Nachricht | International / Transnational - Krieg / Frieden - Nordafrika Die andauernde Politik von Blockade und Zerstörung des Gazastreifens

Runder Tisch zur Situation im Gazastreifen am 8. Juni 2015 im Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah

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Autorin

Katja Hermann,

Auch fast ein Jahr nach dem letzten verheerenden Gaza-Krieg ist vom Wiederaufbau nicht viel zu sehen, noch immer sind mehr als 100 000 Menschen obdachlos. Laut einem Bericht von medico international ist bislang kein einziges Haus, das im Sommer 2014 zerstört wurde, wiederaufgebaut worden. Auch gibt es nach wie vor kein langfristiges Waffenstillstandabkommen und, obwohl am Dringlichsten, es gibt keinerlei Planungen für ein Ende der Blockade des Küstenstreifens.

Um die Hintergründe dieser Situation kritisch zu beleuchten, und nicht nur in Zeiten von Krieg das Augenmerk auf den Gazastreifen zu legen, hat das Regionalbüro Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) am 8. Juni 2015 einen Runden Tisch zum Thema in Ramallah veranstaltet. Dr. Ghassan Khatib, ehemaliger palästinensischer Arbeits- und Planungsminister und gegenwärtig Vizepräsident der Birzeit Universität, gab einen Überblick über die derzeitige politische Lage im Gazastreifen. Dr. Nora Lester Murad, Publizistin und Aktivistin sowie Mitbegründerin der Hilfe-kritischen Initiative Aid Watch Palestine, eine Partnerorganisation der RLS, fokussierte in ihrem Beitrag auf die den Wiederaufbau verhindernde Rolle des sogenannten Gaza-Wiederaufbau-Mechanismus (GRM) sowie insgesamt des Hilfe-Systems (aid system) bei der Aufrechterhaltung des israelischen Blockade- und Besatzungssystems. Niemand stelle humanitäre Hilfe im Rahmen von Krisenszenarien in Frage, aber man könne nicht 67 Jahre humanitäre Hilfe leisten, ohne nach dem Warum zu fragen und ohne sich darüber Gedanken zu machen, inwieweit humanitäre Hilfe zu einem Teil des Problems geworden sei. Sie appellierte für einen kritischen Umgang mit den Hilfestrukturen und für die Übernahme von Verantwortung all derer, die in Palästina leben und arbeiten. Sie warnte eindrücklich davor, sich mitschuldig am System von Besatzung und Blockade zu machen. Trotz der geschwächten Verfassung der Zivilgesellschaft in Gaza in Folge der angespannten politischen und sozioökonomischen Lage, aber auch aufgrund der Hilfe-Hierarchie, in der Initiativen in Gaza auf der untersten Stufe stünden, da die Mittel zumeist in die Westbank gingen und von dort nach Gaza weitergereicht würden, gebe es dort starke und kreative Akteure, die sich für Kooperationen anböten.

Auch Dr. Ala Tartir, Programmdirektor von Al-Shabaka: The Palestinian Policy Network und Diskutant des Runden Tisches, verknüpfte die kritische Lage in Gaza mit einer grundsätzlichen Kritik an internationaler Hilfe in den Palästinensischen Gebieten. Die im Rahmen des Oslo-Verhandlungsprozesses etablierte internationale Hilfe-Industrie sei gescheitert, da sie ihre expliziten Ziele, nämlich einen Beitrag zu einem anhaltenden Frieden, zum Aufbau effektiver und verantwortlicher palästinensischer Institutionen sowie zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten, nicht erreicht habe. Ohne eine radikale Dekonstruktion dieses Hilfe-Ansatzes, der auf der von der Wissenschaftlerin Anne Le More beschriebenen und von Tartir erweiterten Gleichung basiere, dass „die USA entscheiden, die Weltbank leitet, die EU zahlt, die UN ernähren und Israel zerstört“, und in der Palästina als Akteur selbst nicht vorkomme, gebe es weder Hoffnung auf ein Ende der Besatzung noch die Möglichkeit eines tatsächlichen Wiederaufbaus des Gazastreifens, die Gelder würden so nur weiter verschwendet. Es sei die Aufgabe von allen, sich an diesem Neudenken von Hilfe zu beteiligen, nur Kritik an dem bisherigen System zu äußern, reiche nicht aus. Verantwortliche auf allen Seiten, auch auf palästinensischer, müssten mit dem Scheitern der Hilfe konfrontiert werden, um neue Dynamiken zu ermöglichen.

English version:

Gaza: The Continuing Politics of Siege and Destruction
Report by Katja Hermann, director of Rosa Luxemburg Stiftung Regional Office Palestine, about the RLS Round Table on the situation in the Gaza Strip, Ramallah, 8 June 2015