Nachricht | Geschichte - Erinnerungspolitik / Antifaschismus «Jeder Tod besser als Treblinka»

Vor 70 Jahren brach am 19. April 1943 der Aufstand im Warschauer Ghetto aus. Der erste Aufstand der Zivilbevölkerung im besetzten Europa.

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Holger Politt,

Am Anfang gaben zwei Flaggen an einem Mietshaus Signal – ganz oben und weit sichtbar: die jüdische mit dem Davidstern und die weiß-rote polnische. Bekenntnis für das okkupierte Land und das eigene Volk. Unten in den Straßen des Warschauer Ghettos kämpften einige Hundert meist junge Menschen – überzeugte Zionisten neben überzeugten Bundisten, also Antizionisten, was nach den Treblinka-Transporten im Sommer 1942 keinen Unterschied mehr machte. Das Ghetto war nicht mehr abgeriegelte Großstadt für mehrere Hunderttausend zusammengepferchte Bewohner, es war nur noch Kleinstadt.

Der Kampf hatte eine Vorgeschichte. Am 9. Januar 1943 besuchte Heinrich Himmler das Ghetto, in dem offiziell nur noch 35.000 Menschen hausen sollten. Tatsächlich waren es aber nahezu doppelt so viele, jedenfalls erging der Befehl, weitere 8.000 Menschen abzutransportieren. Als dieser Befehl am 18. Januar 1943 vollzogen werden sollte, kam es erstmals zum Widerstand, bei dem ein Dutzend Deutsche getötet werden konnten. Die Transportaktion musste vorzeitig abgebrochen werden, was einigen Tausend Menschen für diesen Tag das Leben rettete. Der Zusammenhalt zwischen den jungen Kampfeinheiten und der übrig gebliebenen Ghettobevölkerung wurde zur wichtigen Voraussetzung für den 19. April 1943.

Ein Netz von mehr als 600 Bunkern unter den Wohnhäusern wurde ausgebaut. Die Deutschen brauchten, weil sie das Warschauer Ghetto restlos auszulöschen suchten, drei Wochen, um diese Widerstandswelt zu erobern. Hitlers General Jürgen Stroop berichtete am 16. Mai 1943 nach Berlin: „Nur durch den ununterbrochenen und unermüdlichen Einsatz sämtlicher Kräfte ist es gelungen, insgesamt 56.065 Juden zu erfassen bzw. nachweislich zu vernichten. Dieser Zahl hinzuzusetzen sind noch die Juden, die durch Sprengungen, Brände usw. ums Leben gekommen, zahlenmäßig aber nicht erfasst werden konnten.“

Der Aufstand im Ghetto war der erste jüdische Massenaufstand seit Jahrhunderten, zugleich der erste Aufstand städtischer Zivilbevölkerung im besetzten Europa. Überlebende Ghetto-Kämpfer betonten später, dass auch die Nachricht aus Stalingrad, der Sieg der Roten Armee allgemeiner Hoffnung Nahrung gab – der gemeinsame Feind, der schlimmste Feind der Menschheit wird geschlagen werden.

Vor allem aber war der Kampf letzter, entschiedener Schrei nach Vergeltung für die Greuel, die die Vollstrecker eines gnadenlosen Okkupationsregimes den unschuldigen Menschen millionenfach bereitet hatten. Für die unbeschreiblichen Zumutungen der offenen und geschlossenen, der kleinen und großen Ghettos, für den halben Preis, der den „Judenräten“ für die Transporte in die Vernichtungslager bei Kindern bürokratisch-pflichtgemäß abverlangt wurde, für Bełżec und Treblinka, Vernichtungsstätten, wie sie die Welt bis dahin nicht gesehen hatte, und in denen 1942/43 zusammen alleine über 1,3 Millionen Menschen einen barbarisch-industriemäßigen Tod fanden.

Mit jedem Jahr, das seit dem 19. April 1943 vergeht, wird der Schatten länger, der Schrei vernehmlicher. Der Aufstand im Warschauer Ghetto zählt zu den wichtigen Freiheitsschlachten in der Menschheitsgeschichte, ist der erschütternste Waffengang für Freiheit und Menschlichkeit des Zweiten Weltkrieges – auch wenn er in kaum einer Militärgeschichte vorkommen wird.

Am 19. April fällt es schwer, in Warschau ein Wort in der Sprache Goethes und Heines über die Lippen zu bringen.

Stellvertretend für die Kämpfer und die Menschen des Warschauer Ghettos:

Mordechaj Anielewicz

Tosia Altan

Tuwia Borzykowski

Marek Edelman

Eliezer Geller

Izrael Kanał

Rotblat Lejb

Cywia Lubetkin

Symcha Ratajzer-Rotem

Izrael Chaim Wilnem