Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe Achte Jahreskonferenz der Zeitschrift Historical Materialism in London, 10. bis 13. November 2011

Tagungsbericht von Reiner Tosstorff

Information

Seit 2004 veranstaltet die Zeitschrift Historical Materialism in London eine Tagung, die sich der Diskussion aktueller Fragen der marxistischen Theorie und ihrer Nutzbarmachung bei der Analyse politisch-gesellschaftlicher Probleme widmet. Thematisch umfassen sie das ganze Spektrum von der Ökonomie über philosophisch-kulturelle Grundsatzfragen einschließlich konkreter historischer Erscheinungsformen bis hin zu Debatten um die Erfahrungen aus politischen Kämpfen und gesellschaftlichen Mobilisierungen, seien sie vergangen oder aktuell. Dabei wird immer versucht, die jeweilige Konferenz und damit all ihre verschiedenen Vorträge unter ein Gesamtthema zu stellen, was jedoch meist zu allgemein ist, um als wirkliche Klammer funktionieren zu können. Dabei werden jeweils drei bis vier Vorträge zu einem thematisch viel präziser bestimmten Workshop zusammengefasst, der sich auch einer spezifischen fachlichen oder theoretischen Fragestellung zuordnen lässt. Neben diesen Workshops, die tagsüber parallel ablaufen, gibt es dazu regelmäßige größere Abendveranstaltungen, auf denen ein bestimmtes, besonders bedeutsames Thema beleuchtet wird. Dass ein solches Schema TeilnehmerInnen zwingt, auszuwählen und damit auch viel zu verpassen, ist die bedauerliche andere Seite des ansonsten natürlich zu begrüßenden großen Andrangs.

Die Zeitschrift selbst erschien zum ersten Mal 1997, herausgegeben von einer kleinen Gruppe hauptsächlich an der London School of Economics lehrender Wissenschaftler in der Tradition eines kritischen Marxismus, konnte aber sehr schnell den Herausgeberkreis auf zahlreiche namhafte MarxistInnen auch international erweitern. Schon 2002 gelang ihr der Übergang von einer halbjährlichen Erscheinungsweise zum vierteljährlichen Rhythmus. Das zeigt an, dass sie sich im englischen Sprachraum als vielleicht inzwischen wichtigste Zeitschrift zu theoretischen Grundsatzfragen etabliert hat, nicht zuletzt sicherlich deshalb, weil sie über die zu einem guten Teil ja künstliche Trennung nach »Einzeldisziplinen« hinausgeht und das ganze Spektrum marxistischer Gesellschaftsanalyse im Blick hat.

Das breite Echo, das die Zeitschrift heute findet, drückt sich auch darin aus, dass seit 2008 in einem zweijährlichen Rhythmus und im Wechsel zwischen Toronto und New York eine nordamerikanische Konferenz unter ihren Auspizien stattfindet. Dieses Jahr wurde in London auch mitgeteilt, dass sich jetzt ein Vorbereitungskreis für eine ähnliche periodische Tagung in Indien gebildet hat. Auch tauchte die bis jetzt allerdings noch nicht abschließend diskutierte Frage auf, ob man nicht in Deutschland, etwa in Berlin, ein Pendant auf die Beine stellen könne.

Dieses Jahr war versucht worden, die inhaltliche Klammer in der Fragestellung »Spaces of Capital, Moments of Struggle« zu definieren. Mit anderen Worten: Anknüpfungspunkt war die neue Welle von Massenbewegungen, wie sie sich etwa im »arabischen Frühling«, der »Occupy-Bewegung« oder bei den spanischen »Indignados« bzw. ähnlichen Bewegungen in Südeuropa ausgedrückt hatten.

Erfreulicherweise setzte sich auch der Trend einer ständig wachsenden Teilnehmerzahl fort, sowohl was die ›bloßen‹ Diskutanten wie die Referentinnen und Referenten anbetraf. Zwar wurde von den Organisatoren keine offizielle Teilnehmerzahl gegeben, doch waren es laut einer linken Zeitung um die 750 Teilnehmer, zumeist Menschen aus dem akademischen Betrieb, von Studierenden bis zu der an angelsächsischen Hochschulen noch immer stärker verbreiteten Gattung der ›linken Profs‹, die in Deutschland ja fast schon ausgestorben ist, viele davon mit einem Hintergrund in jahrelangen politischen Aktivitäten.

Es wäre jetzt ermüdend und vor allem auch völlig unübersichtlich, die zahlreichen Beiträge aufzulisten. Das Programm kann online eingesehen werden: www.historicalmaterialism.org/conferences/8annual/HM2011Grid.pdf. Hier sei nur der Orientierung halber aufgeführt, dass versucht worden war, die zahlreichen Beiträge nicht nur in Workshops von zumeist drei, manchmal sogar vier Beiträgen zusammenzufassen. Einige besonders gewichtige Probleme mit sehr vielen eingereichten Beiträgen waren zu großen thematischen Linien geordnet wie etwa zur Finanzkrise und den damit verbundenen neueren Wirtschaftsproblemen oder den jüngsten sozialen Bewegungen. Dann wiederum gab es zahlreiche einzelne Workshops zu bestimmten Theoretikern wie Lukacs, Gramsci, Benjamin, Poulantzas, Althusser u. a., deren Werke noch immer oder immer wieder die theoretisch-strategischen Diskussionen der Linken beeinflussen. Vieles davon wird in der nächsten Zeit in allerdings sicher verschiedensten Formen veröffentlicht werden. Wer sich aber schon jetzt einen ersten Eindruck von dem einen oder anderen Beitrag machen will, sei auf die Zusammenfassungen hingewiesen, die von den ReferentInnen vorher eingereicht worden waren: www.historicalmaterialism.org/conferences/8annual/VIII Annual Conference Abstracts.pdf

Einen besonderen Schwerpunkt bildete diesmal die Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung, sei es in Gestalt ihres im Gefolge der Oktoberrevolution gegründeten internationalen Zusammenschlusses, der Kommunistischen Internationale, sei es durch den Blick auf einzelne kommunistische Parteien. Entweder hatten sie ein besonderes Gewicht wie die KPD, oder eine Partei wie die KP der USA wirkte in einem Schlüsselland. Dabei ging es insgesamt um Fragen einer linken Politik, der Einheitsfront, aber ebenso auch um die Gründe für das Scheitern der kommunistischen Bewegung, wie sie sich im Gefolge der Entwicklung des Stalinismus herstellte. Einerseits war diese Diskussionslinie rege nachgefragt, andererseits war ihr thematischer Rahmen vielleicht doch ein bisschen traditionell auf Parteien und Strategien ausgerichtet. Jedoch muss man auch festhalten, dass ein solches Forum viele, die sich damit schon seit langem beschäftigen, zum ersten Mal zu einem direkten Austausch zusammenführte.

Besondere Höhepunkte stellten zweifellos die großen, brechend vollen Veranstaltungen im Plenum dar. Neben Diskussionen von solch allgemeinem Interesse wie zur gegenwärtigen Finanzkrise, insbesondere um den Euro, und zur »Arabellion« betraf dies vor allem die Preisrede von David Harvey anlässlich der Verleihung des Isaac und Tamara Deutscher Preises, benannt nach dem polnisch-jüdischen, dann im britischen Exil lebenden Historiker und Journalisten Isaac Deutscher (1907 - 1967), bekannt vor allem durch seine dreibändige Trotzki-Biographie, und seiner Lebensgefährtin und langjährigen Mitarbeiterin (und später die des britischen Historikers E. H. Carr) Tamara (1913 - 1990). Harvey, der von der kritischen Geographie herkommt und in seinen Forschungen von den Räumen ausgehend die gesellschaftlichen Bewegungsformen des Kapitalismus insbesondere in seiner jüngsten neoliberalen Phase analysiert, gab darin eine Erläuterung seines Verständnisses der Marx'schen Kritik der politischen Ökonomie. (Das ausgezeichnete Werk »Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln« wird im März auch auf Deutsch erscheinen.)

Daneben fanden einige Buchvorstellungen statt, auch sozusagen aus eigenem Interesse der Veranstalter. Denn die Zeitschrift gibt auch eine Buchreihe heraus, in der in einem ähnlich breiten Spektrum wichtige Studien zu grundlegenden Fragen der marxistischen Theorie und der Aufarbeitung der damit verbundenen oder beanspruchten historischen Praxis erscheinen. Zumeist sind dies Originalarbeiten, aber gelegentlich auch erstmalige Übertragungen ins Englische. So erschienen zu dieser Konferenz Bücher zur Finanzkrise und zu den sozialen Bewegungen in Bolivien (mit dem Blick auf das Verhältnis der Linken zu den indigenen Bewegungen), aber auch zwei Editionen wichtiger Texte zur Geschichte der Kommunistischen Internationale. Zum einen war dies ein Sammelband mit Schriften von Paul Levi, der in der Frühphase der KPD eine wichtige Rolle gespielt hatte, aber 1921 wegen katastrophaler Irrtümer der Partei mit ihr brach und dann bis zu seinem Tod 1930 auf dem linken SPD-Flügel stand. Zum anderen war dies eine kritische Ausgabe der Protokolle des vierten Weltkongresses der Komintern von Ende 1922, der sich vor allem mit der Politik der Einheitsfront und der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik in Sowjetrussland beschäftigte. Bis dahin lagen nur unvollständige Ausgaben auf Englisch vor.

So erwies sich auch diese Tagung als ein wichtiges Diskussions- und, wenn man so viel, Vernetzungstreffen eines Teils der internationalen Linken an der Schnittstelle zwischen linkem akademischem Betrieb und Grundsatzdebatten politischer Aktivisten, von dem wichtige Impulse zur Weiterentwicklung linker Fragestellungen und ihrer kritischen Erörterung ausgingen.