Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - GK Geschichte Paul Frölich: Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890 – 1921, Berlin 2013

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Marcel Bois,

Es war zweifellos eine kleine Sensation: Im Jahr 2007 verkündete das renommierte Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam, ein Mitarbeiter habe beim Aufräumen ein Manuskript wiederentdeckt. Der Text war knapp 70 Jahre zuvor entstanden – und galt seither als verschollen. Verfasst hatte ihn Paul Frölich.

Frölich ist vielen als erster Biograf Rosa Luxemburgs bekannt. Doch vor allem war er einer der wichtigsten und interessantesten Aktivisten, den die deutsche Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Im Jahr 1884 in Leipzig geboren, gehörte er im Kaiserreich zum linken Flügel der SPD und bekämpfte während des Ersten Weltkriegs die „Burgfriedenspolitik“ seiner Parteiführung. Er schloss sich den Bremer Linken an und war während der Novemberrevolution 1918 Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats in Hamburg. Wenige Wochen später beteiligt er sich am Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), zu deren führenden Vertretern er bis zum Jahr 1924 gehörte. Später zählte er zu den schärfsten Kritikern der Stalinisierung seiner Partei und musste sie daher im Jahr 1928 verlassen. Gemeinsam mit anderen Ausgeschlossenen wie Heinrich Brandler und Jacob Walcher gründete er die Kommunistische Partei Deutschlands-Opposition (KPO), mit deren Minderheit er schließlich im Jahr 1932 in die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) eintrat. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten folgten KZ-Haft und Jahre des Exils, zunächst in Frankreich, später dann in den USA. Im Jahr 1950 kehrte Frölich in die Bundesrepublik zurück, wo er nur drei Jahre später verstarb.

Den Text, den er im Jahr 1938 verfasste, hatte das IISG in Auftrag gegeben. Kurz nach seiner Gründung wandte sich das Institut an eine Reihe bekannter Persönlichkeiten aus der Arbeiterbewegung mit der Bitte, knapp gehaltene politische Erinnerungen zu verfassen. Die Vorgaben waren eindeutig: maximal 10 Druckbögen, dafür gab es 300 Gulden. Man kann sagen: Zum Glück hat Frölich sich nicht daran gehalten. Über 300 Seiten reichte er ein.

Recht bald nach der Wiederentdeckung ist Frölichs Manuskript veröffentlicht worden – allerdings zunächst auf Italienisch (Autobiografia. Dalla Lipsia operaia di fine ‘800 allʼazione di marzo del 1921, Mailand 2010, siehe hierzu die ausführliche Besprechung von Paola Foraboschi in: JBzG, H. 3/2012, S. 199-201) und Französisch (Autobiographie 1890-1921. Parcours dʼun militant internationaliste allemand. De la social-démocratie au parti communiste, Montreuil-sous-Bois 2011). Nun hat der Mainzer Historiker Reiner Tosstorff es dankenswerterweise auch in seiner Ursprungssprache an die Öffentlichkeit gebracht.

Dem Band vorangestellt ist ein kurzer Briefwechsel Frölichs mit Boris Nikolajewski, der in Paris eine Außenstelle des IISG leitete. Die Korrespondenz aus dem Sommer des Jahres 1938 illustriert die Planungen für Frölichs Text. Im Anhang des Buches finden sich weitere Dokumente, ein umfangreicher Anmerkungsapparat und ein Nachwort Tosstorffs zu den Lebenswegen von Frölich und dessen Frau Rosi Wolfstein.

Den Hauptteil des Buches stellen die politischen Erinnerungen Frölichs dar. Sie umfassen die Jahre 1890 bis 1921, reichen also von seiner Kindheit in Leipzig bis zur „Märzaktion“, einem gescheiterten Aufstand in der Industrieregion um Halle und Merseburg. Dann enden die Ausführungen abrupt. Weshalb Frölich, anders als geplant, nicht mehr die Zeit bis 1924 berücksichtigte, ist nicht bekannt. Bedauernswert ist es allemal, handelt es sich doch hier um eine wichtige Phase in der Entwicklung der KPD. Die Herausbildung der Einheitsfrontpolitik fällt ebenso in diese Zeit wie der „Deutsche Oktober“ des Jahres 1923, der das Ende der revolutionären Nachkriegsperiode markierte und damit einen Wendepunkt in der Geschichte des internationalen Kommunismus darstellte.

Möglicherweise hätte die historische Kommunismusforschung auch hier von dem enormen Insiderwissen profitieren können, über das Frölich als ehemals führendes KPD-Mitglied verfügte – und das er ein ums andere Mal in seinen Text einfließen lässt. Immer wieder berichtet er über bislang wenig erforschte Ereignisse, beispielsweise die Konferenzen der Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) im Vorfeld der KPD-Gründung.

Spannend lesen sich auch die Charakterisierungen, die Frölich von Zeitgenossen und Wegbegleitern zeichnet. Zu nennen sind hier Karl Radek, mit dem er gemeinsam in der Redaktion der „Bremer Bürgerzeitung“ arbeitete, oder Leo Jogiches, der Anfang 1919 kurze Zeit die KPD leitete. Ihn schildert Frölich als höchst widersprüchliche Figur, einerseits als „Diktator“ und „kalten Parteichef“, anderseits als „Organisator großen Formats“: „Dennoch lernte ich den Mann verehren. Seine Hingabe an die Sache war schrankenlos. Seine Arbeitskraft setzte in Erstaunen.“ (Zitate von den S. 173-176) Ebenfalls sehr ambivalent beschreibt er Jogiches Nachfolger Paul Levi. Dieser habe zwar über außergewöhnliche analytische Fähigkeiten verfügt, als Parteivorsitzender jedoch versagt: „Sein politischer Habitus war zu einseitig intellektuell bestimmt. Ihm fehlte die innere Beziehung zu den Massen, zu den Menschen überhaupt. Er hatte nicht die Geduld, die Menschen zu verstehen, sie zu überzeugen und zu gewinnen“ (S. 254).

Überhaupt ist Frölichs Subjektivität eine große Stärke. Bei seinen Ausführungen handelt es sich nicht einfach um ein Buch zu drei Jahrzehnten deutsche Arbeiterbewegung, sondern um einen „wirklichen autobiographischen Text“, wie Herausgeber Tosstorff betont: „Frölich schildert sein eigenes Tun und Wollen samt der Situation, auf die er jeweils traf. Die allgemeine Geschichte tritt nur hervor, insoweit sie mit seinen persönlichen Erlebnissen verknüpft ist“ (S. 330).

Insgesamt erfordert die Lektüre von Frölichs Buch zwar gewisse Vorkenntnisse der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Doch wer über sie verfügt, wird den Band mit großem Gewinn lesen. Auch für Einsteiger ist er durchaus geeignet, da Frölich – nicht zuletzt dank seiner journalistischer Schreibe – ein äußerst lebendiges Bild des sozialdemokratischen und kommunistischen Milieus im späten Kaiserreich und der frühen Weimarer Republik zeichnet.

Tosstorffs abschließendem Wunsch, „dass Paul Frölich bald einen Biographen findet, der sein Leben aus den reichhaltig überlieferten Dokumenten darstellt“ (S. 355), kann man sich nur anschließen. Eine solche Arbeit könnte eine der letzten großen Lücken der KPD-Forschung schließen.

 Paul Frölich: Im radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890 – 1921, hg. und mit einem Nachwort von Reiner Tosstorff, BasisDruck, Berlin 2013, 416 Seiten.

Diese Rezension erschien zuerst in der Ausgabe 2015/II des - wie immer lesenswerten - Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung.