Nachricht | International / Transnational - Amerikas - Staat / Demokratie - Demokratischer Sozialismus Die Prozesse in Lateinamerika und die Positionierung der Linken

Venezuela polarisiert

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Autor*innen

Achim Wahl, Dieter Boris,

Wie verärgert und ungehalten die hiesigen Medien das Wahlergebnis vom 7. Oktober 2012 in Venezuela zur Kenntnis nahmen, zeigte sich einmal mehr in die FAZ (17. Oktober 2012), die in einem Kommentar meinte, dass „der Venezolaner Chávez der Garant für den Machterhalt (in Lateinamerika) ist. Doch – so die FAZ – auch dessen Zeit läuft ab.“ Sollten diejenigen recht behalten, die sich ein Venezuela ohne Chávez wünschen? In welcher Weise  wird die Erkrankung von Präsident Chávez die weitere Entwicklung Venezuelas  beeinflussen?

In einem Land, das wie kein zweites in Lateinamerika politisch polarisiert ist und in dem die Opposition, unterstützt von den alten Eliten und äußeren Kräften, alle Mittel einschließlich ihrer Vormachtstellung in den nationalen Medien nutzt, um die „bolivarische Revolution“, wie sie in Venezuela genannt wird, zu diskreditieren, hat die Bevölkerung sich mehrheitlich für den Weg entschieden, der in den letzten Jahren eingeleitet wurde. Seit Antritt Hugo Chávez` als gewählter Präsident im Februar 1999 haben sich wesentliche politische und soziale Veränderungen vollzogen. Trotz vielfältiger Schwierigkeiten, darunter Putschversuchen und erheblicher wirtschaftlicher Probleme, wurden im Verlaufe der dreizehn Jahre drei grundlegende Aufgaben in Angriff genommen:

  • Die Zurückeroberung der nationalen Kontrolle über die nationalen Ressourcen des Landes;
  • die deutliche Reduktion der Armutsquote und der Ungleichverteilung;
  • das Vorantreiben der realen Demokratie.

Vorrangig war die Rückführung des nationalen Erölunternehmens PDVSA in die Kontrolle des Staates und die Verwendung der Einnahmen des Erdölexports für soziale Maßnahmen und die Umstrukturierung der Wirtschaft. Die erweiterten Spielräume wurden auch  für eine fortschrittliche und solidarische Außenwirtschaftspolitik und die Förderung des lateinamerikanischen Integrationsprozesses genutzt.

Über zahlreiche Wege (Bildungs- und Gesundheitsreform, Wohnbauprogramme, subventionierte Grundnahrungsmittel etc.) wurde  im genannten Zeitraum die Armutsquote von weit über 50 auf ca. 30% reduziert (also praktisch halbiert). Venezuela gilt mittlerweile als das Land Lateinamerikas, in dem die Ungleichverteilung der Einkommen am geringsten ist.

Die Verfassung von 1999 schreibt Prinzipien  partizipativer Demokratie fest. Mit dem Gesetz der „Poder Popular“ (Volksmacht) vom Dezember 2010 wurde den Kommunen das Recht übertragen, eigene Unternehmen zu gründen, die gemeinsam mit den „Consejos Comunales“ (Gemeinderäte) in ihrem Bereich Schulen, Gesundheitseinrichtungen, Wohnungen etc. verwalten.

Angesichts der überkommenen Wirtschafts- und Sozialstrukturen und der politischen Kultur des Landes sowie der zahlreichen Barrieren für einen umfassenden, tief greifenden Umwandlungsprozess gibt es noch erhebliche Probleme: Zu wenig kollektive demokratische Führung, zu geringe und wenig nachhaltige Veränderungen der Wirtschafts- und Agrarstrukturen, zu hohe Kriminalität, neue Formen von Korruption und Klientelismus.

Mit der Erkrankung Präsident Chávez’ wird sich die Hoffnung der Gegner der bolivarischen Revolution auf einen Kurswechsel nicht erfüllen.  Ein „Zurück“  zu den Zuständen  vor 1999 wird kaum möglich sein, wie es sich sogar in den programmatischen Äußerungen der Opposition im Wahlkampf andeutete. Große Teile der Bevölkerung   wurden im Verlaufe des bolivarischen Prozesses im emanzipatorischen Sinne politisiert.  Das Hoffen auf innere Zerwürfnisse im  bolivarianischen Lager – wie es von der Opposition und den westlichen Medien/ Politikern artikuliert wird – erscheint gegenwärtig noch als bloße Wunschvorstellung. Trotz aller organisatorischer und institutioneller Defizite im Regierungslager  kann   eine einvernehmliche Nachfolgeregelung als  durchaus  realistisch angesehen werden. Auch in anderen Ländern Lateinamerikas haben Führungswechsel stattgefunden. Warum sollte das nicht auch in Venezuela gelingen?

Die Veränderungen in Lateinamerika

In gewisser Weise repräsentiert die Entwicklung in Venezuela die Veränderungen, die sich seit 1999 in Lateinamerika vollzogen. Nicht nur eben in Venezuela sondern auch in Bolivien, in Ecuador, in Brasilien, in Uruguay und in Argentinien kamen im Ergebnis von Wahlen linksgerichtete Regierungen zum Zuge. Übereinstimmend wird immer wieder festgestellt, dass diese Veränderungen durch breite Volksbewegungen in fast allen Ländern des Kontinents erkämpft wurden, die sich gegen die Auswirkungen neoliberaler Politiken ihrer Regierungen und der herrschenden Eliten richteten. Die Hegemonie dieser Eliten wurde erstmalig in der Geschichte dieser Länder zumindest in Frage gestellt, ohne sie jedoch endgültig zu brechen.

Bemerkenswert ist, dass jedes Land dabei eigene, originelle Wege geht, um seine spezifischen Probleme zu lösen, die in einem Land wie Brasilien anders gelagert sind als, z. B., in Bolivien. Erreicht wurden in fast allen bezeichneten Ländern wesentliche Ergebnisse in der Bekämpfung der Armut, bes. auch der extremen Armut. Gestärkt wurde ihre nationale Souveränität und Nationalstaatlichkeit. Mit der Ablehnung neoliberaler Politik eröffnet sich der Weg zu mehr regionaler Zusammenarbeit und Integration. Aber weder in Venezuela noch in Brasilien oder anderen Ländern wurden durch die linksgerichteten Regierungen strukturelle Veränderungen erreicht, die sich in einer wesentlichen Veränderung von Eigentumsverhältnissen und der Wirtschaftsweise widerspiegeln würden. Bislang  sind von den (Mitte)-Linksregierungen eher gradualistische und pragmatische Politiken vorrangig eingeschlagen worden. Gleichwohl stellt sich aber die Frage nach den mittel- und langfristigen Orientierungen.

Zeit der Herausforderungen und der Konflikte

Es ist offenkundig, dass bei langfristig wirkenden Entscheidungen der (linken) Regierungen die Konfliktpotenziale nicht nur gegenüber den notorisch rechten Kräften, sondern teilweise auch gegenüber der eigenen Basis und einzelnen sozialen Bewegungen zunehmen können. Dabei ist das Spektrum von möglichen und tatsächlichen Konfliktfeldern relativ breit: Ausbau materieller Infrastrukturen,  von Kraftwerken, Expansion des Bergbaus und des Agrobusiness, Umsetzung neuer Mediengesetze (welche die privatwirtschaftlichen Interessen zurückdrängen sollen), Klientelismus und Korruption in neuen Formen etc.

Bezüglich der langfristigen Entwicklung sind in der Region einige Konzepte bzw. Schlagwörter aufgetaucht, wie jenes vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ oder vom „buen vivir“, dem guten und erfüllten Leben, welches aus andinen Weltdeutungen stammt. Allerdings scheinen diese z.T. als allgemeine Leitideen in den neuen Verfassungen von Bolivien und Ekuador niedergelegten Prinzipien noch wenig über die konkret einzuschlagenden Wege und die Strukturen sowie Institutionen einer neuen Gesellschaft auszusagen.

Daher kann es als wenig hilfreich empfunden werden, wenn einige Gruppierungen der Linken in Lateinamerika und in Europa bzw. Deutschland jedes einzelne Investitionsvorhaben oder Infrastrukturprojekt von der abstrakten Meßlatte solcher Konzepte her beurteilen und gegebenenfalls pauschal ablehnen. Es gilt in dieser Diskussion die historisch gewachsenen und aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen, die jeweils nationalen und internationalen Kräfteverhältnisse sowie  die realistischerweise als gangbar anzusehenden Alternativmöglichkeiten abzuwägen.

Einige Problemdebatten

Die Debatte um das gegenwärtige und zukünftige Wirtschaftsmodell hat viele Facetten. Dabei scheinen im Augenblick weniger Eigentums- und Verfügungsrechte und die Formen der (zukünftigen) Arbeitsorganisation eine Rolle zu spielen als vielmehr die Frage der Außen- und Binnenorientierung und die mit der Außenorientierung verbundene Konzentration auf den Abbau mineralischer und agrarischer Rohstoffe. Zutreffend an der Kritik am neuen Extraktivismus scheint zu sein, dass, wenn dieser mit elementaren Nachteilen für die betroffene Bevölkerung und die Natur einhergeht, keine Vorstellungen über mittelfristige Alternativen existieren. Überzogen und teilweise falsch wird die Kritik, wenn sie behauptet, dass die günstige wirtschaftliche Entwicklung der letzten 10 Jahre allein oder vorrangig auf diese Faktoren zurückzuführen sei. Eine sofortige Abkehr von diesen Jahrzehnte gewachsenen Wirtschaftstrukturen scheint nicht möglich zu sein, wenn nicht katastrophale Absenkungen des allgemeinen Lebensstandards der Bevölkerung hingenommen werden sollen. Es sind also Lösungen anzustreben, die kurzfristig (bzw. mittelfristig) für alle Beteiligten eine pragmatische und tolerable Form des „gemäßigten Extraktivismus“ (wie selbst  der scharfe Kritiker der Linksregierungen E. Gudynas  einräumt) repräsentieren.

Wie in jedem Transformationsprozess ist die Frage, wohin und wie sich die Umwandlung und Veränderung vollziehen soll, zentral und kontrovers: sozialstaatlicher Kapitalismus mit einzelnen Reformen, Staatskapitalismus mit noch größerer Staatsintervention, Sozialismus, d.h. vollständige Gesellschafts- und Wirtschaftstransformation mit ganz anderen Eigentums- und Wirtschaftsformen?

Die positive Fixierung eines Zielpunkts ist in den meisten Ländern mit Veränderungsintentionen bislang nicht erfolgt, was – realistisch betrachtet – im Augenblick auch gar nicht möglich  ist. Die Abgrenzung gegenüber „vorher“, also Negationen, überwiegen immer noch: Verringerung von Armut und Ungleichheit, stärkerer Staatsintervention in den Wirtschafts- und Gesellschaftsprozess bei gleichzeitiger Demokratisierung staatlicher Institutionen, Rückeroberung des öffentlichen Raums und Erreichen partizipativer, unmittelbarer Demokratieformen, Wiedererlangung nationalstaatlicher Souveränität bzw. Ausbau der lateinamerikanischen Regionalprojekte.

In diesem Sinne steht damit die Rolle des Staates im Mittelpunkt der Debatte. Weder eine radikal anti-etatistische Position, die jegliche staatliche Form als Kern allen Übels (und der Entfremdung) begreift, noch eine „staatsvergötternde“ (Staatsidolatrie im Sinne Gramscis) Position, die dem Zentralstaat die absolute und detaillierte Ordnungskompetenz zuweist, sind im Transformationsprozess sinnvoll und realistisch. Der Staat in Lateinamerika in solchen Perioden kann – bei Kontrolle und Modifizierung seiner bisherigen Formen und Funktionen – von progressiven Regierungen genutzt werden. Allerdings ist es dann kein Staat mehr im herkömmlichen Sinne, der gegenüber der Gesellschaft und den sozialen Bewegungen mehr oder minder verselbständigt agiert, sondern in einer Konstellation handelt, in der Führung und Basis in einem ständigen Austausch  und Kommunikationsprozess stehen. Dass dieses Postulat eines „ Staates im Umbau“ nicht leicht umzusetzen ist, zeigt die politische Alltagswirklichkeit, ändert aber nichts an der prinzipiellen Richtigkeit dieser Position.

Charakteristisch für die Politik der linksgerichteten Regierungen ist der vorherrschende Pragmatismus. Es fehlt aber offenbar für eine neue Etappe die erforderliche strategische Zielstellung, die über das bisher Erreichte hinausweist. So betrachtet, sind diese Entwicklungen nach vorne hin offen.

Die internationale Krise und die Kräfte der Gegenreform schaffen eine Situation beständiger Unruhe und politischer Instabilität. Valter Pomar, Exekutivsekretär des Forums von Sao Paulo, schreibt in einem Essay vom März 2012, dass

„die Möglichkeiten der gewählten Regierungen zur Realisierung grundlegender Transformationen nicht für immer fortdauern werden. Das Fenster, das sich Ende der 90-iger Jahre dafür öffnete, ist noch nicht geschlossen. Aber die Stürme, die voraus zu sehen sind, können dieses schließen.“

Die ökonomisch herrschenden Kräfte sind nirgendwo in der Defensive, auch in den Mitte-links regierten Ländern nicht, sondern eher – nach der fast 10jährigen Prosperitätsperiode – ökonomisch gestärkt. Sie warten darauf bzw. bereiten beständig vor, wie ein ihnen besser entsprechendes come back auf der politischen Bühne erreicht werden kann.

Jede Schwächung und jede Konflikteskalation innerhalb der aktuellen Linkskoalitionen ist für diese Kräfte ein ermunterndes Signal; im Streit um den sog. Neo-Extraktivismus spielen sie sich neuerdings als die Bündnispartner der  eigentlichen „Naturbewahrer“ (in Form von einigen NGOs etc.) auf.

Die jüngsten Äußerungen des US-Verteidigungsministers erinnern im übrigen daran, das die USA ihre einstige „Hinterhof“-Region noch keineswegs abgeschrieben haben; die Rechtsputsche in Honduras (2010) und in Paraguay(2012) sowie die Rechtsschwenks in Chile, Peru usw. signalisieren auch, dass das Voranschreiten und die Konsolidierung linker Regimes alles andere als gesichert ist.

Was ist zu tun?

Eine politisch aufgeweckte Linke müsste in solidarischer und offener Diskussion die  hier erwähnten (und andere) Problemfelder aufgreifen und gemeinsam alternative Wege suchen. Dabei muss auch zwischen machbaren und nahe liegenden Aufgaben einerseits und abstrakter Zivilisationskritik andererseits unterschieden werden, die höchstens eine langfristige Orientierungsgröße sein könnte. So sympathisch und zutreffend z.B. viele Elemente des „buen vivir“-Diskurses sein mögen, sie ersetzen kein durchdachtes Programm für eine Gegenwartsgesellschaft in Lateinamerika. Auch scheinen sie wenig zur Analyse gegenwärtiger Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse beitragen zu können. Die bloße Wiederholung der „buen vivir“-Prinzipien von Komplementarität, Reziprozität, Schenken etc. hilft nicht viel weiter.

Es ist demnach auch Aufgabe der Linken scheinbar unversöhnliche Gegensätze zwischen partikularen Interessen/Ansichten und relativ allgemeinen Interessen zu unterscheiden und entsprechende Kompromissformeln zu entwickeln. Ein quasi fundamentalistisches Insistieren auf bestimmten einseitigen Positionen trägt indirekt zum Scheitern des gesamten linken Projekts bei. In diesem Sinne sollten sich hiesige linke Lateinamerikakenner einmischen und diskutierend, beratend, lernend tätig werden. Mit dem Export postmoderner Theoriefetzen ist der Linken in Lateinamerika in der Regel weniger gedient, als wenn ernsthafte Analysen der lateinamerikanischen Realität vorgelegt oder gefördert werden.

Eine enge Zusammenarbeit auf theoretischer und politischer Ebene kann und muss durch praktische Zusammenarbeit ergänzt werden. Dazu zählen z.B. Öffentlichkeitsarbeit hierzulande im Sinne der fortschrittlichen Regierungen und Kritik hiesiger Regierungspolitik, die die lateinamerikanischen Regierungen für ihre entwicklungspolitisch förderlichen Maßnahmen (z.B. Nationalisierung der eigenen Rohstoffressourcen etc.) „bestraft“. Positiv ist es, wenn in neuen Publikationen und auf öffentlichen Veranstaltungen auf diese kontraproduktive Einmischungen auch der bundesrepublikanischen Außen- und Entwicklungspolitik deutlich hingewiesen wird. In dieser Hinsicht scheinen die Möglichkeiten der Linken in der BRD und Europa und viele Potenziale der Artikulation noch nicht ausgeschöpft zu sein.