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Interview mit Iman Aoun, künstlerische Leiterin des ASHTAR Theatre, über das Festival „Theater der Unterdrückten“ in Palästina.

 

Das palästinensische ASHTAR Theatre produziert und performt Stücke, die sich mit verschiedenen Herausforderungen der palästinensischen Gesellschaft auseinandersetzen. Mit dem kritischen Ansatz des "Theaters der Unterdrückten" versucht ASHTAR das Publikum durch die Einbindung in die Theaterstücke zu aktivieren: aus passiven Besuchern werden aktive Teilnehmende. 

Über die Möglichkeit der Intervention durch Theater sprach Holger Harms, Rosa-Luxemburg-Stiftung Ramallah, mit Iman Aoun vom ASHTAR Theatre in Ramallah.

Ich sah die Eröffnungsvorstellung Even at home des diesjährigen Festivals „Theater der Unterdrückten“ in Ramallah und das Stück Sahar am Yes Theatre in Hebron und war tief beeindruckt von den jungen selbstbewussten Schülerinnen, die dort auf die Bühne traten. Sind Sie auch immer noch beeindruckt vom Forumtheater?

Natürlich! Jedes Stück ist eine neue Welt für sich, denn jedes Thema, dass wir durch das Forumtheater ansprechen, erzeugt verschiedene Arten der Intervention und Interaktion aus dem Publikum. Jedes Mal, wenn wir etwas aufführen, glauben wir, dass dieses Stück weiter aufgeführt werden sollte. Auch das Publikum bestätigt, dass wir wichtige Themen ansprechen und weitermachen sollen. Zum Beispiel Even at home, ein Stück, das sich mit Inzest beschäftigt: Das Publikum fragte uns, warum wir nicht an jede Schule gehen, weil es wichtig ist, das Bewusstsein bei den Jungen und Mädchen über Inzest zu wecken. Auch das Stück Station, welches von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt wurde, ist perfekt für die aktuelle politische Situation, es regt eine Debatte an. In der Regel debattieren Menschen über Politik nur in einem kleinen Kreis oder an den Universitäten, aber nie gibt es eine dynamische und offene Diskussion.


Glauben Sie, dass das Publikum das Theater als eine besondere Sphäre begreift, in der sich Menschen frei ausdrücken können und offen sind für neue Ideen?

Definitiv ist dies das indirekte Ergebnis jeder Aufführung, einen Ort, eine Plattform für neue Ideen zu schaffen. Es geht um die Entwicklung dieses demokratischen Gebens und Nehmens von Ideen. Normalerweise wird nur in Universitäten debattiert. Sie finden keine öffentliche Debatte in der Gesellschaft.


Lassen Sie uns zurück zu den Schülerinnen kommen, die an den Theateraufführungen teilgenommen haben. Ich nehme an, dass wenn man sie direkt zu Themen wie Inzest und Vergewaltigung befragen würde, sie vielleicht Hemmungen hätten, darüber zu sprechen. 

Zunächst benötigen Sie einen Stimulator und dann muss man Empathie gegenüber dem Thema wecken. Zugleich ist es einfacher für die Menschen aktiv zu werden, weil es nicht um sie persönlich geht, sondern um die Person im Stück. In eine Rolle zu schlüpfen macht es einfacher, Gefühle auszudrücken.


Als ich zum ersten Mal von der Idee des Forumtheaters hörte, habe ich mir vorgestellt, dass die Leute schüchtern wären und nicht auf die Bühne gehen würden. Es hat mich wirklich erstaunt, dass sie in der Tat begierig waren, dies zu tun.

Das ist stets der Fall. Die Probleme, die wir ansprechen, sind wirklich drängend, das Publikum hat die Nase voll, die Menschen wollen über diese Dinge sprechen. Es ist nicht irgendetwas Hypothetisches, sondern es handelt sich um sehr naheliegende Fragen.


Haben Sie eine bestimmte Idee im Kopf, wenn Sie ein Stück entwickeln, was sie ausdrücken wollen?

Wir analysieren die Realität, bennenen sie und versuchen das auf die Bühne zu bringen. Wir gehen nicht davon aus, dass wir wissen wie es ist und das Publikum nicht.

Was geschieht, wenn das Problem als solches nicht anerkannt wird?
Selbstverständlich werden alle Probleme, die wir ansprechen, verdrängt, sonst gäbe es keine Notwendigkeit, sie überhaupt anzusprechen. Warum sollten wir es sonst tun? Wir werfen Fragen auf, die entweder Tabus betreffen, althergebrachte Routinen in Frage stellen oder Vorfälle, die zu einem Problem anwachsen, behandeln. Forumtheater ist anders als normales Theater. Im normalen Theater halten sie sich an eine schriftliche Vorgabe oder haben eine Idee als Dramaturg oder Regisseurin und sie sagen den Darstellenden, was Sie wollen. Im Forumtheater kommt die eigentliche Geschichte in der Regel aus der Gruppe, mit der sie arbeiten. Dies war der Fall bei Even at home, des Eröffnungsstücks des diesjährigen Festivals. Oder Sie haben eine Idee, der sie nachgehen und sie informieren sich über ein Thema, wie bei Station. Sie vermitteln nur die Realität in einer künstlerischen Art und Weise.

Ist die Darstellung der Realität wie Sie sie wahrnehmen nicht schon eine Interpretation derselben?

Es ist eine Interpretation, klar, keine Dokumentation. Es geht um "nicht realen Realismus". Die Geschichte ist vielleicht nicht die Geschichte, die einer Person X geschieht, aber es ist die Art von Geschichte, die passiert. Ich mache Forumtheater, um eine progressivere Gesellschaft zu schaffen. Um Grausamkeiten zu beenden, um Gewalt gegen Frauen zu stoppen, um Vergewaltigung zu stoppen. Natürlich habe ich meine Gründe, warum ich die Arbeit mache, ich tue es nicht nur um Theater zu spielen oder zu unterhalten. Ich will das Publikum auf Dinge aufmerksam mache, ich will eine bessere Gesellschaft, eine progressivere Gesellschaft. Ich möchte eine Gesellschaft, die in der Lage ist, die sozialen und politischen Probleme anzugehen.

 

Das kann zu Konfrontationen führen.

Natürlich, Theater ist Konfrontation. Theater ist eine Avantgarde-Aktion, vor allem das Forumtheater. Es ist die Suche nach den alternativen Wegen, die Suche nach Herausforderungen und Veränderungen. Es geht um Transformation. Nicht nur beim Publikum, auch in den Gruppen mit denen wir arbeiten. Diese Gruppen haben verschiedene, manchmal problematische Hintergründe. Es sind  Menschen mit hohen Erwartungen und geringen Möglichkeiten, sie zu erfüllen. Wir versuchen einen möglichen Weg aufzuzeigen, sich in der Gesellschaft zu engagieren, um eine ganzheitliche Veränderung zu erreichen.

Was ist Ihr Verständnis von Avantgarde in diesem Zusammenhang?

Zu versuchen, einen Schritt nach vorn zu machen. Ich will etwas verändern, ich will den Menschen einen Raum geben, um alternativ zu denken und nicht dem Mainstream der Massenmedien und der Politik folgen zu müssen.

 

Ist es heute schwieriger mit Forumtheater zu arbeiten als noch vor einigen Jahren?

Es ist das gleiche. Nur die Probleme haben zugenommen, alte Probleme wurden nicht gelöst und neue kamen hinzu. Zum Beispiel war die Lage von Frauen in den 1970er und 1980er Jahren viel besser als jetzt. Dies hat auch mit der wirtschaftlichen Situation zu tun und mit der Tatsache, dass es keine politische Lösung gibt, sondern politische Frustration, wachsenden Islamismus und ungebremsten Bevölkerungswachstum.

 

Die Probleme haben also zugenommen. Würden Sie denn sagen, dass auch die Offenheit der Menschen gegenüber diesen Problemen zugenommen hat?

Sie hat abgenommen. Es stimmt zwar, die Leute reden mehr über Gewalt gegen Frauen oder die sogenannten Ehrenmorde. Mehr Organisationen beschäftigen sich mit diesen Themen. Je mehr sie machen, desto größer werden die Probleme (lacht), es ist verrückt. Es gibt mehr und mehr soziale Ressentiments. Immer mehr Menschen sind rückwärts gerichtet. 

Was waren Ihre Erwartungen, als Sie mit dem Forumtheater begonnen haben,  und wie sehen Sie diese heute?

Als wir anfingen, wollten wir jungen Menschen mehr Wissen über das Theater vermitteln und sie zu professionellen Theatermacher_innen ausbilden. So haben wir begonnen. Schnell haben wir realisiert, dass unsere Gesellschaft stark segmentiert ist und wir nicht so weitermachen konnten, wir mussten zu den Leuten gehen und über ihre Sorgen und Probleme reden. Je mehr wir gelernt haben, umso mehr wollten wir machen und unser Programm hat sich erweitert. Von einem einzelnen Projekt im Jahr 1991, der Ausbildung von jungen Menschen, bis zum Festival „Theater der Unterdrückten“, ein großes Programm, das sich mit den Problemen unserer Gesellschaft auseinandersetzt.


Standen Ihnen Mittel zur Verfügung, um ihr Programm auszuweiten, zum Beispiel vom Kulturministerium?

Manchmal gab es hier und da vom Ministerium für Kultur ein wenig Geld. Aber es gibt keinen politischen Willen zur Förderung von Kultur seitens der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), den hat es nie gegeben. Es gibt keine Vision, wie man eine nachhaltige kulturelle Strategie entwickeln kann. 

Vielleicht ist das eine naive Frage, aber was denken Sie, ist der Grund dafür?
Zunächst einmal ist es Politik. Unsere Regierung hält Kultur für nicht besonders wichtig, sie betrachtet Sicherheit als den wichtigsten Faktor. Der Punkt ist, dass es einen Mangel an Klarheit in der ganzen PA gibt. Die Politiker_innen sehen nicht, dass die Kultur wirklich eine Veränderung für junge Menschen und für die Gesellschaft im Allgemeinen bedeuten kann. Die Verantwortlichen haben keine Erfahrung mit Kunst oder Kultur und deswegen auch nicht das Gefühl, sich dafür einsetzen zu müssen.

 

Und Sie glauben, eine neue Generation wird anders handeln?

Wenn es weiterhin keine Kunst und kein Theater in den Schulen gibt und das Theater die Gesellschaft nicht erreicht, wenn wir den jungen Menschen kein Wissen über Theater vermitteln, wird sich nichts verändern.

 

Kommen wir zurück zum Festival „Theater der Unterdrückten“. Wie sind Sie auf das diesjährige Motto "Break your silence ... share your stories" gekommen?

Wir versuchen jedes Jahr etwas Besonderes zu machen, uns auf etwas zu konzentrieren. Beim letzten Festival haben wir uns mit dem Thema Jugend beschäftigt, in diesem Jahr widmen wir uns dem Thema Frauen. Als Statement: um das Bewusstsein zu erhöhen, um die zunehmende Gewalt gegen Frauen zu beenden. Tag für Tag hören Sie von Morden an Frauen. Es ist genug! Selbst wenn wir jeden Tag ein Stück entwerfen, werden wir am Ende nicht diese Unterdrückung beenden, egal, was wir tun, wie viel wir tun. Aber zumindest versuchen wir es.

Können Sie schon eine Bilanz des Festivals ziehen?

Ich denke, es war ein Erfolg. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten mehr internationale Teilnehmer gehabt. Ich hätte auch gerne noch mehr Publikum gehabt, aber dennoch bin ich mit dem Ergebnis zufrieden. Wir hatten gut besuchte Häuser, aber natürlich hoffe ich immer darauf, noch mehr Menschen zu erreichen, vor allem in den ländlichen Gebieten. Wir konnten einige Leute in Hebron erreichen, in Nablus, in Assira. Die Arbeit mit der Gruppe von Even at home hat mir viel Freude bereitet. Das waren alles Laien und sie haben ihre ganze Zeit und Energie in das Stück gesteckt. Ich habe gesehen, wie sie sich vor meinen Augen verändert haben, das war eine Art Belohnung für mich. Auch die Teilnehmer waren wirklich interessant. Der Workshop, den wir zusammen mit einer Gruppe aus Frankreich gemacht haben, war sehr gut, sehr intensiv und hat unser Wissen erweitert. Auch das Publikum war sehr aktiv, wir hatten viele tolle Aufführungen.

Holger Harms ist Politikwissenschaftler und setzt sich kritisch mit Ansätzen und Formen von Entwicklungspolitik auseinander. Im Frühsommer 2013 unterstützte er mehrere Monate das Palästina-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit.