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Verankerung der flämischen Nationalisten, Durchbruch der radikalen Linken

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Die belgischen Gemeinde- und Provinzialwahlen bieten den Parteien und politischen Persönlichkeiten regelmäßig Anlass, die Kräfteverhältnisse und ihre Popularität zu messen, ohne dass dadurch das politische Geschehen auf Landesebene größeren Schaden nimmt. Die Wahlen vom 14. Oktober 2012 haben jedoch Auswirkungen, die über den kommunalen Charakter hinausgehen. Davon zeugen insbesondere der Triumph der flämischen Nationalisten der N-VA in Flandern und die Wahl zahlreicher Gemeinderäte der radikalen Linken.

Ein Rückblick auf die belgischen Besonderheiten

Das belgische Wahlsystem

Verglichen mit seinem föderalen Modell, das zu den weltweit kompliziertesten gehört[1], verfügt Belgien über ein relativ einfach funktionierendes Kommunalwahlsystem. Die alle sechs Jahre stattfindenden Gemeindewahlen werden genauso wie die nationalen und regionalen Wahlen gemäß dem Verhältniswahlrecht mit Vorzugsstimmen durchgeführt. Parallel zu den Gemeindewahlen finden die Wahlen der 10 Provinzialräte[2], ebenfalls nach dem Verhältniswahlrecht, statt. Die Provinzialräte sind nur mit geringen Befugnissen ausgestattet, aber die Wahlkreise entsprechen denen der Parlamentswahlen und bieten sich daher für Vergleiche an. Genauso wie bei den anderen Wahlen gilt auch hier die Wahlpflicht. Seit 2003 steht Ausländern, die seit 5 Jahren in Belgien wohnen, das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen zu.

Es ist ein im steten Wandel begriffenes „Konkordanzmodell“.

Seit der Entstehung des Landes hat die belgische Gesellschaft tiefe Spaltungen erlebt, die sich gehäuft haben: auf die laizistisch-religiöse Spaltung, welche die Zensusbourgeoisie entzweite, folgte mit der industriellen Revolution die Diskrepanz zwischen Arbeitern und Besitzenden, dann das Auseinanderdriften von Niederländischsprechenden (60 % der Bevölkerung) und Französischsprechenden. Aus diesen tiefen Teilungen entstand eine gesellschaftliche Organisation in „Säulen“, durch die das Gesellschaftssystem (Unterrichtswesen, Gewerkschaften usw.) um die drei politischen Familien – den Katholiken, den Liberalen und den Sozialisten – organisiert wurde. Dieses einer Mitbestimmung durch die Bürger wenig zuträgliche Konkordanzmodell[3] führt dazu, dass das System von sich gegenseitig tragenden Eliten gelenkt wird, die bei der Lösung der großen gesellschaftlichen Konflikte in Phasen der Krise und Instabilität zusammenarbeiten. Die derzeitige Regierung, in der die drei traditionellen politischen Familien vereint sind, um den sechsten großen Transfer von Zuständigkeiten auf die föderierten Körperschaften (die „Staatsreformen“) zu verwirklichen, ist ein Ausdruck dessen.

Ein Land, zwei öffentliche Meinungen

Schließlich funktioniert Belgien mit zwei verschiedenen öffentlichen Meinungen (die niederländischsprachige in Flandern und die französischsprachige in Wallonien und Brüssel), die kaum miteinander interagieren. Die drastische Vertiefung der Kluft zwischen den Gemeinschaften führte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Spaltung der traditionellen Parteien auf sprachlicher Grundlage. Die später gegründeten Formationen entstanden ebenfalls auf Basis der Gemeinschaften, auch in den Fällen, in denen diese Kluft kaum als Argument ausreichte, um die Gründung einer Partei zu erklären (z. B. Grüne/Ecolo). Flamen und Französischsprachige, die in ihrer jeweiligen Sprache die Schul- und Berufsbildung erhalten und ihre Nachrichten beziehen, besitzen lediglich rudimentäre Kenntnisse über die gesellschaftlichen Debatten jenseits der Sprachgrenze. Verstärkt wird diese Trennung dadurch, dass sie bei National-, Regional- und Europawahlen keine Partei der jeweils anderen Gemeinschaft wählen können – außer in der zweisprachigen Region Brüssel.

Hintergrund vor den Wahlen

Der unaufhaltsame Aufstieg des flämischen Nationalismus

Die letzten Jahre waren durch die immer radikaleren Forderungen der Flamen nach stärkerer Autonomie geprägt. Der flämische Nationalismus, der durch den historischen Wunsch nach kultureller und sprachlicher Anerkennung genährt, von den französischsprachigen Eliten aber abgelehnt wird, verwandelte sich in einen Populismus wohlhabender Bürger, die Transferzahlungen nach Wallonien ablehnen[4]. Der aus dem rechten Flügel der 2001 aufgelösten historischen nationalen Partei Volksunie hervorgegangenen N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie – Neu-Flämische Allianz) gelang es, die ablehnende Haltung gegenüber der finanziellen Solidarität mit Wallonien – bis dato hauptsächlich verkörpert durch Vlaams Belang („Flämische Interessen“), eine die Unabhängigkeit Flanderns anstrebende rechtsextreme Partei, die im Norden des Landes bei Wahlen häufig das zweitbeste Ergebnis verbuchte, deren politische Perspektiven aber durch einen „Sicherheitsgürtel“, den alle demokratischen Parteien um sie bildeten, verwehrt wurden – mit der liberalen und sozialkonservativen Verankerung Flanderns, die durch Open VLD („Flämische Liberale und Demokraten“) vertreten wird, zu vereinen. Bei den vorgezogenen nationalen Parlamentswahlen vom Juni 2010 errang die N-VA 27 Sitze (von 150)[5] – ein beispielloser Erfolg für eine Partei, die keiner der drei historischen politischen Säulen angehört. In der französischsprachigen Bevölkerung setzte sich die PS (Sozialistische Partei) durch, die 26 Sitze auf sich vereinigte.

Eine „marxistische“ und antisoziale Regierung?

Nach eineinhalb Jahren intensiver Verhandlungen – ein Weltrekord – wurde am 5. Dezember 2011 mit Mühe und Not eine Regierungskoalition aus der Taufe gehoben, in der sich die politischen Familien der Liberalen, Christdemokraten und Sozialisten mit Elio Di Rupo (PS) an der Spitze wiederfanden. Trotz der breiten Mehrheit (93 Abgeordnete) hat diese Regierung, die Nationalisten, Vlaams Belang und Ecolo in die Opposition verbannt, keine Mehrheit in der flämischen Bevölkerung. Dies bot den idealen Angriffswinkel für die N-VA und ihren Vorsitzenden, Bart De Wever, der oft auf die mangelnde Repräsentativität der föderalen Regierung hinweist. 

Die Koalitionsregierung sieht sich seit ihrem Amtsantritt Angriffen von rechts durch die N-VA und den Arbeitgebern, die mehr Reformen neoliberaler Art fordern, ausgesetzt. Ein sehr einflussreicher Arbeitgeber zögerte daher nicht, die Regierung „kollektivistischer Entgleisungen einer marxistischen Regierung“ zu bezichtigen, wobei er auf die Kritik der N-VA an einer als zu stark an der Mitte ausgerichteten Politik anspielte, wo sich doch 70 % der Flamen für Rechtsformationen aussprachen[6]

Im Gegensatz dazu zeigen sich die Arbeitnehmer und Gewerkschaften gegenüber der derzeitigen Regierung besonders abgeneigt. Obwohl diese von einem Sozialisten angeführt wird, hat sie mehrere soziale Festungen niedergerissen, insbesondere durch die Erhöhung des Frühverrentungsalters und die Einführung degressiver Arbeitslosengelder. Ein weiterer Vorwurf an die Regierung besteht darin, dass sie versucht, das Haushaltsdefizit durch Ausgabenkürzungen statt durch höhere Einnahmen abzubauen, und es dabei vermeidet, die geringe Besteuerung von Kapital sowie die Steuerbefreiungsmechanismen zu überdenken, aufgrund deren 2011 die 50 größten Unternehmen des Landes nur 0,57 % ihrer Gewinne versteuern mussten (statt mit dem offiziellen Steuersatz von 33,99 %)[7].

In Flandern haben die lokalen Probleme landesweite Bedeutung

Der Wahlkampf 2012 fand daher in einem angespannten sozialen und politischen Klima statt. Auf flämischer Seite richteten sich die Blicke hauptsächlich auf die Metropole Antwerpen, die sowohl eine sozialistische Bastion als auch eine Hochburg von Vlaams Belang ist. So stand der scheidende Bürgermeister Patrick Janssens Bart De Wever gegenüber, der die größte Stadt Flandern wählte, um die Verankerung seiner Partei, die bisher nur über eine geringe Zahl kommunaler Volksvertreter verfügte, weiter zu festigen. Die Tatsache, dass der nationalistische Parteivorsitzende seinen Willen bekundete, das Bürgermeisteramt als Sprungbrett für die Nationalwahlen 2014 zu nutzen, verlieh diesem Wahlkampf eine Dimension, die weit über den kommunalen Aspekt der Wahl hinausging. Die flämischen Medien versahen daher im Vorfeld der Wahlen die politischen Debatten mit einem entschieden nationalen Tenor, wobei die größte Herausforderung darin lag, die Bedeutung des Siegs der Nationalisten zu kennen und herauszufinden, ob die N-VA die CD&V („Christlich-Demokratisch und Flämisch“), normalerweise die stärkste Partei in Flandern, schlagen würde. Obwohl sich manche übergreifende Themen aufdrängten, wurde der Wahlkampf in Wallonien und in Brüssel hauptsächlich um lokale Fragen geführt, die kaum geeignet waren, die Massen zu begeistern.

Umbruch bei den Linken der Linken

Die Parteien der radikalen Linken, die seit dem Verschwinden der Kommunistischen Partei auf nationaler Ebene in den 1980er-Jahren bei Wahlen notorisch schwache und kaum bemerkenswerte Ergebnisse erzielten, erhofften sich von diesen Wahlen eine neue Existenzberechtigung. Ermutigt durch den Wegfall der Sperrklausel[8]  und die Nähe, die ein solcher Wahlgang bedeutete, zogen manche dieser Formationen voller Zuversicht in den Wahlkampf. Als letzte Einheitspartei des Landes hat die PTB-PVDA (Partei der Arbeit Belgiens), ursprünglich radikal maoistisch und stalinistisch, ihre Ausrichtung und ihr Programm nach ihrem Kongress 2008 geändert, wobei sie für Reformen aufgeschlossener geworden ist und ihre – nach den Worten eines ihrer Verantwortlichen –  „sektiererische und dogmatische Linie[9] offiziell beendet hat (vgl. unten). Als sie bei den letzten Wahlen mit 1,5 % der Stimmen stärkste Partei der radikalen Linken wurde, knüpfte sie zahlreiche Erwartungen an diese Wahl und hoffte auf eine Verbesserung ihrer Leistung von 2006, nach denen sie 17 Abgeordnete stellte. In einem sozial und wirtschaftlich schwierigen Kontext betrieb die Partei in den historischen Arbeiterstädten Antwerpen und Lüttich intensive Arbeit vor Ort.

Die Partei Rood! („Rot!“), die aus einer Spaltung der flämischen sozialistischen Partei hervorging, beteiligte sich zum ersten Mal am Wahlkampf, kandidierte aber angesichts der Ablehnung einer gemeinsamen Liste durch die PTB in mehreren flämischen Kommunen allein. Die von Aktivisten aus Vereinigungen und Gewerkschaften gegründete politische Kooperative Vega („Grüne und links“), die zur Förderung einer linksradikalen politischen Ökologie gegründet wurde, entschied sich, sich ausschließlich in der wallonischen Stadt Lüttich als Konkurrenz zur Liste der PTB, die für Kandidaten der Kommunistischen Partei offen war, aufzustellen. Letztere, die im politischen Leben auf Landesebene nahezu inexistent, aber einziges belgisches Mitglied der Europäischen Linken ist, baute auf die Hoffnung, die wenigen kommunalen Volksvertreter zu retten, die ihr in der Provinz Hennegau noch blieben, indem sie sich im Allgemeinen auf den Listen der PS und Ecolo oder zusammen mit anderen Formationen zur Wahl stellte. Schließlich bewarb sich die Liste „ Gauches Communes“ („Gemeinsame Linke“), in der sich mehrere kleine Parteien der trotzkistischen PSL (Parti Socialiste de Lutte – Sozialistische Kampfpartei) versammelten, in mehreren Brüsseler Gemeinden; sie hatte ihre Kampagne anlässlich einer Versammlung eingeleitet, an der progressive europäische Parteien wie Syriza oder Front de gauche (Linksfront) teilnahmen[10].

Diese Parteien beabsichtigten, an die Verbindungen zwischen der lokalen Politik und den Beschlüssen auf nationaler und europäischer Ebene zu erinnern, und erhofften sich die Mobilisierung der von der Linksregierung enttäuschten Wähler. Die mächtige Parti Socialiste ist nämlich integraler Bestandteil einer Regierung, die einen strikten Sparkurs verfolgt, während sich die Grünen schwer tun, dieser Politik eine alternative Stimme zu geben, indem sie sich zum Beispiel weigern, den europäischen Haushaltsvertrag zu verurteilen.

Die Lehren aus den Wahlen

Bei der Bekanntgabe der ersten Ergebnisse schien die N-VA ihre Wette gewonnen zu haben: Die nationalistische Partei landete in 3 von 5 Provinzen mit 28,5 % der Stimmen[11] und in 48 von 308 Gemeinden an der Spitze. Das beste Ergebnis verbuchte Bart De Wever mit 37,7 % der Stimmen in der Stadt Antwerpen – gegenüber 28,5 % für die Koalition des Bürgermeisters, der Sozialisten und Christdemokraten –, womit er sich das Amt des Bürgermeisters sicherte. In seiner sorgfältig vorbereiteten Rede zögerte der Parteivorsitzende der Nationalisten nicht, die extremistischsten Gruppen seiner Wählerschaft zu umgarnen. So feierte er „den größten Wahlsieg in Flandern seit dem Zweiten Weltkrieg“ – damals hatten die flämischen Nationalisten tatkräftig mit den deutschen Besatzern kollaboriert –  sowie einen „schwarz-gelben Sonntag“ (die Farben Flanderns und der Partei), unter Bezugnahme auf den „Schwarzen Sonntag“, einen für die föderalen Wahlen von 1991 gebräuchlichen Begriff, als die flämischen Rechtsextremen ihren spektakulären Einzug ins Parlament feierten. Erwartungsgemäß nahm er diesen Sieg zum Anlass für entschieden nationale Schlussfolgerungen, in denen er Wallonien aufforderte, „sich auf eine konföderale Reform vorzubereiten[12].

Eine weitere wichtige Tendenz bei den Wahlen ist, dass die PTB unerwartet gut auf Landesebene abschnitt, wobei sie ihr Ergebnis von 2006 mit 52 Gemeinderäten verdreifachen konnte. Die Studie der Wahlgeografie der PTB offenbart bedeutende Ergebnisse in ehemaligen Arbeiterstädten, die traditionelle Hochburgen der Sozialisten waren und daher die Unbeliebtheit der sozialfeindlichen Maßnahmen der Regierung Di Rupo und den mäßigen Erfolg der Strategie belegten, die hauptsächlich von der Linksregierung enttäuschte Wähler trifft. Außer der PTB ist auf das beachtliche Ergebnis der Liste Vega hinzuweisen, der es nach einer Kampagne mit begrenzten Mitteln gelang, einen Abgeordneten zu stellen. Die Kommunistische Partei behält nur einige wenige Abgeordnete; keine andere Formation der radikalen Linken erhielt genügend Stimmen, um einen Sitz zu erringen.

Abgesehen von diesen beiden Phänomenen haben sich die politischen Gleichgewichte seit den Wahlen von 2010 nur unwesentlich verändert. In Flandern landeten die Christdemokraten (mit 21,5 %) auf Rang zwei bei den Provinzialwahlen und konnten den Fortschritten der N-VA besser als erwartet standhalten. Sie bleiben die stärkste Partei auf Gemeindeebene. Die Rechtsextremen befinden sich im Sinkflug (8,9 %, was einer Verschlechterung von 3,5 % entspricht). Sie fielen der Dynamik der Partei von Bart De Wever zum Opfer, die übrigens in den vergangenen Monaten zahlreiche Überläufer von Vlaams Belang aufnahm, darunter manche mit guten Listenpositionen. Den Liberalen gelang es nicht, die bei der letzten Wahl verlorenen Stimmen zurückzugewinnen; ihr Ergebnis stagniert bei 14,6 %. Die SP.A (Socialistische Partij Anders – sozialdemokratische Partei in Flandern) schnitt mit 13,7 % etwas schlechter ab, konnte jedoch in mehreren großen Städten, in denen sie gut aufgestellt ist, ihre Spitzenposition behaupten, während die flämischen Grünen (Groen!) ein Ergebnis von 8,1 % erzielten.

Aus Wallonen ist ebenfalls keine größere Veränderung zu berichten. Die Parti Socialiste verliert 4 % gegenüber ihrem erfolgreichen Wahlergebnis von 2010, konnte aber mit 32 % ihre Spitzenposition behaupten. Die Liberalen von MR (Mouvement Réformateur – Reformbewegung) verbesserten dagegen ihr Ergebnis um 3 Prozent auf 27,7 %, während die Zentrumspartei cdH (centre démocrate Humaniste, ex-chrétiens-démocrates) und die französischsprachigen Grünen von Ecolo ihr Ergebnis auf 17 % bzw. 13,2 % etwas steigern konnten. In Brüssel kamen die FDF (Fédéralistes Démocrates Francophones, eine Mitte-Rechts-Partei), die zur Gründung von MR im Jahr 2002 beitrugen und diese nach den instititutionellen Abkommen vor Bildung der Regierung Di Rupo verlassen hatten, bei den Gemeindewahlen auf 15,6 %. MR und PS verzeichneten einen Rückgang auf 24,1 % bzw. 23,6 %, während sich für Ecolo und cdH das Wahlergebnis mit 14,1 % bzw. 12,2% kaum veränderte.

Schließlich ist auf die sinkende Wahlbeteiligung hinzuweisen, einschließlich des Anteils von Nichtwählern[13] von 18 % in Wallonien und 22 % in Brüssel, während in Flandern jeder siebte Stimmzettel ungültig war[14]. Auch wenn die „Partei der Nichtwähler“ nicht – wie sooft in den westlichen Ländern – an erster Stelle liegt, sollte eine solche Enthaltung in diesem Land, das aufgrund der allgemeinen Wahlpflicht in der Regel mehr als 90 % der Wähler mobilisiert, Fragen aufwerfen. Die Erklärungen der Ministerin der Justiz, wonach die Nichtwähler nicht gerichtlich belangt würden, trugen möglicherweise zu dieser relativ geringen Wahlbeteiligung bei. Sie zeugt außerdem vom geringen Interesse, das eine Wahl mit begrenzter Reichweite weckt, deren Herausforderungen oft schon im Vorfeld durch Vereinbarungen zwischen Parteien geregelt werden. Diese Demobilisierung könnte auch durch die soziale Ausgrenzung bedingt sein, wie aus der starken Wahlenthaltung in benachteiligten städtischen Gemeinden mit hoher Arbeitslosenquote hervorgeht[15].

Was sind die politischen Folgen?         

Jede Analyse dieser Wahlergebnisse ist mit Vorsicht zu genießen. Sogar in Flandern, wo die landesweite Bedeutung des Ergebnisses am offensichtlichsten war, spielte die lokale Komponente eine maßgebliche Rolle; dies wird anhand der völlig unterschiedlichen Ergebnisse bei den Gemeinde- und Provinzialwahlen deutlich. Zahlreiche Listen wurden unter einem Namen eingereicht, der keinen Aufschluss darüber gab, welcher Partei sie am nächsten standen, was nicht gerade zum allgemeinen Verständnis der Politik beiträgt und die rein lokale Dimension der Wahl verstärkt. Das gute Abschneiden der FDF mit ihrer festen Verankerung in der Hauptstadt ist vor allem auf die Popularität ihrer Bürgermeister zurückzuführen. Daher sollte ein Wahlgang nicht überbewertet werden, der sich, auch wenn er eine Vielzahl von regionalen, nationalen und sogar europäischen Fragen betrifft, oft um Probleme drehte, die sich nicht über die Grenzen der Gemeinden hinaus ausdehnen.

Die föderale Ebene unter dem Druck der Nationalisten

Lässt man diese Vorsicht walten, so gilt als sicher, dass sich die Wahlergebnisse vom 14. Oktober auf das ganze Land auswirken werden. Der Sieg der N-VA in Flandern bestätigt das Unvermögen der traditionellen Parteien, die Brandungswelle der schwarz-gelben Partei aufzuhalten. Insbesondere die regierenden flämischen Mitte-Rechts-Parteien (CD&V und Open VLD) haben es schwer, De Wever zu widersprechen, wenn er die Legitimität einer „fiskalpolitischen Regierung, die in Flandern keine Mehrheit hat“, anprangert[16]. Diese könnte daher ihre sozialwirtschaftlichen Vorschläge radikalisieren und für die Ausarbeitung des Haushalts 2013 noch mehr Sparzwänge fordern: Die Ankündigung der Schuldenlücke von 4,5 Milliarden Euro wurde daher zweckdienlich auf einen Zeitpunkt nach den Wahlen verschoben.

Neu gebildete Allianzen unter Französischsprachigen

Die zur Mehrheitsbildung auf Ebene der Gemeinden getroffenen Entscheidungen könnten auf eine Annäherung zwischen den Parteien der Mitte und den Mitte-Rechts-Parteien bei den nächsten Wahlen hindeuten. Das in den Regionen Wallonien und Brüssel-Hauptstadt bestehende Wahlbündnis aus Mitte-Links-Parteien, dem Sozialisten, Grüne und Parteien der Mitte angehören (Olivenbaum-Koalition), wird auf Ebene der Gemeinden immer seltener, und die Trennlinien zwischen Rechts und Links lösen sich zugunsten von parteipolitischen Überlegungen auf.  Der Vorsitzende von chD, Benoit Lutgen, beabsichtigt übrigens eine Annäherung an MR, im Gegensatz zu seiner stärker an der Mitte orientierten Vorgängerin Joëlle Milquet. Die Haltung der Grünen, definitionsgemäß „in den Werten der Linken verankert“, bei deren Wahlstrategie sich in den vergangenen Jahren aber immer klarer abzeichnete, dass sie abstandsgleich zu PS und MR stehen, wird daher bei den regionalen und föderalen Wahlen 2014 entscheidend sein.

Druck auf die Linke der PS

Der Durchbruch der PTB könnte übrigens die Konstellation für eine sozialistische Partei verändern, der es lange Zeit gelang, linke Zweckwähler für sich zu gewinnen. Die guten Ergebnisse der PTB – die manchmal den zweiten Platz erreichte – in mehreren historischen Bastionen der Sozialistischen Partei veranlasste manche Wortführer der PS, ihrer Sorge über den Bruch mit der Wählerschaft freien Lauf zu lassen[17]. Obwohl manche bereits ihre ablehnende Haltung gegenüber der PTB bekundeten, indem sie an ihre stalinistische Vergangenheit erinnerten und ihren demokratischen Charakter in Zweifel zogen[18], werden auch Forderungen laut, darauf einzugehen, welche Botschaft sie den Wählern vermitteln will. „Wir dürfen nicht noch mehr Zugeständnisse an die Rechte machen“, mahnt daher der einflussreiche Philippe Moureaux[19]. Die PS wird jedoch bald schon Problemen begegnen, die große Kluft zwischen ihrem Willen zur Wahrung der sozialen Errungenschaften und den liberal orientierten Optionen, die von der von ihr angeführten Regierung verteidigt werden, aufrechtzuerhalten.

Welche Perspektiven bieten sich für die radikale Linke?

Obwohl das Ergebnis der PTB auf nationaler Ebene relativ bescheiden ist, stellt es die seit mehreren Jahrzehnten beste Leistung einer Partei der radikalen Linken bei Kommunalwahlen dar. Daraus wird erkenntlich, dass die radikale Linke einen bedeutenden Platz in der politischen Landschaft des Landes einnimmt. Eine Annäherung zwischen Parteien und progressiven Bewegungen, die sich in einem Bruch mit dem neoliberalen Konsens befinden, ist daher in der derzeitigen Konfiguration wenig wahrscheinlich. Einerseits wird die Politik der PTB, keine Wahlallianz einzugehen, die nicht in ihrem Namen mit kleinen Parteien der radikalen Linken erfolgt, durch die Ergebnisse vom Sonntag anscheinend bestätigt. Im Parteivorstand wird jedoch andererseits darauf hingewiesen, dass Kartelle mit oder Annäherungen an etwaige Formationen, die aus enttäuschten Wählern der regierenden Linken hervorgehen, nicht auszuschließen seien. Ferner hat die Partei seit einigen Jahren ihre Beziehungen mit den Gewerkschaften gepflegt und beabsichtigt, Letztere bei den sich abzeichnenden Sozialkonflikten aktiv zu unterstützen.

Ein Teil der politischen und in Vereinen organisierten Linken bleibt übrigens misstrauisch gegenüber einer Partei, die sich von ihrer Unterstützung der autoritären Systeme des „realisierten Sozialismus“ zu keiner Zeit öffentlich distanziert hat und deren Zentralkomitee sich seit den dunklen Stunden des Sektierertums zum Teil kaum verändert hat. „Die Einheit ist wichtig, aber sie muss zuerst auf den Werten und einem gemeinsamen Programm basieren“, betont Pierre Eyben, einer der Initiatoren der Liste Vega. „Dies steht keinesfalls der Einheit im Wege, wo sie möglich ist, zum Beispiel bei der Unterstützung mancher Gewerkschaftskämpfe“. Auch ein Teil der Linken und bestimmte Gewerkschaftszentralen im Süden des Landes betrachten den Einheitscharakter der Partei sowie ihre ablehnende Haltung gegenüber der Dynamik der Kompetenzübertragung auf die Regionen, die ihrer Ansicht nach eine Berücksichtigung der wallonischen Besonderheiten verhindern würde, mit Argwohn.

Obwohl die Gemeinsamkeiten und die Zusammenarbeit durch eine Gesellschaftsbewegung gegen die Flut der Sparmaßnahmen Auftrieb erhalten, die sich in den kommenden Monaten anzukündigen scheinen, bedeutet das nicht, dass der soziale Notstand ausreichen wird, um progressiven Kräften eine gemeinsame Dynamik zu verleihen. Wie in vielen anderen Ländern blickt die belgische radikale Linke auf eine lange Tradition innerer Streitigkeiten zurück; ihre Überwindung ist eher die Ausnahme als die Regel.

 

Gregory Mauzé



[1]
              _ Das föderale System umfasst drei Regionen, die geografisch abgegrenzt sind (Flämische Region, Wallonische Region und Region Brüssel-Hauptstadt), drei Gemeinschaften auf der Grundlage der Sprache (Flämische Gemeinschaft, Französische Gemeinschaft und Deutschsprachige Gemeinschaft), sowie insgesamt sieben Parlamente.

[2]
              _ Jedoch nicht in Brüssel, das eine eigenständige Region bildet.

[3]
              _ Beschrieben von Arend Lijphart  in „Democracy in Plural Societies: A Comparative Exploration“, Yale University Press, New Haven, 1977

[4]
              _ Der Gegensatz zwischen Flandern – einer wirtschaftlich expandierenden, dienstleistungsorientierten Region mit geringer Arbeitslosigkeit – und Wallonien – einst wirtschaftlicher Motor Belgiens, aber seit der industriellen Umstrukturierung in der Krise, mit einer hohen Beschäftigungsquote im öffentlichen Sektor – bildet diesbezüglich einen Nährboden für demagogische Reden.

[5]
              - Davon sind 88 Sitze für die Flamen und 62 für die Französischsprachigen vorgesehen.

[6]
              _  „Di Rupo Ier : Marxiste, au centre ou à droite ?“  lalibre.be, 3. Oktober 2012

[7]
              _ Jacques, Thierry, „La sécu va bien, qu’on se le dise !“,  Politique, Oktober 2011

[8]
                        [8] 5 % bei regionalen und föderalen Wahlen, die für Formationen, die in der Regel nur Zehntelprozente erzielen, unerreichbar sind
 

[9]
              _ Pestiau, David, „Le PTB sans mystère“, blogs.politique.eu.org, 25. Januar 2012

[10]
              _ „"Gauches Communes" et Rood ! ont lancé leurs campagnes avec le soutien de la gauche européenne“, socialisme.be, 25. Juni 2012

[11]
              _ Aller in Flandern abgegebenen Stimmen

[12]
              _ Durant, Gil et Demonty, Bernard, „De Wever : « Préparons la Belgique confédérale »“, lesoir.be, 14. Oktober 2012

[13]
              _ Summe der nicht oder falsch ausgefüllten Stimmzettel und Enthaltungen im Verhältnis zur Gesamtzahl der eingetragenen Wähler.

[14]
              _ Piret, Paul, „Un parti est partout en hausse“, lalibre.be, 18. Oktober 2012

[15]
              _ „Pas seulement l’effet Turtelboom“, lavenir.net, 16. Oktober 2012

[16]
              _ „La radicalisation flamande“, lalibre.be, 18. Oktober 2012

[17]
              _ Loc. cit.

[18]
              _ Brabant, François, „Jean-Claude Marcourt : "Le PTB, un problème pour la démocratie"“, Le Vif/L’express, 18. Oktober 2012

[19]
              _ „Le PS, nerveux face à la percée du PTB“, lalibre.be, 19. Oktober 2012