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Wie emanzipatorische Gesundheitsakteur*innen für eine Transformation der Versorgung kämpfen

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Maie Klingenberg,

Beschäftigte der sechs NRW-Unikliniken demonstrieren im Oberhausener Fußballstadion ihre Kraft bei einer Urabstimmung über unbefristeten Streik
Urabstimmung über Erzwingungsstreik für Tarifvertrag Entlastung, April 2022: Beschäftigte der sechs NRW-Unikliniken demonstrieren im Oberhausener Fußballstadion ihre Kraft. Der Tarifvertrag wurde im Juni 2022 erfolgreich abgeschlossen. Mehr: notruf-entlastungnrw.de  Foto: Johannes Hör

Der Widerspruch zwischen Profit- und Bedürfnislogik zeigt sich in kaum einem Sektor deutlicher als im Gesundheitswesen. Dass Investor*innen Gewinne aus der Gesundheitsversorgung ziehen, empfinden viele Menschen, auch ohne eingehende Beschäftigung mit der Gesundheitsökonomie, als fragwürdig. Ein weiterer Widerspruch offenbart sich im heutigen Klima der Militarisierung, in dem Milliarden für Aufrüstung locker gemacht werden, während die Regierung wenig Handlungsbereitschaft bei insolventen Krankenhäusern, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und der Unterversorgung benachteiligter Gruppen zeigt. Stattdessen sollen Krankenhäuser kriegstüchtig werden. Diese Missstände bestehen, weil das Gesundheitssystem in hohem Maße undemokratisch und von privaten Kapitalinteressen geprägt ist. Zudem wird Sorgearbeit im Kapitalismus systematisch abgewertet, auch wenn Teile davon selektiv aufgewertet und in die Wertschöpfung integriert werden. Wie Krankenhausbeschäftigte, solidarische Bündnisse und Polikliniken Widerstand leisten und eine Demokratisierung praktisch einfordern – darum geht es im Folgenden.

Maie Klingenberg arbeitet am Institut für Räumliche und Sozial-Ökologische Transformationen der Wirtschaftsuniversität Wien und hat im Rahmen einer Masterarbeit mit Gesundheitsakteur*innen in Nordrhein-Westfalen gesprochen.

Die Krise der Krankenhäuser

Die deutsche Krankenhauspolitik hat in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel erlebt: von der Annahme, dass die stationäre Versorgung geplant und sich dabei am bestehenden Bedarf orientieren muss, hin zur neoliberalen Prämisse, dass Preise und finanzielle Anreize das überlegene Instrument der Steuerung darstellen. Mit der Einführung fixer Krankenhausbudgets im Jahr 1984, die die Erwirtschaftung von Gewinnen und Verlusten ermöglichen, sowie des DRG-Systems (Diagnosis Related Groups, auch Fallpauschalensystem) 2004 wurde diese Logik verfestigt. Patient*innen werden seither in Diagnosegruppen kategorisiert, deren Durchschnittskosten die Vergütung durch die Krankenkassen bestimmen. So ist für private wie öffentliche Krankenhäuser[1] der Anreiz entstanden, zwischen lukrativen und weniger lukrativen Behandlungen zu unterscheiden und immer mehr Patient*innen in immer kürzerer Zeit zu behandeln. Laut dem ver.di-Gesundheitsexperten Kalle Kunkel ging es bei der Einführung des DRG-Systems jedoch weniger um die Eindämmung der angeblichen Kostenexplosion, sondern vielmehr um die Reduktion demokratischer Einflussnahme durch die marktförmige Kontrolle des Gesundheitswesens.

Es wird ein kannibalistischer Wettbewerb befeuert, bei dem mehr Geld für verbleibende Krankenhäuser herausspringt, desto mehr Krankenhäuser insolvent gehen.

Auch wenn Karl Lauterbachs Krankenhausreform, die Ende 2024 verabschiedet wurde (Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz, KHVVG), das DRG-System teilweise durch ein neues Vergütungssystem ersetzt, kritisieren Expert*innen des Vereins demokratischer Ärzt*innen, dass der Anreiz zur Mengenausdehnung und die Unterscheidung zwischen rentablen und weniger rentablen Behandlungen bestehen bleiben. Zudem wird ein kannibalistischer Wettbewerb befeuert, bei dem mehr Geld für verbleibende Krankenhäuser herausspringt, desto mehr Krankenhäuser insolvent gehen. Wie gravierend die Krankenhausschließungen und die damit verbundenen Risiken für die Versorgungssicherheit sind, zeigt eine aktuelle Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Hinzu kommt das massive Investitionsdefizit: Obwohl die Länder gesetzlich verpflichtet sind, Bau- und Ausstattungskosten zu decken, haben sie diese Verantwortung im Zuge neoliberaler Sparpolitik vernachlässigt. Krankenhäuser müssen daher oft selbst investieren, wodurch ein starker Kostendruck entstanden ist. Rationalisierung und Personalabbau haben eine enorme Arbeitsbelastung erzeugt, die viele Beschäftigte aus dem Beruf treibt. Wie dramatisch die Konsequenzen des Pflegenotstands sind, belegen Berichte im «Schwarzbuch Krankenhaus»: Erschöpfung, Überforderung, Fehlbehandlungen, vermeidbare Todesfälle. Im größeren Zusammenhang wird deutlich: Die kapitalistische Abwertung von Sorgearbeit produziert eine doppelte Krise – unzureichende Versorgung auf der einen Seite und massive Ausbeutung auf der anderen Seite.

Krankenhausbeschäftigte: Demokratische Ermächtigung durch Arbeitskämpfe

Seit einigen Jahren schreiben die Streiks für Entlastung, angefangen an der Berliner Charité 2015, Geschichte. Zu den Erfolgen der Streikbewegung zählt, dass sie zum ersten Mal den Personalmangel zum Gegenstand eines Tarifvertrags gemacht hat. Auch das Ausmaß dieser Streikbewegung ist bemerkenswert: Beispielsweise traten im Mai 2022 Beschäftigte von sechs Unikliniken Nordrhein-Westfalens für elf Wochen in den unbefristeten Streik. Nicht zuletzt durch den Einsatz von Organizing-Strategien durch die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) erlebten Beschäftigte die Streikzeit als transformativen demokratischen Prozess. Gewerkschaftliches Organizing nach Jane McAlevey ist eine Strategie zum Aufbau von Gegenmacht, bei der Beschäftigte so aktiv wie möglich eingebunden werden, um wirksame Arbeitskämpfe zu führen.

Im Vorlauf des Streiks in Nordrhein-Westfalen wurden Beschäftigte aller Stationen befragt, wie ihre Station besser aufgestellt werden könnte – das gesammelte Wissen floss in die Formulierung der Forderungen ein. Auch die Streiklogistik baute auf die Expertise der Beschäftigten: Die schrittweise Schließung von Stationen und die Aufrechterhaltung einer Notfallversorgung erforderten, dass Beschäftigte zeitweise die Versorgung koordinierten. Die Tarifverhandlungen in Köln basierten auf einer basisdemokratischen Struktur, in deren Mittelpunkt ein Delegiertenrat aus 200 demokratisch gewählten Beschäftigten stand. Parallel dazu gab es einen Feedbackprozess, bei dem die Entwicklung der Verhandlungen an allen sechs Unikliniken in der täglichen Streikversammlung besprochen wurde. Indem Beschäftigte Forderungen aufstellten und Teile der Krankenhausversorgung koordinierten, erlebten sie sich selbst als Expert*innen – in der Lage, ihr Arbeitsfeld zu gestalten. Die Mitsprache bei Entscheidungen förderte ein Selbstverständnis als politische Subjekte mit realer demokratischer Macht gegenüber den Arbeitgebern. Zugleich bewirkte die Ausnahmeerfahrung des Streiks eine wachsende Solidarität unter den Kolleg*innen über Stationsgrenzen hinweg.

Indem Beschäftigte Forderungen aufstellten und Teile der Krankenhausversorgung koordinierten, erlebten sie sich selbst als Expert*innen.

Der demokratisierende Effekt der Entlastungsstreiks beschränkt sich jedoch nicht auf seine Innenwirkung. Auf der gewerkschaftlichen Ebene hat der ver.di-Fachbereich «Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft» durch die Streiks einen enormen Zuwachs erfahren. Dies bedeutet eine Stärkung von Gewerkschaftsmacht und somit ein Gegengewicht zur Macht von Arbeitgebern und Kapital. Das Durchhaltevermögen der Beschäftigten in Nordrhein-Westfahlen hat überdies eine Signalwirkung entfaltet – andernorts konnte wenige Monate später der Tarifvertrag Entlastung errungen werden, ohne dass es zum unbefristeten Streik kommen musste. Auf politischer Ebene sind seit Beginn der Entlastungsstreiks diverse die Pflege betreffende Reformen erfolgt, die nicht ausschließlich auf die Streiks zurückzuführen sind, mit ihnen jedoch in einem engen Zusammenhang stehen. Während viele Beschäftigte diese Reformen als ambivalent und unzureichend erleben, ist die Ausgliederung der Pflege am Bett aus dem DRG-System und ihre kostendeckende Vergütung aus dem Pflegebudget positiv hervorzuheben. Seither können keine Profite mehr aus der Pflege am Bett gezogen werden.

Solidarische Bündnisse: Kämpfe verbinden und stärken 

Neben den Krankenhausbeschäftigten selbst leisten auch zivilgesellschaftliche Gruppen und Bündnisse einen maßgeblichen Beitrag zur Demokratisierung des Gesundheitssystems. Ein Beispiel ist das Düsseldorfer Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus, das 2018 im Vorfeld der Streiks an der Essener und Düsseldorfer Uniklinik entstanden ist – initiiert von einer universitätsnahen Care-Revolution-Gruppe. Die Mitglieder halfen nicht nur bei der Vorbereitung des Streiks, sondern mobilisierten auch eine breite Unterstützung aus der Zivilgesellschaft.

Durch die Übernahme der erprobten Bündnisstruktur in anderen Städten kam es zu einer zunehmenden Vernetzung in Nordrhein-Westfalen und es entstand die Idee einer überregionalen Volksinitiative – ein basisdemokratisches Instrument mit dem Zweck, eine Debatte über die Krise des Gesundheitssystems im Landtag einzufordern. Diverse Nichtregierungsorganisationen, Patient*innenverbände und gesundheitspolitische Vereine versammelten sich hinter diesem Anliegen. Obwohl die Petition knapp am Quorum scheiterte, leistete die Volksinitiative eine beachtliche Aufklärungsarbeit. Zudem blieb das dahinterstehende Bündnis für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen bestehen. Die Forderungen nach einem patientenorientierten, selbsthilfefreundlichen Gesundheitswesen, einem Stopp der Privatisierung, guten Arbeitsbedingungen sowie demokratischer Steuerung in den Händen aller bleiben hochaktuell und vereinen die zum Teil widersprüchlichen Interessen von Beschäftigten und Patient*innen. Durch die kontinuierliche, zumeist ehrenamtliche Arbeit von vielen Aktiven wurde das Verbindende zwischen den Kämpfen verschiedener Interessensgruppen herausgearbeitet und in den Vordergrund gestellt. Dadurch wurde die Grundlage für eine geteilte Agenda geschaffen.

Eine wichtige Voraussetzung für Demokratisierung ist das Wissen um die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Institutionen.

Aufklärungskampagnen und politische Bildung stellen einen weiteren zentralen Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteur*innen zur Stärkung der Bewegung für eine Transformation der Gesundheitsversorgung dar. Angesichts der überbordenden Komplexität des deutschen Gesundheitssystems hat diese Arbeit einen nicht zu unterschätzenden demokratischen Stellenwert. Im Kontext der Lauterbach-Reform, die oft als Blackbox betitelt wurde, haben Gesundheitsbündnisse wie «Krankenhaus statt Fabrik» Informationskampagnen gestartet, um die Konsequenzen der Reform für Betroffene transparent zu machen. Dabei wurden Fragen wie «Findet eine echte Entökonomisierung statt?» und «Wer wird von den Krankenhausschließungen betroffen sein?» von Expert*innen detailliert erörtert. Die Frage nach Alternativentwürfen spielte bei Informationsveranstaltungen wie diesen eine zentrale Rolle – teilweise fanden sich sogar Menschen mit dem Ziel zusammen, selbstorganisierte Gesundheitszentren zu gründen.

Eine wichtige Voraussetzung für Demokratisierung ist das Wissen um die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Institutionen. Bereits ein umfassenderes Verständnis davon, woher der Kostendruck im Krankenhaus kommt, kann die Handlungsfähigkeit befördern. So werden auf der einen Seite Pfadabhängigkeiten vor dem Hintergrund neoliberaler Politiken für Betroffene erkennbar und auf der anderen Seite wird deutlich, dass der Status quo nicht alternativlos ist.

Polikliniken: Transformative Gesundheitsmodelle in der Praxis

Die dritte emanzipatorische Akteurin ist die Poliklinik-Bewegung, die auf der Grundlage eines ganzheitlichen Gesundheitsverständnisses selbstorganisierte Gesundheitszentren aufbaut. Inspiriert von den multiprofessionellen, ambulanten Polikliniken der DDR wurde 2017 die erste selbstorganisierte Poliklinik in Hamburg gegründet. Mittlerweile gibt es deutschlandweit mehr als ein Dutzend Gruppen, die sich für die Vision eines radikal transformierten Gesundheitswesens einsetzen.

Grundlegend ist dabei die Anerkennung der sozialen Determinanten von Gesundheit, nämlich, dass es die gesellschaftlichen Bedingungen sind, die Gesundheit maßgeblich beeinflussen. Multiprofessionalität, das heißt, Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen und weitere Berufe unter einem Dach zu vereinen, prägt daher die Arbeitsweise von Polikliniken. Das Ziel ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und der Abbau von Hierarchien, zum Beispiel durch den Verzicht von Ärzt*innen auf ein höheres Gehalt. Des Weiteren spiegeln sich in der Praxis von Polikliniken emanzipatorische Werte wider, wie zum Beispiel die Gleichbehandlung von Menschen ohne Papiere und die Kooperation mit antirassistischen und queerfeministischen Gruppen.

Die Poliklinik-Bewegung macht Visionen einer alternativen Gesundheitsversorgung greifbar.

Polikliniken sind Orte, an denen emanzipatorische Praktiken, wie die demokratische Planung von Gesundheitsversorgung, vorweggenommen werden. Das Leistungsangebot von Polikliniken basiert auf einer strukturierten Bedarfsanalyse, die die Bedarfe des Stadtteils mit qualitativen und quantitativen Methoden erfasst. Poliklinik-Gruppen arbeiten überdies mit horizontalen Entscheidungsstrukturen wie dem Konsensprinzip und gestalten ihre Arbeitsprozesse einsteiger*innenfreundlich – jede*r kann mitmachen. Gleichzeitig stellt die Möglichkeit der direkten Kommunikation zwischen den verschiedenen medizinischen und nichtmedizinischen Berufsgruppen ein gelungenes Beispiel bedürfnisorientierter Gesundheitsplanung dar: Laut Poliklinik-Ärztin Kirsten Schubert bleibt Patient*innen so die Odyssee zwischen diversen Fachärzt*innen erspart, bei der migrantische, chronisch kranke oder alleinerziehende Menschen regelmäßig auf der Strecke bleiben.

Somit macht die Poliklinik-Bewegung Visionen einer alternativen Gesundheitsversorgung greifbar. Neben ihrem Beitrag einer konkreten Verbesserung der Versorgung vor Ort schafft sie Räume des Experimentierens, in denen die Herausforderungen basisdemokratischer Entscheidungsfindung und eines emanzipatorischen Anspruchs erleb- und überwindbar werden. Durch die Gründung des übergreifenden Poliklinik Syndikats, das den Aufbau lokaler Zentren unterstützt, auf politischer Ebene für förderliche Rahmenbedingungen eintritt und sich europaweit mit selbstorganisierten Gesundheitszentren vernetzt, hat die Bewegung das Potenzial, langfristige Veränderung anzustoßen.

Ausblick: Gesundheit demokratisieren

Seit Jahren fordern Gesundheitsbündnisse und die Gewerkschaft ver.di die Ablösung des DRG-Systems durch ein System der Selbstkostendeckung. Doch die als «Revolution» angekündigte Lauterbach-Reform hat diese zentrale Forderung nicht erfüllt. Ein selbstkostendeckendes Vergütungssystem wäre ein entscheidender Schritt zu einer bedarfsgerechten Versorgung: Es finanziert, was medizinisch und pflegerisch nötig ist – nicht was rentabel ist. Somit schränkt es die Möglichkeit, Gewinne aus der stationären Versorgung zu ziehen, deutlich ein – und stellt einen Hebel für Entprivatisierungen dar.

Die im Kontext der Entlastungsstreiks erfolgten Reformen haben gezeigt, dass Beschäftigte durch strategischen Druck die Grenzen des Erstreikbaren verschieben können. Anstehende Krankenhausschließungen könnten zu einer weiteren Politisierung beitragen und den Druck auf die Politik erhöhen, um den versprochenen Wandel einzuleiten. Zudem müssen breite Allianzen für eine solidarische Bürger*innenversicherung entstehen, in die alle Menschen ihren Einkommen – auch aus Kapitalerträgen – entsprechend einzahlen. Nur so lässt sich eine gerechte Finanzierung sichern und die Zwei-Klassen-Medizin überwinden.

Statt Milliarden für Aufrüstung und Abschottung braucht es eine Priorisierung menschlicher Grundbedürfnisse über eine ausfinanzierte Daseinsvorsorge.

Zusätzlich müssen jedoch auch Bund und Länder ihrer gesetzlichen Pflicht zur Investitionsfinanzierung nachkommen. Dies erfordert nicht weniger als eine politische Prioritätenverschiebung: Statt Milliarden für Aufrüstung und Abschottung braucht es eine Priorisierung menschlicher Grundbedürfnisse über eine ausfinanzierte Daseinsvorsorge.

Eine transformierte Krankenhausfinanzierung stellt nur den Grundpfeiler eines gemeinwohlorientierten Gesundheitswesens dar. Anstelle einer Steuerung durch Preise und Profite muss die Planung der Versorgung unter Einbeziehung aller Betroffenen erfolgen. Die Entlastungsstreiks zeigen: Auch Pflegekräfte, Laborassistent*innen und Küchenpersonal besitzen wichtige Planungskompetenzen. Demokratische Krankenhausräte könnten das Machtmonopol der Chefärzt*innen aufbrechen und Arbeitsbedingungen sowie Versorgung verbessern. Mitglieder des Vereins demokratischer Ärzt*innen schlagen zudem vor, Entscheidungsmacht von der Ministeriumsebene auf die Ebene der Versorgungsregion zu verschieben. Regionale Gesundheitsräte, in denen Krankenhausbeschäftigte, niedergelassene Ärzt*innen, Patient*innen, Rettungsdienste, Pflegeheime und Krankenkassen vertreten sind, könnten die stationäre, ambulante und rehabilitative Versorgung auf integrierte Weise planen. Heute verhindern institutionelle Trennlinien und die historische Dominanz der Kassenärztlichen Vereinigung eine solche Koordination.

Demokratische Planung muss immer auch feministische Planung sein.

Die gute Nachricht ist: Eine wissenschaftlich fundierte Bedarfsplanung hat im Gesundheitswesen eine lange Tradition. Wie kann aber eine emanzipatorische Planung gelingen, die die diskriminierenden Strukturen des Gesundheitswesens überwindet? Eine Antwort lautet: Demokratische Planung muss immer auch feministische Planung sein. Das heißt zum Beispiel auch, dass sie bezahlte und unbezahlte Gesundheitstätigkeiten in den Blick nehmen muss. In Deutschland übernehmen Angehörige, mehrheitlich Frauen, die häusliche Pflege von rund 4,9 Millionen Menschen – verabreichen Injektionen, versorgen Wunden, heben und waschen Patient*innen. Damit ihre Arbeit nicht länger unbezahlt und unsichtbar in der häuslichen Isolation bleibt, müssen pflegende Angehörige eine zentrale Position in Gesundheitsräten einnehmen. Auch chronisch kranke, alte, behinderte und migrantische Patient*innen sollten im Planungsprozess eine hervorgehobene Rolle spielen. Ein bedürfniszentrierter Ansatz bedeutet dabei nicht, dass alle Bedürfnisse gleich priorisiert werden müssen. Wenn Gesundheitsinfrastrukturen jedoch von diesen Gruppen gestaltet werden, sind sie mit hoher Wahrscheinlichkeit für alle Menschen von Vorteil.

Zentral für eine inklusive und emanzipatorische Gesundheitsbewegung ist also die Solidarität mit denjenigen, die am stärksten von den diskriminierenden Strukturen des Gesundheitssystems betroffen sind. Lauterbachs Strukturreform, die einen Teil der Krankenhausfälle in den ambulanten Bereich verlagern soll, hat den Blick vieler Aktiver bereits geweitet: Während der Fokus zunächst auf den Krankenhausbeschäftigten lag, rücken nun die Gesamtheit der Gesundheitsversorgung und die Frage nach Alternativen auf die Agenda. Dieses Anliegen hat das Potenzial, zahlreiche Interessen zusammenzuführen und eine breite Bewegung zu mobilisieren.

Wenn Menschen die Versorgung auf basisdemokratische Weise gestalten, können radikal transformierte Gesundheitsmodelle entstehen.

Schließlich veranschaulicht die Poliklinik-Bewegung, dass eine umfassende Demokratisierung auch die Schaffung gänzlich neuer Gesundheitsinfrastrukturen befördern kann. Wenn Menschen die Versorgung auf basisdemokratische Weise gestalten, können radikal transformierte Gesundheitsmodelle entstehen. Eine demokratische Offenheit für bottom up-Prozesse würde wahrscheinlich viele weitere Innovationen hervorbringen, die die Prinzipien von solidarischer Unterstützung, Gemeinschaft, und Wohlbefinden auf neuartige Weise verbinden.

Eine Demokratisierung des Gesundheitssystems bedeutet, die Versorgung in die Hände aller zu legen, anstatt sie durch Marktlogiken und Kapitalinteressen zu steuern. Zugleich eröffnet Demokratisierung durch die Einbeziehung vielfältiger Perspektiven die Chance, systemische Ausschluss- und Unterdrückungsmechanismen zu überwinden und eine Versorgung zu gestalten, die den tatsächlichen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht.


[1] Aus Daten des Statistischen Bundesamts lässt sich ableiten, dass sich 28,7% aller Krankenhäuser in öffentlicher, 31,2% in freigemeinnütziger und 40,1% in privater Trägerschaft befinden. Legt man jedoch die Bettenanzahl zugrunde, befinden sich 46,8% aller Betten in öffentlicher Hand.

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