Das laufende Heft der von einem Kreis aus dem Göttinger Institut für Demokratieforschung produzierten und von Franz Walter herausgegeben INDES hat den Schwerpunkt „1913“ (Editorial als PDF). Dieser Titel spielt mit dem gleichnamigen des Buches von Florian Illies, und folgerichtig beginnt das Heft mit einem Interview mit Illies.
Walter skizziert dann 1913 als „Schicksalsjahr der Sozialdemokratie“. In diesem Jahr hat die SPD knapp 1 Million Mitglieder, 1913 stirbt August Bebel (der Arbeiterkaiser), Willy Brandt wird geboren und Friedrich Ebert (der Parteimaschinist) wird Parteivorsitzender. Anhand dieser drei Personen und ihren Biografien verdeutlicht Walter die Entwicklung der SPD.
In einem weiteren, fulminanten Text erzählt Walter vom Treffen der deutschen Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner, einem zwischen Kassel und Göttingen gelegenen Berg. Deutschlands Bevölkerung war jung im Jahr 1913: Laut Walter waren 25 der 56,4 Millionen Einwohner_innen unter 25 Jahre alt. Das Treffen auf dem Hohen Meißner war als Gegenveranstaltung zur Einweihung des nationalistisch-militaristischen Völkerschlachtdenkmal in Leipzig angesetzt. Walter stellt einige prägende Akteure und ihr Wirken näher dar, insgesamt hält er die Jugendbewegung aber für einen „keineswegs oppositionellen Til des bildungsbürgerlichen, spätwilhelminischen Deutschlands“.
Als bürgerliche Sehnsucht nach einer anderen Moderne deutet Michael Lühmann in seinem kenntnisreichen Artikel die Anthroposophie, der er angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart bescheinigt, in einer erhöhten Aufmerksamkeit zu stehen. Die Anrufung von Gesundheit und Authentizität wiederhole sich 100 Jahre später (wieder). Ob allerdings die Anthroposophie „an die Gestaltbarkeit einer anderen Moderne glaubt, ohne zugleich der Moderne entfliehen zu wollen“, wie Lühmann meint, bliebe in einer differenzierten Diskussion zu überprüfen. Richtig ist, und das beschreibt Lühmann, dass sich die Anthroposophie veralltäglicht und banalisiert hat und dadurch nun interne Debatten um den richtigen Weg der anthroposophischen Bewegung ausbrechen.
Gabriele Kieswetter berichtet über die Eröffnung des Woolworth Building in New York, das mit seinen 241 Metern als erster richtiger Wolkenkratzer - und damit als ein Prototyp - gilt.
Heinz-Peter Schmiedebach schreibt über die Anfang des 20. Jahrhundert konstatierte Nervenschwäche. Diese „Krankheit“ wurde seinerzeit Neurasthenie genannt und mit „Erschöpfung“ in Zusammenhang gebracht. Als Ursachen wurde eine, durch Innovationen wie Elektrizität, Telegraphie, Eisenbahn und das immense Wachstum der Städte ausgelöste Beschleunigung des Lebens und „Reizüberflutung“ angesehen. Von Erschöpfung und Nervosität sei in erster Linie der feinsinnige betroffen, obwohl, wie Joachim Radkau (München 1998, mehr), den Schmiedebach zustimmend zitiert, nachweisen konnte, dass auch „Arbeiter“ betroffen waren. Dann zieht Schmiedebach Parallelen zur derzeitigen Debatte um Burn-out, die das Ende der Industriegesellschaft begleite, wie seinerzeit die Nervenschwäche deren Beginn. Er sieht aber mehr Differenzen, als Gemeinsamkeiten. Diese These ist aber teilweise schwach ausargumentiert. So schreibt Schmiedebach, die Debatte um Burn-out sein kein Platzhalter für eine andere, die dadurch indirekt thematisiert werden könne. Bei der Neurasthenie seien dies allgemein psychische Krankheiten und speziell Sexualstörungen gewesen. Aber ist es nicht heute so, dass die Debatte um Burn-out eine Chiffre für die Problematik von Depressionen und allgemein der individuell-destruktiven Folgen der multiplen Krisen ist?
Viele der angenehm zu lesenden Texte vermögen es gut, die Leserin in die vier Generationen entfernte (Vorkriegs-) Zeit zu entführen. Das insgesamt erst siebente Heft der 2011 gegründeten INDES ist sehr lesenswert und weit besser als die zwei, drei Hefte vorher.
INDES, 148 Seiten, Einzelheft 16,95 EUR, http://www.indes-online.de