
Mariä Himmelfahrt – es ist eine Prozession der besonderen Art, die am Donnerstagmorgen an der französischen Kirche in Leidingen startet. Ein Tross von über 80 Leuten konkurriert früh um zehn mit den katholischen Kirchgängern um die Parkplätze und bringt auch den motorisierten Pastor auf der vergeblichen Suche nach einem Stellplatz ganz unchristlich zum Fluchen.
Trillerpfeifengesteuert windet sich der Besucher-Bandwurm durch die engen Straßen und legt den Feiertags-Verkehr lahm.
Mit einem kleinen Trupp hatte man gerechnet, nun hat sich die regionale Exkursion zu einer Art Volkswanderung ausgewachsen. 1983 hatte der in saarländische Schriftsteller und Filmemacher Alfred Gulden die Filmdokumentation „Grenzfall Leidingen“ vorgestellt; fünfter Teil seiner SR-Reihe „Der Saargau“ und ausgezeichnet mit dem Deutsch-französischen Journalistenpreis.
Aus Anlass der Erstausstrahlung der Doku vor 30 Jahren hatten nun die Peter-Imandt-Gesellschaft und die Rosa-Luxemburg-Stiftung Saar zu einer literarischen Wanderung entlang der deutsch-französischen Grenze zwischen Leidingen und Leiding eingeladen.
Erste Lese-Station ist das französische Grenzblickfenster, eingeweiht im Juni 2012, das den Blick freigibt auf den Zwiebelturm der deutschen Kirche gegenüber. Ins Fenster eingraviert ist Guldens Gedicht „De Grenz/Die Grenze“.
Gefunden hat er die Grenze hier in Leidingen, „mitten auf der Straße“ – auf jener Grenzstraße, deren deutscher Teil den Namen „Neutrale Straße“ trägt, während der französische „Rue de la Frontière“ heißt. Auf ihr geht es an alten Grenzsteinen vorbei zum Dorf hinaus. „Es sind zwei Welten, da können wir reden, wie wir wollen“, sagt Gulden. Im Rucksack schleppt er zwei Bildbände „Der Saargau. Reise in die nächste Fremde“ und „Der Saargau. Die wiederentdeckte Nähe“ sowie die Essay-Sammlung „Nur auf der Grenze bin ich zu Haus“ mit.
An Streuobstwiesen entlang führt der Muschelkalk-gesäumte alte Gauweg hinab zur Königsmühle: Hier soll einmal Louis XIV. genächtigt haben – und hier trennen sich die Wanderer von den Spaziergängern.
Die Fußlahmen flanieren zurück, der harte Kern stemmt den Aufstieg.
Mit dabei und trotz seiner 90 Jahre fitter als alle anderen: der Kulturjournalist und ehemalige SR-Redakteur Fred Oberhauser, in stetem Dichterlob begriffen.„Der weiß gar nicht, was er an sich hat“, brummt er kopfschüttelnd über Gulden, der derweil abwechselnd über die „Berufseuropäer“ in Brüssel schimpft oder in Schwärmereien über „Meine Kindheitslandschaft!“ schwelgt.
Eine Landschaft, in der Kinderphantasie Heuballen in Wigwams verwandelt; deren Stoppelfelder von der Augustsonne goldgelb gedörrt sind, über der ein roter Milan am lichtblauen Himmel einsam seine Kreise zieht und wo am Horizont Fallschirmspringer bunte Flecken in die zarten Schleierwolken tupfen. Und wo man in der Ferne neben Windrädern auch die Kühltürme von Cattenom ragen sieht.
Trotz Abkürzung querfeldein dauert es dreieinhalb Stunden, bis man am Grenzblickfenster auf deutscher Seite ankommt. Danach erwartet die müden Wanderer ein Essen im Garten der Destillerie David-Johannes im Alten Klosterhof, wo Gulden aus seinem 1984 veröffentlichten Roman „Die Leidinger Hochzeit“ liest.
Serviert wird das aus dem Roman nachgekochte Hochzeitsmenü. Die regionalen Rezepte der 50er Jahre kennt Gulden – von seiner Mutter und seinen Tanten.
Auszug SZ-Bericht von Kerstin Krämer, 17.8.2013
Fotos: Gisela Ruge_Patric Bies