken.

Alterssicherung ist keine Spekulationsfrage, sondern ein Menschenrecht. Die gesetzliche Rente muss wieder das Rückgrat der Alterssicherung sein, und zwar stark, verlässlich und solidarisch. Ich sage ganz klar: Wer Rentner*innen sieht, die Pfandflaschen sammeln, und dann fordert, die Menschen sollen noch länger arbeiten, hat jedes Gespür für Realität verloren. Wir brauchen eine gesetzliche Rente, die vor Armut schützt. 

Vor Kurzem stellte eine Gruppe junger Unionsabgeordneter den schon ausgehandelten Rentenkompromiss zwischen Union und SPD, das Rentenniveau zumindest bis 2031 bei 48 Prozent zu sichern, in Frage. Wie ordnest du das ein? Haben Merz und Generalsekretär Spahn den Laden nicht im Griff? Was heißt das für die Fliehkräfte und den Rechtsruck in der Union? Oder sind das abgestimmte good-cop-bad-cop-Spielchen, um die SPD immer weiter unter Druck zu setzen? 

Das ist kein Streit um Details, sondern Teil eines größeren Projekts, nämlich den Sozialstaat Schritt für Schritt zu schleifen und soziale Sicherheit durch Eigenverantwortung zu ersetzen. Dass der ausgehandelte Rentenkompromiss jetzt infrage gestellt wird, zeigt vor allem, dass die Union uneinheitlich und zerstritten ist, gleichzeitig setzen rechte Flügel innerhalb der Union die SPD und die Öffentlichkeit unter Druck. Das Ziel ist klar: Das Rentenniveau dauerhaft absenken und die Schwächsten attackieren. Diese Union ist sozial blind und marktgläubig, egal ob in Rente, Gesundheit oder Bildung. Rechte Rhetorik, Kürzungsphantasien und Eigenverantwortungsmythen sind ihr Markenzeichen. Und damit stärkt sie letztlich die AfD und rechtsextreme Gesellschaftsbilder.

Es reicht nicht, über Sozialpolitik zu reden, während Merz, Reiche und Co. jeden Tag versuchen, den Sozialstaat zu schleifen.

Apropos SPD: Was würdest Du der Partei als Rat mitgeben, wenn Du auf die Sozialstaatsdebatte schaust?

Es geht darum, wieder Haltung zu zeigen, soziale Sicherheit ernst zu nehmen und die Interessen der Mehrheit zu vertreten, nicht die der Märkte oder der eigenen Koalitionspartner. Wer das vergisst, verspielt langfristig seine politische Basis. Die Wahlergebnisse der Sozialdemokraten sprechen eine klare Sprache. Es reicht nicht, über Sozialpolitik zu reden, während Merz, Reiche und Co. jeden Tag versuchen, den Sozialstaat zu schleifen. Die SPD muss klare rote Linien ziehen, um wieder glaubwürdig zu sein, zum Beispiel beim Rentenniveau, bei Bürgergeld und Pflege. Sie darf nicht die Rhetorik der Union übernehmen. Wer anfängt, letztlich dieselben Kürzungsargumente in gewissen Variationen zu wiederholen, verliert Vertrauen bei den Menschen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind, er verliert als Partei und er befeuert den Rechtsruck.

Wenn es massive Angriffe auf den Sozialstaat gibt, ist die gesellschaftliche Linke oft mit Abwehrkämpfen beschäftigt. Reicht das?

Nein, Abwehrkämpfe reichen nicht aus. Natürlich müssen wir uns gegen Angriffe auf Bürgergeld, Rente, Pflege und Gesundheit wehren. Aber Sozialpolitik darf nicht nur reagieren. Wir brauchen eine offensive linke Agenda, die soziale Sicherheit stärkt, Armut verhindert, soziale Ungleichheit bekämpft und die Verteilungsfrage stellt. Es geht darum, die gesellschaftliche Debatte zu prägen, nicht nur auf Kürzungspläne zu reagieren. Wer immer nur verteidigt, überlässt die Deutungshoheit denen, die den Sozialstaat abbauen wollen. Wir haben die Antworten, wir haben die Anträge, wir haben gute Lösungsvorschläge. Wir brauchen jetzt mehr Austausch von Menschen, die für einen anderen Sozialstaat kämpfen, wir brauchen mehr Druck auf der Straße, mehr Kreativität und solidarische Kämpfe gegen diese unbarmherzige Politik. 

Unser Ziel ist soziale Sicherheit für alle und eine Gesellschaft, in der niemand durchs Raster fällt.

Ich weiß als Sozialarbeiterin aus der Praxis genau, was fehlt und was möglich ist und das Ganze ist auch finanzierbar. Ein Problem ist aber, dass viele Leute Schnappatmung bekommen, wenn sie das hören, weil sie sich nur noch fragen können, wie das zu bezahlen sein soll. Das neoliberale Mantra beschränkt eben die Vorstellung davon, was für eine andere Welt möglich wäre. Darauf brauchen wir gute Antworten. Wir müssen uns auch mehr mit der Vermögensteuer und Vermögensungleichheit in Deutschland beschäftigen und mal ausrechnen, was wir damit über Jahre für soziale Sicherheit, Pflege, Bildung und eine armutsfeste Rente finanzieren könnten. Das ist kein Wunschdenken, das ist eine Frage der politischen Priorität und der Gerechtigkeit.

Worauf kommt es jetzt also an? 

Es kommt jetzt darauf an, dass wir einerseits natürlich Abwehrkämpfe gegen Sozialabbau, steigende Mieten und unfaire Löhne führen und andererseits unsere Vision von einem gerechten Sozialstaat vorantreiben und aufzeigen, dass soziale Gerechtigkeit und greifbare Veränderungen im Alltag der Menschen umsetzbar sind. Wir müssen zeigen, was möglich ist und konkrete Alternativen auf den Tisch legen. Und das tun wir, indem wir uns beispielsweise für eine sanktionsfreie, armutsfeste Grundsicherung, sozialen Wohnungsbau, bessere Tarifbindung, einen höheren Mindestlohn und Investitionen in Bildung und Gesundheit einsetzen. Unser Ziel ist soziale Sicherheit für alle und eine Gesellschaft, in der niemand durchs Raster fällt.

Wir brauchen jetzt mehr Austausch von Menschen, die für einen anderen Sozialstaat kämpfen, wir brauchen mehr Druck auf der Straße, mehr Kreativität und solidarische Kämpfe gegen diese unbarmherzige Politik.

Du bist 2023 aus den Grünen ausgetreten, unter anderem wegen des Kurses der Partei in der europäischen Asylpolitik. Jetzt sitzt Du für die Linke im Bundestag. Was ist Deine größte Hoffnung mit Blick auf die Partei, was ist aber auch die größte Herausforderung?

Meine größte Hoffnung ist, dass wir noch mehr Menschen überzeugen können. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir zeigen, dass Politik nicht abgehoben sein darf, dass wir uns mit den realen Problemen der Menschen beschäftigen und nicht nur im Regierungsviertel diskutieren müssen. Die größte Herausforderung ist, Menschen zu erreichen, die unsere Forderungen als radikal wahrnehmen. Dabei ist es nicht radikal, für Menschlichkeit und Menschenwürde einzutreten oder für die eigene, bessere soziale Absicherung. Radikal ist es, die Lebensrealitäten der Menschen zu ignorieren. In einer Zeit, in der eine rechtsextreme Partei Zuwachs gewinnt, müssen wir außerdem deutlich machen: Die AfD macht keine Politik für die Mehrheit, sondern für die Reichsten und verkauft es, um ihre rassistische Agenda durchzusetzen. Wir müssen gemeinsam lauter werden gegen den Faschismus. Und das werden wir!