Nachricht | International / Transnational - Europa Viel Lärm um nichts?

Eine Analyse der russischen Staatsdumawahlen von Wladimir Fomenko (RLS).

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Am 4. Dezember hat Russland sein Parlament, die Staatsduma, zum sechsten Mal und erstmals auf fünf Jahre gewählt. Damit trat das 9 Zeitzonen umfassende Land in einen Wahlzyklus ein, der Anfang März nächsten Jahres mit der Wahl des Präsidenten abgeschlossen wird. 107 Millionen Wahlberechtigte, darunter knapp 2 Millionen mit ständigem Wohnsitz im Ausland, wählten unter sieben politischen Parteien und ihren Kandidaten aus. Die ersten Wähler meldeten sich am Abend vorher in Neuseeland in einem externen Wahllokal, als letzte machten am Montagmorgen Wähler in San Francisco ihr Kreuzchen. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei gut 60 Prozent.

Der Wahlkampf verlief ohne Überraschungen und nach Meinung vieler Beobachter eher langweilig. Die Spitzen der regierenden Partei Einiges Russland enthielten sich wie immer aller öffentlichen Debatten, denen damit die Schärfe der offenen Konkurrenz genommen wurde. Die Wahlen zur Duma, deren Platz im politischen System mit vielen Gegengewichten ausgestattet ist, lägen eigentlich außerhalb der Politik, meint der liberale Publizist Leonid Radsichowskij. Auch eine Konkurrenz sei eher Illusion: das politische Kapital  der Parteien sei nicht vergleichbar, es funktionieren nur die Grundsätze der Werbung und der großen Zahlen. Das renommierte Levada-Zentrum ermittelte im September 2011, dass 80 Prozent der Bürger überzeugt davon waren, die Geschehnisse im Land nicht beeinflussen zu können, und gut die Hälfte wünschten auch gar nicht, etwas zu bewegen, nicht mal auf lokalem Niveau.

Doch die Wahlergebnisse haben  mit einigen deutlichen Überraschungen solche Erwartungen gekippt. Einiges Russland rutschte von satten 64 Prozent (2007) unter die psychologisch wichtige 50-Prozent-Marke und wird in der neuen Duma 77 Sitze weniger bekommen. Drei Oppositionsparteien konnten im Gegenzug deutlich zulegen: die Kommunistische Partei der Russischen Föderation verbessert sich von 57 auf 92 Mandate (knapp 20 Prozent der Wählerstimmen), die sich sozialdemokratisch gebende Partei Gerechtes Russland kommt von 38 auf 64 Sitze (13,2 Prozent) während die Liberaldemokraten um Wladimir Schirinowskij um 16 Mandate zulegen und neu mit 56 Sitzen (11,6 Prozent) im Parlament dabei sein werden. Andere Parteien scheiterten an der 7-Prozent-Hürde und werden im Parlament nicht vertreten sein -  darunter auch Grigorij Jawlinskijs Partei Jabloko, die sich nach längerer Abwesenheit in der Politik zurückgemeldet hatte.

Beobachter neigen dazu, dieses Ergebnis als dramatisch zu werten. Einige sprechen vom Ende der zehnjährigen Stabilität, wie sie durch die Regierenden verstanden und praktiziert wurde, andere von der größten Wahlniederlage der Putin-Medwedew-Partei und dem Beginn eines merklichen Stimmungsumschwungs gegen das herrschende Macht- und Medienmonopol der Regierung. Eines steht fest: der 4.Dezember ist über den Rahmen einer turnusmäßigen Parlamentswahl hinausgegangen. Es fand ein informelles Referendum statt, bei dem es weniger um die Sitzverteilung in der Duma, sondern vielmehr um das Vertrauen zur Macht gegangen ist. Dieses bescherte dem Kreml einen deutlichen Machtverlust, was nicht automatisch als ein Sieg der Opposition gedeutet werden kann. Einiges Russland wird weiterhin die Mehrheit in der Duma behalten während die unter sich gespaltene Opposition nur partiell an Einfluss gewinnen wird.

Die relativen Erfolge der etablierten Opposition dürften auch der unter vielen Bürgerinnen und Bürgern anzutreffenden Stimmung geschuldet sein, um jeden Preis gegen die Einheitsrussen votieren zu wollen. Die bisherige Taktik unzufriedener Wähler ohne eine wählbare Alternative, den Urnengang zu boykottieren, hatte sich nicht bewährt. Viele Proteststimmen landeten allerdings bei den linken und konservativen Parteien und nicht etwa bei Jabloko sowie der „neoliberalen“ Partei Prawoje Delo. Dieser Trend könnte darauf hinweisen, dass die Gesellschaft eine zweite „Machtpartei“ wünscht. Um es wieder mit Leonid Radsichowskij zu sagen: das geltende System der Imitation politischer Konkurrenz wird im Ergebnis der Wahlen reproduziert; zwar könnte das Parteienleben mit seiner bislang demonstrierten Verantwortungslosigkeit, Heuchelei und seinem Pathos etwas aufblühen, doch sollte man einsehen, dass die Parteiendemokratie an sich genauso wie ihr Fehlen kein einziges Problem des Landes zu lösen vermag.

Doch zurück zum Wahlkampf und seinen wichtigsten Akteuren. Einiges Russland agierte mit dem Slogan Kein Schritt zurück, sonst kommt die Katastrophe. In der finalen Phase des Wahlkampfes griff die Regierungspartei zu den Argumenten „Eurasische Union“ (Putin) und „Dezentralisierung der Macht“ (Medwedew). Den immer noch hohen Prozentanteil der Stimmen haben ihr nach Meinung der Experten Wähler gesichert, die von öffentlichen Geldern extrem abhängig sind. Der bisherige Kurs der herrschenden Kreise war paradoxerweise auf die Konservierung dieser Armut und Abhängigkeit gerichtet. Einige nationale Republiken (Tschetschenien und Dagestan) spendeten der Kremlpartei in einem Anfall vorauseilenden Gehorsams maximale Prozentsätze.

Die KPRF pflegte das Image der stärksten Oppositionspartei und präsentierte das radikalste Wahlprogramm: Nationalisierung sämtlicher Naturressourcen, also staatliches Monopol auf die Erdöl- und Erdgasexporte, Reindustrialisierung und Wirtschaftsdemokratie, Steuererhöhungen für Reiche, keine weitere Privatisierung der Daseinsvorsorge. Die Partei hat de facto ihre elektoralen Positionen von 1995-1999 nach dem Tief der Nulljahre wiederhergestellt und ihren Vorsitzenden Gennadij Sjuganow als gemeinsamen Kandidaten der Opposition bei den kommenden Präsidentschaftswahlen vorgeschlagen, um so eine Stichwahl zu ermöglichen.

Gerechtes Russland dürfte von der Müdigkeit der Wähler in Bezug auf das Spitzenpersonal der Konkurrenz profitiert haben. Parteichef  Sergej Mironow, vor kurzem noch Vorsitzender des Föderationsrates (der Oberen Parlamentskammer), schaffte vor staunendem Publikum den Sprung vom Kremlgetreuen zum Oppositionspolitiker. Die programmatische Nähe der beiden linksorientierten Parteien schafft neue Räume für künftige Kooperation in und außerhalb der Duma. Die parlamentarische Stärkung des Gerechten Russlands  könnte auch in dem Sinne interpretiert werden, dass die Chancen für eine nichtkommunistische Linkspartei insgesamt gewachsen sind.

Der Wahlkampf der Liberaldemokraten war wie erwartet auf die Person Schirinowskijs fokussiert und wies mitunter krasse nationalistische und xenophobe Züge auf. Nur mit Kremlnähe kann die Tatsache erklärt werden, dass ihr Hauptwahlslogan „Für die Russen“ von den Behörden nicht beanstandet wurde. Das Thema der Migration aus dem Kaukasus und Zentralasien beschäftigte das gesamte politische Spektrum. Auch der Kreml bediente sich seiner während der so genannten Piloten-Affäre in Tadschikistan kurz vor dem Wahltermin. Präsident Medwedew (Listenplatz 1 für Einiges Russland) setzte sich persönlich für die Freilassung zweier im tadschikischen Kurban-Tjube verurteilter russischstämmiger Piloten ein. Deren Rückkehr nach Moskau wurde als ein Akt nationaler Solidarität gefeiert. Nun sorgten die Tadschiken auch noch für das richtige Wahlergebnis, spotteten böse Zungen in Anspielung auf die Tatsache, dass ein Großteil der in Moskau anfallenden Serviceleistungen (wie z.B. Straßenreinigung) inzwischen von tadschikischen Migrantinnen und Migranten erbracht wird.

Die legislative und politische Agenda der neuen Duma wird sich erst nach den Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 ergeben. Analytiker erwarten von der Duma, dass sie künftig mehr Einfluss im politischen System ausüben werde. Voraussetzung dafür sind die Absichten des Kremls, insbesondere des Noch-Amtsinhabers Medwedew,  Letzteres zu reformieren (Senkung der Sperrklausel, Wiedereinführung der Wahl von Senatoren im Föderationsrat, von Gouverneuren und Oberbürgermeistern usw.) sowie eine breite personelle Erneuerung der Fraktionen. Medwedews Idee, eine „große Regierung“ aus Branchenprominenz und Parteisympathisanten einzuberufen, dürfte auch für das Parlament Konsequenzen haben. Es wird für die neue Duma schwieriger werden, sich auch weiterhin der Bürgerkontrolle und -beteiligung zu verschließen. Offen allerdings bleibt die Frage, ob mehr Einfluss der Parlamentarier auch durch mehr Kompetenz, Verantwortung und Offenheit gegenüber den Bedürfnissen der Bürger begleitet wird.

Wladimir Fomenko, stellv. Leiter des RLS-Büros in Moskau