Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte Schmidt/Schulz/von Schwind (Hrsg.): Die 70er/80er Jahre in Köln – alternativ, links, radikal, autonom, Köln 2014

Fünfundzwanzig Jahre Kölner Bewegungsgeschichte im Kaleidoskop des autobiographischen Erinnerns

Information

„Die Stadt, das Land, die Welt verändern“ – unter diesem Buchtitel erzählen Aktivist*innen der 1970er und 80er Jahre von ihren Erfahrungen in linksradikalen, autonomen, sozialistischen, sozialdemokratischen, kommunistischen, feministischen, anarchistischen, trotzkistischen, und grünen Kontexten der alternativen Bewegung in Köln. Im kollektivbiographischen Erinnern und Weitergeben nehmen die Akteur*innen von „damals“ ihre eigene Geschichte in die Hand: History is a work in process! 

Sagenhafte 125 Autor*innen berichten in diesem Buch über ihre Erlebnisse in der alternativen und linken Szene Kölns zwischen der Mitte der 1960er und dem Ende der 1980er Jahre. Die Themen wie auch die eingenommenen Perspektiven oder gar politischen Positionen sind dabei relativ breit. Sie sammeln sich kurz gesagt um alles, was links von den (historischen) Grünen liegt, aus heutigem Blickwinkel in der Regel um einen undogmatisch-linken Deutungsstrang. Sein Credo, kraftvoll und in gewisser Hinsicht trotzig: „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende“, die existierende ist und bleibt nicht die beste aller Welten! Die drei Herausgeber*innen sind Beobachter*innen und Teil dieser offenen, kontinuierlichen Bewegungsgeschichte. Ihre Erfahrungshintergründe spiegeln sich in ihrem Alter wider, bringen sie doch heute zusammen rund 200 Lebensjahre und viel Erfahrungswissen in die Fragestellungen, Schwerpunkte und offenen Flanken der Geschichte der linken Bewegung Kölns in ihren Facetten von „alternativ“, „radikal“ bis „autonom“ mit. Gleiches gilt auch für die Mehrzahl der Autor*innen. Die Herausgeber*innen sammeln dabei die Stimmen von (im „Geschlechter“-Verhältnis von etwa 70 zu 30) „männlichen“ und „weiblichen“ Aktivist*innen, die in den 1970er und 80er Jahren (ihre eigene) Geschichte machten. Alle sind sie Zeitzeug*innen, sie schreiben – ohne den verklärten oder melancholischen Unterton so mancher spontaner Lebenserinnerung an „damals“ – über das, was sie erlebt, gestaltet, erkämpft und erlitten haben.

Die insgesamt 20 Kapitel werden jeweils mit einer kurzen Einleitung eröffnet, die es auch jüngeren Leser*innen ermöglicht (oder zumindest erleichtert), die nachfolgenden Berichte besser einzuordnen. So gelingt es, die Stimmen der Zeitzeug*innen weit jenseits des Anekdotischen in Zusammenhängen zu hören bzw. zu lesen, die so manches Mal historisches, heute Vergangenes im Rückblick reflektieren, die fürwahr aber zumeist tatsächlich Verhältnisse schildern, an denen sich auch heute linke Praxis im Lokalen reibt oder von denen aus sich ein alternatives Leben bis heute vor Ort erkämpfen ließe. Hier geht es von linken Medien über alternative Schulen bis hin zu Karneval (Stunksitzung!), Hausbesetzungen (Stollwerck!!) und Internationalismus. Aufgefächert wird das bunte Panorama der damaligen Graswurzelkultur in Hochschulen, Kirchen und vielen anderen Zusammenhängen, etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Das Kapitel zur (Moskau-treuen) Deutschen Kommunistischen Partei bzw. zu den verschiedenen kommunistischen Parteien und Grüppchen ist pikanterweise das umfangreichste. Die Autonomen tauchen nur in Selbstinterviews auf.

Zur Orientierung im weiten Feld der globalen, ‚nationalen‘ und lokalen Zeitgeschichte verfügt das Buch über eine Jahreschronik (untergliedert in Ereignisse in der Welt, der BRD und in Köln) und ein Abkürzungsverzeichnis. Beides erleichtert die Lektüre in dem enzyklopädisch dicken Wälzer, lässt Hürden im Sprachduktus der Bewegung kleiner werden und erlaubt es, die lokalen Entwicklungen in ihrer Verbundenheit mit nationalen und internationalen Kämpfen und Meilensteinen zu sehen. Ein heutzutage vermutlich vergleichsweise leicht mit Textverarbeitung erstellbares Sach- oder Personenregister fehlt leider. Wer den Schmöker peu à peu lesen mag, hätte hierüber sicher den einen oder die andere Akteur*in leichter wiederfinden oder leichter zu thematischen Einstiegen greifen können. Dafür lädt das Buch über eine Website aber dazu ein, das sprichwörtliche „Ende der Geschichte“ ganz partizipativ zu verschieben: auf www.stadtlandwelt.org sind Kommentierungen und Ergänzungen, die Erzählung eigener Eindrücke und Lektüreerfahrungen möglich. Insofern ist der Anspruch des Sammelbandes eingelöst, wie die Geschichte der Bewegung selbst ein Projekt im Fluss zu sein. 

Mit dem Band liegt ein beeindruckendes Dokument über die Alltage und Konzepte linker politischer Praxis und Ideen in der viertgrößten Stadt Deutschlands vor, die zugleich eine linke Hochburg war und ist. Er zeigt auch (unbeabsichtigt?) wie die Anliegen, deren Ausdruck die Partei der Grünen einmal war, heute eingehegt, umgewandelt und befriedet sind – obwohl viele der damals kritisierten Missstände weiter bestehen, sich gar verschärft haben und neue hinzugekommen oder sichtbarer geworden sind.

Die Gestaltung des Buches ist klassisch, also in erster Linie sehr textlastig. Fotos gibt es kaum. In der Hand halten die Leser*innen dafür einen spannenden und wertvollen Text-Band, der viel zu sagen weiß. Es tut gut, Bewegungsgeschichte einmal jenseits historisierender Analyse zu lesen, die auf manchen Weg, einige Ziele und diese oder jene Sackgasse linker Bewegungsgeschichte den Deckel des „so war das, fertig“ legen wollen (wie etwa zumeist in der – akademischen – Bearbeitung z.B. der „68er“). Dass ‚nur‘ Zeitzeug*innen schreiben, ist in diesem Fall viel weniger ‚Problem‘ als Zugewinn, denn die Autor*innen stehen zu ihrer Geschichte: Ihre Texte sind persönlich und deswegen authentisch, sie wollen niemanden repräsentieren oder – vermeintlich objektiv – akademisch untersuchen. Ein klasse Buch zum Schmökern!!

P.S.: Einen ersten Überblick zu den vielen anderen Publikationen zur lokalen Protest- und Bewegungsgeschichte gibt es in der Rubrik „Orte“ der kobib, der Kollektivbibliographie zur kritischen Geschichte, unter http://kobib.de/kg/index.php/topics/single/14.

Reiner Schmidt, Anne Schulz, Pui von Schwind (Hrsg.): Die 70er/80er Jahre in Köln – alternativ, links, radikal, autonom, Köln 2014, 627 Seiten, 29,99 EUR.


Diese Rezension erschien auch in TERZ, der autonomen Stattzeitung für Politik und Kultur in Düsseldorf und Umgebung, Ausgabe 2/2015.