Nachricht | Schneider: Das Subjekt der Euthanasie. Transformationen einer tödlichen Praxis, Münster 2011

Zwischen Patientenverfügung, Pflegenotstand und Selbstverantwortung: Die schleichende Wiederkehr der Euthanasie unter anderen Vorzeichen

Euthanasie? Das ist doch diese schreckliche und menschenverachtende Variante der Bevölkerungspolitik, die schließlich im Nationalsozialismus zur radikalen Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens in Krankenhäusern, Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen führte. Und was hat das mit Sterbehilfe zu tun? Dem Wunsch von Menschen nachzukommen, die sterben wollen, bevor ihnen die Apparatemedizin das Leben künstlich verlängert, hat doch keinen bevölkerungspolitischen Hintergrund, ist doch nicht von staatlichen Programmen angeleitet und folgt doch nur dem freien, autonomen Willen des Einzelnen.
Wie nah sich diese beiden Vorstellungen von Leben sind, verdeutlicht Christoph Schneider in seinem Buch „Das Subjekt der Euthanasie". Er greift dabei zum einen die kritischen Debatten der Krüppelbewegung und des Feminismus der 1980er Jahre über die Renaissance von Defintionsversuchen „lebensunwerten" Lebens durch humangenetische Beratung, Gen- und Reproduktionstechnologien sowie Sterbehilfe wieder auf und aktualisiert sie zugleich angesichts der Privatisierung sozialer Risiken und des instrumentellen Zugriffs auf den vermeintlich freien Willen des Einzelnen.
Die „Neo-Eugenik“ von heute kommt „von unten“, wird „von der Frau und dem Mann auf der Straße getragen, ausgeübt und verbreitet“, so Schneider. Sie wird geformt durch die massenmediale Skandalisierung des Pflegenotstands – freilich ohne Behebung der angekreideten Missstände, durch die gesellschaftliche Ausgrenzung von Kranken und Behinderten und durch die Aufgabe des Solidarprinzips in der Gesundheitsvorsorge. Der freie Wille wird zu Mogelpackung: Die Entscheidung für oder gegen die Geburt eines Kindes mit Behinderung, die Unterschrift unter eine Patientenverfügung, die den eigenen Tod planen soll – all das sind individuelle Schritte, die ohne die Diskurse, denen sie entspringen, nicht zu verstehen sind. Und eben diese Diskurse, ihre Bilder, ihre Metaphern, die Suggestivität ihrer Folgerungen, erzeugen einen Handlungsdruck, dem sich der Einzelne nur schwerlich entziehen kann.
Schneider prägt den Begriff der modernen Euthanasie. Er beobachtet in der von ihm untersuchten Literatur, das sich „einflussreiche Diskurse des frühen 20. Jahrhunderts, historische Umbrüche, die NS-Vernichtungspolitik, der Versuch ihrer Bewältigung und das heute dominante liberale Subjektverständnis kreuzen“. Die Stärke seines Zugangs liegt in seiner Breite wie seiner theoretischen Fundierung. Von den Anfängen der so genannten Sozialhygiene zu Beginn des letzten Jahrhunderts über die Massenmordpraxis im Nationalsozialismus bis zu den heutigen Vorstellungen vom „guten“ Leben ohne Behinderung, Krankheit und Abhängigkeit – ohne jedoch die Monstrosität der NS-Vernichtungspolitik in Abrede zu stellen – spürt Schneider der Energie und Emphase nach, die in diesem Diskurs liegt. Seine Kritik an der gängigen Definition der NS-„Euthanasie“ – dass sie mit dem, was historisch davor und danach passiert ist, nichts zu tun habe – zielt darauf ab, sich die Begründung genauer anzuschauen, warum immer wieder Versuche unternommen werden, Leben, das nicht lebenswert sei, zu definieren. Zwischen den Grundlagentexten der letzten hundert Jahre besteht, wie sich bei genauem Hinsehen zeigt, gar kein so großer Unterschied.
Besonders ist zudem auch der methodische Zugriff Schneiders: „Die Überwältigungsrhetorik samt ihrer typischen Argumentationsfiguren muss als Text angegangen werden, um über die Nähe zum sprachlichen Material eine Distanz zu ihren Effekten zu erzeugen“. Ohne Verständnis für die Kraft der Metaphern, die Suggestivität der Folgerungen und Affektivität der Bilder in den Diskursen über das Leben und was es lebenswert macht – oder auch nicht – gelingt die Durchdringung des Materials nicht.
Eine der zentralen These Schneiders, die einer genauen und umfangreichen historischen Rekonstruktion der Euthanasiedebatte entspringt, ist, dass das selbstbestimmte Verlangen nach dem Tod und die Verfügung über Nichteinwilligungsfähige argumentativ eng beieinander liegen. Schneider beschäftigt sich mit der programmatischen Euthanasieschrift von Karl Binding und Alfred Hoche, die schon 1920 die zentralen Argumente der Eugeniker zusammenfasst und zugleich den Übergang zur NS-Vernichtungspolitik darstellt. Zentrales Argument ist damals wie heute die Biologisierung des Sozialen: Es ist viel von der Verantwortung in Kenntnis der eigenen Erbanlagen, individuellen Risiken und Autonomie die Rede, aber wenig davon, dass der Umgang mit Krankheit und Behinderung gesellschaftlich geformt ist und Leid gerade auch durch Ausgrenzung und Zuschreibung entsteht. Das bürgerliche Subjekt muss sich der Angriffe auf seine letztlich brüchige Autonomie erwehren, damit sein Selbstbild nicht vollends zerfällt.
Die heutige Abgrenzung zur NS-Euthanasie versucht eine Tradition zu konstituieren, die es nie gegeben hat: „eine rechtlich geregelte, von souveränen Staatsbürgern anzufordernde Sterbehilfe, ohne jeden bevölkerungspolitischen Einschlag und ohne vorausgegangenes Werturteil.“ Schneider legt den Widerspruch der Sterbehilfedebatte offen. Zum einen wird immer wieder betont, dass jeder eine persönliche Entscheidung treffe, aber gleichzeitig suchen die Akteure dieser Debatte – die „Wohltäter-Mafia“, wie das die Krüppelbewegung einmal nannte – immer wieder nach Kriterien, nach denen bestimmt werden soll, was lebensunwertes Leben sei.
Der Text zeichnet sich dadurch aus, dass er zugleich eine historische Rekonstruktion der Euthanasie-Begründung liefert und durch seine Zuspitzung auf heutige Verhältnisse in aktuelle politische Debatten interveniert. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch einer überfälligen kritischen Auseinandersetzung mit der Neo-Eugenik neuen Antrieb verschafft.

Gottfried Oy (Frankfurt(M)

Christoph Schneider: Das Subjekt der Euthanasie. Transformationen einer tödlichen Praxis. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2011 (244 Seiten, 29,90 Euro).