Nachricht | International / Transnational Infobrief Türkei Ausgabe 03/2012 erschienen

Der Infobrief kann hier heruntergeladen werden. Die Beiträge können auch im Internet (http://infobrief-tuerkei.blogspot.com) gelesen werden.

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Aus dem Editorial:

Liebe Leserin, lieber Leser,
 
die Islamisten in der Türkei feiern den 10. Jahrestag an der Macht. Die AKP (Adalet ve Kalkinma Par-tisi / Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) hat, nachdem sie im November 2002 zum ersten Mal die Wahlen gewann, ihren Wahlerfolg zweimal hintereinander wiederholen können. Seitdem fanden nicht nur in der politischen Landschaft einschneidende Veränderungen statt, auch alltägliche Routinen und Praktiken veränderten sich im großen Umfang. Kulturelle Codes und die Ökonomie sind gleichermaßen strukturellen Veränderungen unterworfen worden. An dieser Stelle gilt zu unterstreichen: nicht nur die Türkei, auch die regierenden Islamisten haben sich verändert.

Die Transformationen, die durch den erfolgreichen Machterhalt der islamistischen Politik ausgelöst wurden, haben bei zahlreichen Menschen Fragen und Ängste ausgelöst: Stehen wir vor dem Ende der mit Mustafa Kemal Atatürk identifizierten laizistischen Republik? Befinden wir uns in einer neuen Ära? Indes ist es keineswegs einfach, auf diese Fragen eindeutige Antworten zu geben. Die Antworten hängen im Wesentlichen davon ab, aus welchem Blickwinkel die Geschichte betrachtet wird. Wenn, beispielsweise, der kulturelle Einfluss der Religion oder der religiösen Ge¬meinschaften zur Grundlage der Bewertung gemacht wird, so kann durchaus behauptet werden, dass die erste Republik der Vergangenheit angehört, und wir uns in der zweiten Republik befinden. Auch die öf-fentliche Anprangerung des Kemalismus und dessen Gleichsetzung mit Verarmung, Unterdrückung und Leugnung durch die heutige Regierung kann als ein Zeichen für eine neue Ära gedeutet werden.
 
Doch wenn neben diesen Parametern, die sich auf kulturelle Codes und die politische Landschaft be¬ziehen, der Klassenbegriff in die Analyse mit einbezogen wird, dann lässt sich argumentieren, dass die AKP-Regierung keine Unterbrechung, sondern die Fortführung der bisherigen Ordnung darstellt. Die Berücksichtigung von Klassenverhältnissen bedeutet wiederum nicht, die während der AKP-Zeit entstandenen Besonderheiten negieren zu müssen. Im Gegenteil, die auffällige Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Wandel deutet, gerade in Anbetracht der spezi¬fischen Widersprüche, die die Republikära hervorge¬bracht hat, auf die Notwendigkeit hin, den derzeitigen Veränderungen eine besondere Aufmerksamkeit zu¬kommen zu lassen.

Auf der von unserer Redaktion organisierten Tagung am 29. September in Berlin haben wir diese Besonderheiten fokussiert und mit WissenschaftlerInnen aus der Türkei diskutiert. Im ersten Workshop der Tagung wurde die Umgestaltung des »Öffentlichen« oder des »Kommunalen« unter der Ägide der Islamis¬ten diskutiert, für deren kommunale Praxis Ali Ekber Dogan den Begriff »egreti kamusallik« (etwa: unechte/fadenscheinige Öffentlichkeit) geprägt hat. Cenk Saraçoglu präsentierte im zweiten Workshop seine Thesen zum Stand des türkisch-kurdischen Problems unter der AKP-Regierung, und verwies auf einen Wandel in der offiziellen Staatsideologie im Rahmen einer neuen Hegemoniestrategie. Im dritten Workshop stellte Ayse Çavdar Beobachtungen und Ergeb¬nisse aus ihrer Feldforschung über Veränderungen in den Alltagspraktiken gläubiger Muslime im Zuge neoliberaler Urbanisierung vor. Im Ganzen ermöglichte uns die Tagung somit, verschiedene Aspekte des Wandels unter den AKP-Regierungen ausgiebig zu diskutieren.

An dieser Stelle möchten wir es nicht versäumen, den ReferentInnen, auf deren Beiträgen die vorliegende Ausgabe des INFOBRIEF TÜRKEI beruht, sowie allen TeilnehmerInnen der Tagung für ihre Beiträge noch einmal zu danken. Unser Dank gilt auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung für ihre großzügige finanzielle und logistische Unterstützung. Wir hoffen, dass die vorliegende Ausgabe, in der wesentliche Inhalte der Workshops und der anschließenden Podiumsdiskussion zusammengefasst sind, den LeserInnen eine gute Quelle über das 10-jährige Abenteuer der Islamisten zur Verfügung stellen wird.

In diesem Sinne wünscht die Redaktion viel Spaß bei der Lektüre.