Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - GK Geschichte Fotografie und Zeichnung der russischen Avantgarde, Ostfildern 2014

Lesenswerter Katalog über eine interessante Ausstellung, die noch bis September 2015 in Cottbus zu sehen ist

Information

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts suchten Künstler_innen neue Ausdrucksformen. Als die Fotografie (und dann der Film) die Abbildfunktion übernimmt, reagiert die moderne Kunst unterschiedlich. Sagen die einen, wie etwa die Expressionist_innen, „dann malen wir halt, was in uns ist“, entwickeln andere, wie die russische Avantgarde, auch angeregt von westeuropäischen Kunstströmungen, eine eigene, revolutionär ungegenständliche Darstellungsweise. Die von Dr. Beate Kemfert, Opelvillen Rüsselsheim, kuratierte Ausstellung (1) mit rund hundert Zeichnungen, Gemälden und Fotografien zeigt, wie die aus der bildenden Kunst kommenden Impulse nun das neue Medium der Fotografie verändern und wie das „fotografische Sehen“ sozusagen im Gegenzug Niederschlag in den Werken der Avantgarde-Künstler_innen findet.

Der großformatige Katalog enthält sehr viele Illustrationen in guter bis sehr guter Qualität. Sie sind inhaltlich so angeordnet wie in der Ausstellung und teilweise sind sie sogar größer als die Originale. Den Schluss bilden hilfreiche biographische Informationen und ein Glossar.

Alexander Rodtschenko, der zuerst Maler war, widmet sich früh, ab 1923, der Fotomontage. Mit seiner Leica erforscht er v.a. das großstädtische Leben –seine Aufnahmen zeigen ungewohnte Motive aus damals komplett unüblichen Perspektiven. El Lissitzky oder Georgi Selma übertrugen bildnerische Strategien auf die Fotografie. In der Gegenüberstellung mit Papierarbeiten und Zeichnungen, etwa von Kasimir Malewitsch oder Ilja Tschaschnik, wird die Fortführung von Suprematismus und Konstruktivismus mit fotografischen Mitteln sichtbar. In den 1920er Jahren arbeiteten Künstler_innen und Fotograf_innen begeistert an der Entwicklung einer neuen Gesellschaft. Ihr Glaube an die bessere Zukunft zeigt sich in der Darstellung des Menschen: Alltag, Arbeitsleben, die Fortschritte der Industrialisierung, Sport sind Themen, in denen die Vision des neuen, stets dynamischen Menschen ihren Niederschlag finden.

Die Erkundungen der Avantgarde enden jedoch, als das politische Klima der Sowjetunion immer reaktionärer wird. Anfang der 1930er Jahre verordnet die kommunistische Partei der Kunst den Sozialistischen Realismus, die Avantgarde-Künstler werden des Formalismus bezichtigt und ins Abseits gedrängt, über einige wird ein Berufsverbot ausgesprochen, andere machen noch Auftragsarbeiten. Aus der neuen Fotografie wird nun - auch - ein Instrument der Propaganda.

Beate Kemfert mit Alla Chilova (Hrsg.): Wir müssen den Schleier von unseren Augen reissen. Fotografie und Zeichnung der russischen Avantgarde aus der Sammlung der Sepherot Foundation (Liechtenstein); Verlag Hatje Cantz, Ostfildern 2014, 164 Seiten, 39,80 EUR

(1) Die Ausstellung zeigt Werke u.a. von Jewgeni Chaldei, El Lissitzky, Kasimir Malewitsch, Ida Nappelbaum, Ljubow Popowa, Alexander Rodtschenko, Olga Rosanova, Georgi Selma, Nikolai Sujetin, Wladimir Tatlin, Ilja Tschaschnik, Jakow Tschernichow und Nadesha Udalzowa. Sie war bereits in Rüsselsheim und Bochum zu sehen. Am 21. Juni 2015 ist die Ausstellung im Kunstmuseum Dieselkraftwerk in Cottbus eröffnet worden (dort noch bis zum 20. September zu sehen).

Bild: Alexander Rodtschenko, Stabhochsprung, 1937, © 2014 Alexander Rodtschenko bei VG-Bild-Kunst, Bonn/ Rodtschenko und Stepanowa Archiv, Moskau