Nachricht | Kultur / Medien - Digitaler Wandel «Netzsperren durch die Hintertür»

Der neue Jugendschutz-Medienstaatsvertrag sei in der jetzigen Fassung nicht praxistauglich, sagt die Informatikerin Constanze Kurz. Vortrag beim Gesprächskreis Netz- und Medienpolitik der RLS.

Aktueller Hintergrund: Am 9. Juni soll der Jugendschutz-Medienstaatsvertrag (JMSTV) ratifiziert werden. Ende April  gab es eine Anhörung im Berliner Abgeordnetenhaus, bei der im Anschluss Abgeordnete aller Fraktionen geäußert haben, dass man dem Staatsvertrag in seiner augenblicklichen Fassung nicht zustimmen könne. Auch die Rundfunkreferenten der Länder haben sich beraten. Eine weitere Anhörung findet dieser Tage im Landtag Sachsen-Anhalts statt. Inzwischen vertreten immer mehr Abgeordnete die Meinung, dass der Jugendschutz-Medienstaatsvertrag in seiner jetzigen Ausgestaltung seinen Sinn verfehle. Die Schwächen der JMSTV analysierte  die Informatikern Constanze Kurz in einem Vortrag für den Gesprächskreis Medien- und Netzpolitik der RLS. Constanze Kurz ist ehrenamtliche Sprecherin des Chaos Computer Clubs und wissenschaftliche Mitarbeiterin der HU Berlin in der Arbeitsgruppe Informatik in Bildung und Gesellschaft.

Das allgemeine Grundproblem des neuen Jugendschutz-Medienstaatsvertrags sei dessen durch den Rundfunk geprägte Sichtweise, so Kurz. Man habe versucht, Regelungen aus dem Fernsehen und Hörfunk auf das globale und interaktive Medium Internet eins zu eins zu übertragen. Obwohl das Internet selbstverständlich  kein rechtsfreier Raum sei, komme man dort mit den herkömmlichen Ansätzen in Sachen Jugendschutz nicht weiter.

Erweiterter  Anbieterbegriff: Als erstes und wichtigstes Problemfeld führt Kurz den neuen „Anbieterbegriff“ (§4) an. Im Vergleich zum alten JMSTV von 2003, wo lapidar von „Rundfunkveranstaltern und Anbietern von Telemedien“ die Rede ist, heißt es jetzt viel konkreter: „Anbieter von Plattformen sowie natürliche oder juristische Personen, die eigene oder fremde Telemedien zur Nutzung bereithalten“. Die KJM (Kommision für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten) konkretisierte diesen Begriff noch einmal in einer Erläuterung mit „Administrative Anbieter, Linksetzer, Anbieter von Inhalten.“ Nach der neuen Definition würden also auch Accessprovider und Anbieter von privaten Blogs und Plattformen darunter fallen, die sich fortan dem Jugendmedienschutz verpflichten müssten.

Sendezeiten: Für Spott und Häme auf Foren und Blogs haben die in Paragraph 5 geregelten Sendezeiten gesorgt, so Kurz. Analog zum Fernsehen und Radio sollen kinder- und jugendgefährdende Inhalte nur in der Zeit von 23:00 bis 06:00 Uhr morgens verbreitet werden, was in einem globalen Medium wie dem Internet undenkbar wäre.

In begrenztem Rahmen sei dieses Modell sinnvoll und möglich, räumte die Referentin ein. Dabei denke sie vor allem an die Mediatheken von ARD und ZDF, wo solche Inhalte wirklich nur in der vorgeschriebenen Zeit abrufbar sind. Undurchsetzbar wird diese Regelung allerdings für ausländische Anbieter, daher laufe dieser Paragraph völlig ins Leere.

 Alterkennzeichnung: Für höchst problematisch hält Kurz die ebenfalls in Paragraph 5 festgehaltenen  Regelungen zur Alterskennzeichnung. Vier Alterseinstufungen, ähnlich wie bei Filmen in Videotheken, sollen Anbieter nach dem neuen JMSTV künftig unverbindlich vornehmen. Unklar sei jedoch, ob sich damit auch Prüf- und Löschpflichten verbinden. Kommt es zu einer Zwangsklassifizierung von Inhalten? Dies seien  Rechtsunsicherheiten des vorliegenden Vertragsentwurfs, bemängelte Kurz. Unklar sei auch die Frage, wie man sicherstellt, dass Alterseinstufungen auch wirklich kompetent vorgenommen würden. Woher sollen Betreiber eines privaten Blogs oder Forums das Wissen für die korrekte Einstufung ihrer Inhalte erlangen, gab Kurz vor dem Auditorium des Gesprächskreises zu Bedenken. Im Gegensatz zu professionellen Rundfunkanbietern, die einen Jugendschutzbeauftragten haben oder auf die Kompetenz der Selbstregulierungsgremien USK oder FSK zurückgreifen können, seien private Anbieter in dieser Frage sehr auf sich allein gestellt. Es sei zu befürchten, dass viele Anbieter aus Angst, gegen Jugendschutzgesetzte zu verstoßen, vorsorglich die Einstufung „erst ab 18 Jahren“ treffen. In Deutschland seien von dieser Problematik nach aktuellen Schätzungen 4,5 Millionen Blogger und Betreiber von Internetplattformen betroffen.

Darüber hinaus führe diese Regelung zu unterschiedlicher Handhabung bei Onlinespielen und Spielen auf physischen Datenträgern, die man im Geschäft kaufen kann, so Kurz. Letztere werden seit Jahren von der USK geprüft. Für Onlinespiele würde künftig die KJM zuständig sein, die seit jeher eine „härtere Linie“ fahre und deutlich strenger in der Bewertung von jugendgefährdenden Inhalten vorgehe als die USK. Das führe sicherlich dazu, dass Anbieter von Onlinespielen ihre Spiele pro Forma nun auch auf DVD herausbringen, um die strengeren Anforderungen der KJM zu umgehen.

Schutzprogramme: Als letzten großen Kritikpunkt führte die Informatikerin die Jugendschutzprogramme in Paragraph 11 an. In Zukunft, so sehe es der neue JMSTV vor, sollen Filterprogramme für PCs angeboten werden, die man beispielsweise Schulen zur Verfügung stellen will. Obwohl diese bereits Bestandteil des letzten JMSTV waren, existierten immer noch keine Schutzprogramme, so Kurz. Wenn es sie denn jemals geben sollte, dann würden sie alle Webseiten, die sich dieser freiwilligen Kennzeichnung nicht unterwerfen, nach dem White-List-Prinzip automatisch herausfiltern. Ein Großteil des Netzes, darunter auch normale, nicht jugendgefährdende Inhalte würde dann für Kinder und Jugendliche ausgeblendet.  Das führe sogar zu einem verfassungsrechtlichen Problem: Denn auch Minderjährige seien Träger des Grundrechts auf Informationsfreiheit und hätten damit ein Recht auf Zugang zu allen Informationen im Netz.

Zum Abschluss betonte die Referentin, auch sie selbst habe keine „fertige Lösung“, für einen neuen Jugendschutz-Medienstaatsvertrag, doch persönlich bewerte sie die Chancen des Netzes höher als die damit verbundenen Risiken. Anstelle des „bewahrpädagogischen Ansatzes“ der Kommission für den Jugendmedienschutz (KJM) plädiere sie für die Vermittlung von mehr Medienkompetenz. Kinder- und Jugendliche dürften dabei nicht gleich behandelt werden. Regeln für Kinder sollten restriktiv sein, für Jugendliche sollten Ausnahmetatbestände festgelegt werden. Während bei kleinen Kindern Filterschutzprogramme nach dem White-List-Prinzip sinnvoll sein könnten, halte sie dies bei Jugendlichen für eine verfehlte Maßnahme. Ähnliche Vorschläge kamen auch aus dem Publikum, das nach dem Vortrag eifrig mitdiskutierte. Der Vorschlag für ein verstärktes „Flagging“, also nutzerbasierte Hinweismöglichkeiten auf jugendgefährdende Inhalte, wie es zum Beispiel Videoportale wie YouTube bereits jetzt schon anbieten, sei ein Weg für einen besseren Jugendschutz im Internet. Sie verwies dabei auch darauf, dass das Internet ein neues, eigenes Medium sei und nach „eigenen Gesetzen“ funktioniere. Für Bücher, Zeitschriften, Radio und Fernsehen wurden je eigene Regeln entwickelt – und dies über einen längeren Zeitraum. Beim Internet könne es nicht anders sein.

Weitere Ideen wie der Internetführerschein oder eine Internetpolizei wurden kontrovers diskutiert. Kurz machte deutlich, dass diese Vergleiche Lösungen nur suggerierten. Beim Führerschein erlerne man die Regeln des Straßenverkehrs sowie das Beherrschen des Kraftfahrzeugs. Doch für das Internet seien die Regeln bekannt. Jugendliche und Kinder könnten bereits mit der Technik umgehen. Mit einem „Führerschein“ könne man wohl IT- Sicherheit (Schutz vor Phishing, Datenschutz, Verschlüsselung usw.), jedoch keine Medienkompetenz vermitteln. Eine „Internetpolizei“ funktioniere bei festen Regeln wie auch bei der Verbreitung  strafbarer Inhalte. Damit diese im Sinne des Jugendschutzes tätig werden könne, bedürfe es klarer Regeln wie z.B. Sendezeitenvorgaben und Alterskennzeichnung. Doch diese würden das Problem nicht lösen oder gar die Medienkompetenz stärken.

Allgemein gab es eine Verständigung darüber, dass der eher unbequeme und vielleicht mühselige Weg zwischen totaler Kontrolle und totaler Freiheit, der Schule und Eltern mehr in die Pflicht nimmt, dem „bewahrpädagogischen“ Konzept vorzuziehen ist. Um die Medienkompetenz zu stärken, bräuchte man viel Geld für  Didaktik sowie für die Aus- und Weiterbildung. Es müssten dafür Ressourcen für Kita und Schule sowie für den Freizeitbereich bereit gestellt werden, da Medienkompetenz vor allem handlungsorientiert vermittelt werden sollte.

Eine Mehrheit der Anwesenden lehnte den neuen JMSTV in seiner derzeitigen Ausgestaltung ab. Zu guter Letzt wurde noch die Frage diskutiert, wie und mit welchen inhaltlichen Schwerpunkten man politischen Einfluss auf die Gestaltung eines neuen JMSTV nehmen kann, sofern dieser Anfang Juni auf der Ministerpräsidentenkonferenz scheitert  bzw. in nächster Zeit zur Neuverhandlung anstehen sollte.

(Bericht: Eleni Klotsikas)