Nachricht | «Politischer Streik im Europa der Krise». Ein Veranstaltungsbericht

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Von Rosa Luxemburg stammt eine der bekanntesten Abhandlungen zum Thema politischer Streik, den sie 1905 unter dem Eindruck der russischen Revolution unter dem Titel «Massenstreik, Partei und Gewerkschaften» verfasste. 2013, im «Europa der Krise» befinden wir uns in einer gänzlich anderen Situation – sowohl  was die allgemeine politische Situation als auch die Bedingungen gewerkschaftlichen Handelns angeht. Dennoch ist die Beschäftigung mit diesem Thema und die Bezugnahme auf Rosa Luxemburg keine historische Reminiszenz. Das Interesse der Beschäftigung mit diesem Thema liegt für die Rosa-Luxemburg-Stiftung primär in dessen Aktualität und der Frage, ob und inwiefern die gewerkschaftliche Praxis des politischen Streiks und die politische Forderung nach dessen Enttabuisierung  eine dynamisierende Rolle in den Bewegungen gegen die neoliberale Austeritätspolitik in der EU und deren Mitgliedsstaaten spielen können. Demenstprechend wurde in drei Diskussionsveranstaltungen in Freiburg (19. Februar), Karlsruhe (20. Februar) und Mannheim (21. Februar) nach Perspektiven des politischen Streiks im Europa der Krise gefragt. Die Veranstaltungen bilden den Auftakt für den großen bundesweiten Kongress «Erneuerung durch Streik. Erfahrungen mit einer aktivierenden und demokratischen Streikkultur“, der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem ver.di Bezirk Stuttgart vom 1. bis 3. März in Stuttgart ausgerichtet wird.

Christine Lafont, Mitglied der internationalen Kommission der französischen Gewerkschaft Solidaires, berichtete zunächst über gewerkschaftliche Handlungsbedingungen und Handlungspraxis in Frankreich und die dortigen Erfahrungen mit politischen Streiks. Sie machte deutlich, dass offensives Agieren der Gewerkschaften eine notwendige Bedingung ist, um die Menschen zu politischem Widerstand auf der Straße zu motivieren und handlungsmächtig zu werden. Gerade die Streiks gegen die Rentenreform im Jahr 2010, die eine massive Verschlechterung der sozialen Situation künftiger Rentnerinnen und Rentner bedeutet, hätten gezeigt, dass es nicht ausreichend ist, mit punktuellen eintägigen Streiks, so begrüßenswert diese seien, auf diese Angriffe zu reagieren. Vielmehr müsse es darum gehen, vereint mit sämtlichen gewerkschaftlichen Dachverbänden auch unbefristete Aktionen und Streiks ins Auge zu fassen. Zudem gelte es, das Instrumentarium gewerkschaftlicher Aktionsformen zu erweitern und auch Blockaden unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Situationen einzusetzen, um Gegenwehr gegen das momentan stattfindende sozialpolitische Rollback in Europa zu leisten. Auch unter der Präsidentschaft von François Hollande sei nicht damit zu rechnen, dass sich die Politik grundlegend ändere. Der Druck der Straße sei weiterhin notwendig, um einen Richtungswechsel hin zu einer sozialeren Politik in Frankreich und in Europa zu erzwingen.

Florian Wilde, ehemaliger Referent für Gewerkschaftspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitherausgeber des Bandes «Politische Streiks im Europa der Krise» (VSA-Verlag 2012) zeichnete die Entwicklung von Streikaktivitäten seit 1980 nach. Auffällig, so sein Fazit, sei insbesondere, dass es zu einer massiven Zunahme politischer Streiks seit Ausbruch der Krise in den Jahren 2007/2008 gekommen sei. Während es in der gesamten Dekade der 1980er Jahre zu 18 politischen Generalstreiks gekommen ist, fanden allein im Zeitraum von 2008 bis 2012 43 solche Aktionen statt. Der Zunahme politischer Streiks korrespondiere ein deutlicher Rückgang von ökonomischen Streiks in den letzten 30 Jahren. Wie sind diese Befunde zu interpretieren? Aus Sicht von Florian Wilde handelt es sich eher um ein Zeichen der Schwäche der Gewerkschaften, deren organisatorische, institutionelle und strukturelle Macht durch die neoliberale Politik der letzten 30 Jahre massiv reduziert worden sei. Da es dem Kapital gelungen sei, unmittelbaren Zugriff auf Regierungshandeln zu gewinnen und sich Regierungen verschiedener parteipolitischer Couleur als Instrumente zur Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klassen erwiesen hätten, sei es für die Gewerkschaften eine zentrale Aufgabe, selbst politische Handlungsfähigkeit zu erlangen und offensiv ein «politisches Mandat» einzufordern. Eine Beschränkung auf die «Kernkompetenz» im Betrieb sei nicht mehr ausreichend, die tradierte Arbeitsteilung mit der SPD als «parlamentarischem Arm» gewerkschaftlicher Interessenvertretung obsolet. Insofern sei die Forderung nach dem politischen Streik folgerichtig und müsse in der gewerkschaftlichen und politischen Diskussion weiter forciert werden auch wenn – oder gerade weil – die Erfolgsbilanz der letzten Jahre ernüchternd sei. Hätten vor Ausbruch der Krise noch ca. 40% aller politischen Streiks zu Zugeständnissen seitens der institutionalisierten Politik geführt, müsse konstatiert werden, dass es seit Ausbruch der Krise kaum mehr gelungen ist, Zugeständnisse zu erzwingen. Am schlagendsten zeige sich dies am Beispiel Griechenlands, wo trotz zahlreicher Generalstreiks keine Korrekturen an der katastrophalen Verarmungspolitik der EU und der griechischen Regierung erreicht werden konnten.

In den lebhaften Diskussionen wurde immer wieder angemahnt, dass auch in Deutschland das «Tabu» des politischen Streiks fallen müsse und die Gewerkschaftsspitzen sich zu einer konfrontativeren Auseinandersetzung mit der herrschenden Politik, sei es von Union oder SPD, bereit finden müssten. Die Erfahrungen mit der Regierung Schröder seien noch zu aktuell als dass man bereitsein könne, sich darauf zu verlassen, dass eine sozialdemokratisch geführte Regierung die Dinge im Interesse der Beschäftigten regeln werde. Um eine solche Kursänderung der Gewerkschaften zu erreichen, sei es die Basis, die gefordert ist. Von den Gewerkschaftsspitzen seien Initiativen in diese Richtung kaum zu erwarten. Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob die Forderung nach dem politischen Streik primär eine juristische oder eine politische Frage sei, mithin, ob der Kampf darauf zu konzentrieren sei, von der institutionalisierten Politik ein «Recht auf Streik» einzufordern, oder ob man sich dieses Recht nicht vielmehr «auf der Straße» durch die eigene Praxis aneignen solle. Für beide Positionen wurden Argumente vorgebracht. Auf der einen Seite verbessere ein verbrieftes Recht auf den politischen Streik die eigene gewerkschaftliche Handlungsposition in politischen Auseinandersetzungen und erleichtere es, die KollegInnen zu einer solchen Praxis zu motivieren. Zum anderen könne eine Konzentration darauf, von der Politik dieses Recht einzufordern, dazu führen, dass die Auseinandersetzung darum entpolitisiert und «auf später» verschoben wird. Weitgehende Einigkeit herrschte hingehend darin, dass das oftmals gegen den politischen Streik vorgebrachte Argument, dass damit eine Minderheit einer Mehrheit ihre Meinung aufzwinge, mit Recht zurückgewiesen werden könne. In einer Situation, in der die Kapitalinteressen sich den Staat so weitgehend dienstbar gemacht hätten wie heute, sei die Interessenartikulation mit Hilfe des Mittels des politischen Streiks geradezu ein notwendiges Mittel zur Wiederherstellung einer Demokratie, in der die Interessen der Mehrheit mit Aussicht auf Erfolg artikuliert werden können.

Wir laden alle KollegInnenen, aktiven GewerkschafterInnen, Aktive aus den sozialen Bewegungen und die interessierte Öffentlichkeit ein, sich bei der Streik-Konferenz vom 1. bis 3. März in Stuttgart zu den Themen, die hier nur angerissen werden konnten, auszutauschen, sich zu vernetzen, alte Handlungszusammenhängen zu stärken und neue Kontakt- und Handlungsnetze zu knüpfen. Die Konferenz bietet Raum, sich kennenzlernen, sich über konkrete Streikerfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung freut sich zusammen mit dem ver.di Bezirk Stuttgart, euch in Stuttgart begrüßen zu dürfen.

Alexander Schlager, Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg