Nachricht | GK Geschichte Im Zweifel für den Zweifel?

Eine Montage zu den Möglichkeiten linker Geschichtspolitik - vom AutorInnenkollektiv Loukanikos

"Die Sphäre von Mythos und Geschichte kann als Sphäre gesellschaftlich-politischer Kämpfe, als Politik selbst verstanden werden", heißt es in dem Buch »Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation«. Der Sammelband fragt nach der "Funktionalisierung der Vergangenheit für die Politik der Gegenwart."

Ausgangspunkt ist eine Kritik der aktuellen Konjunktur des Begriffs der »Erinnerung«, der die Vorstellung eines unmittelbaren und authentischen Bezugs auf Vergangenheit suggeriert. Die Einzelbeiträge analysieren verschiedene mythisierende Zugriffe auf ausgewählte Aspekte deutscher und spanischer Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie deren Einbettung in die jeweiligen nationalen Erzählungen. (Diese vier Einzelbeiträge behandeln die spanische „Erinnerungsbewegung“, den Dresden-Mythos, den Gründungsmythos „Soziale Marktwirtschaft“ und den Blick der 'Berliner Republik' auf die DDR. Eine detailliertere Inhaltsangabe der Einzelbeiträge findet sich am Ende dieses Artikels.)
http://www.dampfboot-verlag.de/buecher/897-0.html

Den AutorInnen geht es dabei nicht zuletzt um die Kritik am Mythos, bestenfalls um dessen Dekonstruktion. Ein weites Feld, wie im letzten Kapitel des Buches deutlich wird. Statt eines Schlusswortes endet es mit einer »offenen Montage«. Schlaglichtartig wechseln hier die verschiedenen Sichtweisen, die hier in einer stark gekürzten Version wiedergeben wird.

Das Schlusskapitel kann unten komplett als PDF heruntergeladen werden.

„Wenn man davon ausgeht: es gibt eine hegemoniale Erzählung und diese ist mythisch. Und dann gibt es eine Gegenerzählung. Ist die automatisch nichtmythisch? Was macht sie den als hegemonial kritisierten Erzählungen strukturell ähnlich und wie vermeidet man so eine Ähnlichkeit? Kommen wir dann nicht zu diesem postmodernen Schnickschnack von vielen kleinen Erzählungen, die dann aber nichts mehr aussagen?“

Es herrscht in der Linken die Annahme vor, dass die Vergangenheit im herrschenden Diskurs nach Maßgabe der politischen Eliten ausgeblendet wird und deswegen ausgegraben und dem Mythos entgegengehalten werden muss. Es stellt sich hier das Problem 1: Die Gefahr der Instrumentalisierung und Homogenisierung von Vergangenheit durch die Konstruktion einer linken »Gegen-Tradition«. Außerdem gibt es Problem 2: Die Einordnung des von linker Seite Ausgegrabenen ins »Kontinuum« (Walter Benjamin), d.h. hier in die herrschende Sicht auf die Geschichte.

„Ein wichtiger Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist die Figur der Basiserzählung.In einem spezifischen nationalen Kontext werden einzelne Versatzstücke miteinander verknüpft – und die Basiserzählung ist die gemeinsame Klammer dafür. Sie ist eine flexible Struktur, die zwar gewisse dominierende Grundlinien hat, in die aber zugleich auftauchende Widersprüche wieder integriert werden können.“

„Eine Erkenntnis, die man auf jede Gegenwart übertragen kann, ist: dass es sich lohnt zu kämpfen. Wenn es keine Bewegung gegeben hätte in Dresden, dann wäre wahrscheinlich das Geschichtsbild heute immer noch so wie vor zehn Jahren. Oder noch schlimmer. Ich würde sagen: Es ist immer besser, es zu versuchen, als es sein zu lassen.“

„Es geht nicht gar so sehr um die Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart, sondern um die Verortung in der Gegenwart, darum, sich immer auf gegenwärtige Verhältnisse und Kämpfe zu beziehen. Geschichte wird in der Gegenwart gemacht, Antworten lassen sich nur in der Gegenwart finden.“

„Spannend wird es in dem Moment, wo du irgendwie eine ähnliche Struktur hast, auf die du dich beziehst in der Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die mit der Gegenwart nichts zu tun hat, außer, dass sie irgendwie schon länger her ist – das ist ja langweilig. Und dieses Beispiel bei Benjamin mit den Jakobinern – das Aufregende an der Geschichte der Französischen Revolution ist ja, aus einer marxistischen Geschichtsperspektive heraus, dass sich da bestimmte Klassenfraktionen das erste Mal offen konstituiert haben – das ist schon eine Art von struktureller Kontinuität einer sich entwickelnden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die bei allen Veränderungen, die sie durchgemacht hat, immer auch eine Gemeinsamkeit haben muss. Was sind die Strukturen, die es damals gab, die es heute auch gibt.“

„Dazu fällt mir Chakrabarty ein: Sein Vorschlag ist, Vergangenheit und Gegenwart eben nicht en bloc zu diskutieren. Also nicht die Entität Gegenwart in ein Verhältnis zu setzen zur Entität Vergangenheit, sondern eher die Verwobenheit zu betonen, auch von Möglichkeiten in der Gegenwart mit den Möglichkeiten in der Vergangenheit. Er verweist damit auf eine Heterogenität von sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart, die sich immer jeweilig entsprechen.“

„Wenn man sagt, es wird keine Gegenerzählung entwickelt, sondern störende Momente dem Kontinuum entgegengehalten, ist die Frage: Wie behalten diese Fragmente ihre politische Sprengkraft? Sind sie »stark« genug, um gegen ein scheinbar konsistentes herrschendes Geschichtsbild anzustinken? Und ist das nicht eigentlich postmoderner Scheiß, die sogenannten kleinen Erzählungen?“

„Ich würde Gegenerzählung eher als eine Meta-Erzählung verstehen. Wenn man z.B. sagt, die Klassenkämpfe in der Bi-Zone nach 1945 waren Teil der überall noch lebendigen westeuropäischen Arbeiterklasse und des Strebens nach Selbstbestimmung und Kommunismus ... Das wäre eine mythisierende Gegenerzählung, die das integriert in eine starke, vom einzelnen Ereignis abstrahierende Erzählung. Etwas »dem Kontinuum entgegen halten« würde bedeuten, geschichtliche Momente zu erforschen und sie so darzustellen, dass sie der Haupterzählung widersprechen. Und das wäre ja in dem Fall: es gab Proteste, es gab Widerstand.“

„Wenn ich erstmal nur auf der Ebene von Erzählungen bleibe, dann machen diese dekonstruktivistischen Ansätze Sinn: alles auseinander pflücken, möglichst viel Distanz wahren, keine linearen Erzählungen, die Abhängigkeiten herstellen, sondern alles hat seinen eigenen Raum und kann darin so mikromäßig herumfloaten als geschichtliches Ereignis. Man versucht, sich immer selbst zu kritisieren und möglichst keine große Erzählung herzustellen. Und dann aber sitze ich im Kolloquium und es werden zwei Doktorarbeiten vorgestellt von Leuten, die akademisch in so einem antiideologischen Kontext sozialisiert sind und Mikrogeschichte machen. Da geht es um einzelne Leute und einzelne Handlungsräume in einzelnen Situationen – also apolitisch, heruntergebrochen, »das war eine Person in einem bestimmten Machtverhältnis und die konnte das und das erwarten«. Dann wird gefragt: Was ist denn das Spezifische? Und es gibt keine Antwort, weil sie sich in diesem Mikroding total verloren haben. Sie haben keinen Begriff mehr davon, was da eigentlich passiert und warum es dort passiert und woanders nicht. Das will ich auch nicht. Also nicht irgendwelche kleinen Sachen beschreiben, denen man irgendwie gerecht wird, ethisch, moralisch, aber im Grunde genommen macht man nicht mehr als ein Archiv. Politisch hat das keinen Nutzwert, und auch erkenntnismäßig nicht. Wenn ich die Welt verstehen will, dann bringt mir das gar nichts.“

„Ich denke was man immer im Kopf haben muss, wenn man sich mit dem Mythos beschäftigt oder ihm etwas Störendes entgegen setzen will, ist seine Bildhaftigkeit. Solche mythischen Bilder oder Symbole haben eine große Macht und Wirkung. Sie synthetisieren, was man in einer nüchternen Denkweise so gar nicht zusammenbringen kann. Das heißt, wenn man gegen den Mythos arbeiten will, dann bekämpft man auch immer die Macht des Symbols. Und das ist eben auch ein großes Problem bei der Mythos-Kritik, da hat man es immer auch mit diesem sehr wirkmächtigen, bildhaften Element zu tun.“

„Was ich wichtig finde ist, dass wir uns hier nicht festbeißen an Mythen als bloße schlagwortartige Einzelerzählungen à la Hitler und Autobahn, sondern auch den Begriff von Mythos als einer Grundstruktur im Kopf haben – als naturalisierende Wahrnehmung von Gesellschaft und Geschichte. Die dann darauf hinausläuft: So wie Geschichte verlaufen ist, hat sie verlaufen müssen. Und so, wie die Gegenwart ist, muss sie sein. Das ist eine grundlegende Auffassung, die erstmal gar nicht so schillernd-mythisch auftritt, die aber vielleicht gerade deshalb viel schwieriger zu hinterfragen und zu destabilisieren ist. Also genau diese scheinbar naturhafte Linearität, diese sinnhafte Anordnung von Vergangenheit und Gegenwart, vor der die abgebrochenen Momente verblassen.“

„Die Frage wäre dann ja: Was genau bekämpfe ich? Kann ich überhaupt die einzelne mythische Kampagne bekämpfen, wenn diese grundlegende Auffassung noch steht, also wenn die im Alltagsverstand noch wirkmächtig ist? Kann ich das, kann ich das nicht? Weil ich notwendig verlieren muss, solange diese Grundauffassung im Hintergrund wabert? Und solange die nationale Basiserzählung noch intakt ist?“

„Es gibt immer diese zwei Perspektiven, nämlich zum einen die Perspektive des politischen Aktivisten, der eine bessere Gesellschaftsordnung anstrebt und die bestehende kritisiert, und die des Historikers. Häufig dient Geschichte ja politischen AktivistInnen oder sozialen Bewegungen als Ressource, um sich in sozialen, politischen Konflikten zu verorten, Argumentationspotenzial zu haben gegenüber dem politischen Gegner und um sich zu identifizieren.“

„Mein Interesse wäre, eine Geschichtspolitik zu entwickeln, die nicht nur nicht-mythisch ist, sondern eben auch emanzipatorisch in dem Sinne, dass man miteinander redet und nicht jemanden zuschwallert. Also nicht: Nimm jetzt hier meinen Mythos an, guck mal hier, stimmt doch alles. Sondern, dass man sich selbst verständigt: Ok, auch in der Geschichte hat es immer menschliche Unzulänglichkeiten gegeben und die müssen wir aufnehmen, weil wir eine menschliche Gesellschaft wollen, die eben auch solche Unzulänglichkeiten sowohl in Vergangenheit als auch in der Gegenwart mit einbezieht.“

„Viele Leute identifizieren gerade als Problem der Linken, dass es keine Gegenerzählung gibt. Das ist eine strategische Frage: Können wir uns als hybride Subjekte begreifen und trotzdem kämpfen? Oder geht das gar nicht? Müssen wir uns nicht irgendwie auf eine kollektive Identität, die mythische Züge tragen mag, einlassen, wenn wir überhaupt in Auseinandersetzungen gehen wollen?“

„Ich frage mich, ob ein Schreiben ohne Mythos eigentlich geht. Oder das Auslassen von Mythos überhaupt – also ob man sich dafür tatsächlich entscheiden kann. Denn das ist ja eine Frage von Objektivität: entweder ich mache das oder ich mache das nicht. Aber ich glaube, tatsächlich bewegt man sich immer dazwischen. Oder vielleicht sogar eher zu der Seite hin: Es geht nicht wirklich ohne Mythos, weil du immer dein Bild dazu im Kopf hast.“
„Kann man tatsächlich Geschichte von unten aufrollen? Mit Benjamin ließe sich sagen: Das, was die bürgerliche Geschichtsschreibung auszeichnet, ist unter anderem eine Linearität. Und die von unten aufzurollen, wäre doch auch eine Linearität. Oder es wäre dann nicht Geschichte. Geschichte kann ja nicht erzählt werden im Sinne von: Leute haben ihr Leben gelebt und sind zur Arbeit gegangen. Oder die hatten einen Bauernhof. Und dann hatten sie eine Tante und irgendwann sind sie tot. Das ist ja nicht Geschichte. Und dann stellt sich die Frage: Ist Geschichte nicht immer eine Linearisierung? Was erzählt man denn dann, wenn man es nicht linear erzählen will?“

„Mir stellt sich die Frage, wo das dann endet mit den ganzen Mikrogeschichten und Mikroperspektiven. Am Ende steht die Frage: So what? Wenn man keine größeren Bezüge mehr herstellt, weil das dann vielleicht mythisierend wäre und man das nicht einordnen will in einen sinnhaften Zusammenhang – erscheint das dann vielleicht nicht alles irgendwann total irrelevant? Weil es einem nicht dabei hilft, sich einen Begriff von der Welt zu machen oder sich politisch damit auseinanderzusetzen.“

"In der Lösung des Rätsels, das die politische Situation der Gegenwart stellt, kommen die Fragen nach dem Zustand der Gegenwart und die Fragen nach dem Zustand der Vergangenheit zusammen: das »Jetzt der Erkennbarkeit«. Es ist nur diese Konfrontation, die geschichtspolitisch Sinn macht, eine, die weder das Heute als geschichtsloses Ding begreift, noch der Geschichte andichtet, sie könne Antworten bieten, wenn sie allein auf weiter Flur ist.

Der Beitrag ist in dieser Form zuerst erschienen in der „analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis“, #570.

Der Text ist ein stark gekürzter Vorabdruck aus:
Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen, Till Sträter (Hg.): Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation. Westfälisches Dampfboot, Münster 2012. 200 Seiten, 19,90 EUR.

Zu den Einzelbeiträgen des Sammelbands:

Henning Fischer analysiert in seinem Beitrag „Dresden und Deutschland: Zweierlei Mythos. Zum Mythos Dresden als Teil der deutschen Geschichte“ die politische Erinnerung an die alliierten Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945 und untersucht, inwieweit Nation und nationale Identität die Gestalt der Erinnerung an die Luftangriffe prägten. In der lokal-subjektiven und politisch-institutionellen Erinnerung wurde und wird, so die These, aus einer überaus schrecklichen Episode des Zweiten Weltkriegs ein singuläres Ereignis gemacht, das als Material für die Neubestimmung nationaler Identität nutzbar ist und damit die Vergegenwärtigung der Geschichte in die Traditionsstiftung der Nation verwandelt. Fischer geht auf methodischer Ebene der Frage nach, ob die vielzitierte „kollektive“ Erinnerung nicht als authentische, individuelle oder generationelle Rückerinnerung, sondern vielmehr als politisches Phänomen der nationalen Sinnstiftung qualifiziert werden sollte.
Der Aufsatz skizziert die Geschichte Dresdens im Nationalsozialismus – darunter insbesondere das „Judenlager Hellerberg“ – und die militärische sowie infrastrukturelle Bedeutung der Stadt im Februar 1945. Vor diesem Hintergrund werden die Mythen um Dresden und die Luftangriffe nachgezeichnet, wie sie in DDR, BRD und Berliner Republik im jeweiligen politischen Kontext aufbewahrt und politisch verwendet wurden. Es wird deutlich, dass die Erzählung der Geschehnisse vom 13. Februar 1945 und ihre Bedeutung stets Gegenstand nationaler Ideologie und Politik waren – ob nun als Anklage des US-amerikanischen Imperialismus in der DDR, als memorialer Sichtschutz gegen Auschwitz in der BRD oder – in der Berliner Republik – als Baustein in der Umdeutung des 20. Jahrhunderts zur unterschiedslos totalitären Schreckenszeit.
Mit den Begriffen von Einfühlung und Eingedenken, dem Werk Walter Benjamins entlehnt, zeigt Fischer dann, wie die einfühlende Aneignung von Vergangenheit, die unter dem Label „Erinnerung“ firmiert, in der Regel von der national(istisch)en Normalität der Gegenwart ausgeht und sich die Vergangenheit nach ihrem Bilde formt. Unter diesem Gesichtspunkt werden auch die jüngsten Wandlungen der Dresdner „Erinnerung“ untersucht, die in letzten Jahren Gegenstand einer Art nachholender Gedenkmodernisierung gewesen ist.
Till Sträter beschäftigt sich in seinem Beitrag „'Gegen die Straflosigkeit des Franquismus!' – Die 'Erinnerungsbewegung' in Spanien und die Mythen der Transición“ mit der Aufarbeitung der Vergangenheit von Bürgerkrieg und Franco-Diktatur in Spanien. Forderungen nach Vergangenheitsaufarbeitung sind in Spanien ein relativ junges Phänomen: Auch Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur Mitte der 1970er Jahre und der sogenannten Transición, dem spanischen Übergang zur parlamentarischen Demokratie, bestand noch die Übereinkunft, dass die Vergangenheit aus öffentlichen Debatten herauszuhalten sei. Der ungeschriebene „Pakt des Schweigens“ („pacto del silencio“) galt lange Zeit als Preis des Demokratisierungsprozesses. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends und damit gut dreißig Jahre nach dem Ende der Diktatur drängten Forderungen nach Aufarbeitung verstärkt an die Öffentlichkeit. Dabei stand in den vergangenen Jahren das so genannte „Erinnerungsgesetz“, das Ende 2007 von der sozialdemokratischen Zapatero-Regierung verabschiedet wurde, im Fokus kontroverser öffentlicher Debatten. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen stellt die Suspendierung des international bekannten Ermittlungsrichters Balthasar Garzón im Mai 2010 dar, der als einer der ersten spanischen Juristen begonnen hatte, Ermittlungen zu den unter General Franco in der Zeit von 1936/1939 bis 1977 begangenen Menschenrechtsverletzungen einzuleiten.
Als wesentlichen Auslöser für die öffentlichen Diskussionen betrachtet Sträter das Entstehen einer heterogenen zivilgesellschaftlichen Bewegung Anfang des Jahres 2000, die sich Forderungen nach justizieller Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der Diktatur sowie nach Aufklärung über die im Bürgerkrieg Verschwundenen zu Eigen machte. Bemerkenswert ist, dass diese Bewegung dabei in Koalition mit Menschenrechtsorganisationen auf transnationale Menschenrechtsdiskurse und internationale Rechtsprechung rekurriert und damit ihren Forderungen nach Aufklärung zusätzliche Legitimität verleiht. Die Bewegung tritt als geschichtspolitischer Akteur auf den Plan, indem sie die Perspektive der Opfer von Diktatur und Bürgerkrieg in die Öffentlichkeit trägt. Die mythisierende Erzählung der Transición als eines nationalen Versöhnungsprozesses wird mit einer Gegenerzählung konfrontiert. Mit diesem Aufbrechen des „Pakts des Schweigens“ wird somit der Gründungsmythos der spanischen Demokratie in Frage gestellt.
Uwe Fuhrmann beschreibt in seinem Aufsatz „Stuttgart48 und die Soziale Marktwirtschaft. Von ignorierten Protesten und dem Ursprung einer Basiserzählung“ die Situation in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft im Jahr 1948. Die Einführung der Deutschen Mark im Zuge der Währungsreform am 20. Juni stellte einen ordnungspolitischen Bruch dar. Die darauf folgenden monatelangen Proteste breiter Bevölkerungsschichten richteten sich gegen die dadurch ausgelösten enormen Preissteigerungen und die Re-Etablierung des Kapitalismus nach der Interimsphase 1945-1948.
Zwei Ereignisse fallen bei diesen Protesten besonders auf: Zum einen die "Stuttgarter Vorfälle" – Ausschreitungen nach einer Gewerkschaftskundgebung gegen Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik Ende Oktober 1948, die einen martialischen Einsatz von US-amerikanischen und deutschen Sicherheitskräften nach sich zogen und breiten medialen Widerhall fanden. Zum zweiten fand am 12. November 1948 der vorerst letzte deutsche Generalstreik statt, an dem sich neun Millionen lohnabhängig Beschäftigte beteiligten und der von den „Stuttgarter Vorfällen“ beeinflusst wurde. Die Protestbewegung als solches und diese beiden Ereignisse im besonderen werden untersucht und inventarisiert.
An diesen Protesten, so Fuhrmann, scheiterte der Versuch, in Westdeutschland das weltweit erste neoliberale Wirtschaftsmodell einzuführen. Dieses Scheitern – und nicht die Absicht Ludwig Erhards – ist als Initialzündung dessen zu betrachten, was heute „Soziale Marktwirtschaft“ genannt wird. Fuhrmann versteht diese Bezeichnung und die damit verbundene Praxis als einen (erfolgreichen) Versuch, dem Kapitalismus das Überleben trotz der Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel (z.B. durch die oben erwähnte Proteste) zu ermöglichen.
In der bundesrepublikanischen Gesellschaft, in der die Trägermilieus widerständiger Erinnerung abhanden gekommen sind, setzt heute der diffuse Alltagsverstand die „Soziale Marktwirtschaft“ mit Ludwig Erhard und seinem marktliberalen Programm gleich und hat die Gründungsproteste vergessen. Dieser Alltagsverstand ist Ausdruck einer äußerst erfolgreichen nationalen Integration der Ausgebeuteten, die sich historisch vor allem auf das Wirtschaftswunder stützen konnte. Die diesem Gesellschaftsbild und seiner integrativen Kraft zugrunde liegende Basiserzählung „Soziale Marktwirtschaft“ wird durch die Ausführungen über deren Entstehungszusammenhänge ernsthaft in Frage gestellt.
Jana König und Elisabeth Steffen untersuchen in ihrem Aufsatz „Das Ende der Geschichte? Die Einordnung von DDR und 'Wiedervereinigung' in das postsozialistische Kontinuum der Nation“ die gesellschaftlich hegemoniale Darstellung der DDR und der 'Wiedervereinigung' im heutigen Deutschland. Die Autorinnen analysieren die Genese der damit einhergehenden geschichtspolitischen Mythen von den frühen 1990er Jahren bis heute und arbeiten Transformationen und Kontinuitäten innerhalb der hegemonialen Diskurse heraus. Der Palast der Republik und der 'Domino-Day' am Brandenburger Tor zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls dienen als Beispiele dafür, wie an Hand von materiellen, diskursiven und performativen Gegenständen Geschichte re-konstruiert und in den nationalen Alltagsverstand eingeschrieben wird.
Walter Benjamins Thesen 'Über den Begriff der Geschichte' werden dabei für eine kritische Betrachtung der Gegenwart aktualisiert: Sie dienen dazu, aufzuzeigen, wie in Folge der Ereignisse des Jahres 1989 die Losung vom 'Ende der Geschichte' ihren Siegeszug antritt und wie in diesem Zusammenhang die liberale, kapitalistische Gesellschaftsordnung schließlich als einzig denkbarer und unausweichlicher Zielpunkt erscheint. Der Realsozialismus wird in dieser Darstellung als 'Irrweg' oder 'Umweg' im linearen Lauf der Geschichte präsentiert; die 'Wiedervereinigung' als Ausdruck seines zwangsläufigen Endes. Hier wird, so die Analyse von König und Steffen, ein Mythos produziert, der die DDR in anti-totalitaristischer Manier als negative Abgrenzungsfolie für das heutige Deutschland heranzieht und die 'Wiedervereinigung' als Symbol einer nationalen Erfolgsgeschichte konstruiert. Diesem verdinglichenden Umgang mit Geschichte stellen König und Steffen den Versuch entgegen, Geschichte im Sinne Walter Benjamins 'gegen den Strich zu bürsten': Ein Rückblick auf die sozialistische Kritik an der DDR im Rahmen einer Versammlung im Deutschen Theater im Oktober 1989 bringt verschüttete Momente der Vergangenheit ans Licht, die im Widerspruch zu den dominierenden Deutungslinien über DDR und 'Wiedervereinigung' stehen.