Nachricht | GK Geschichte Wieviel Geschichte machte der »Tschekist« und Ohnesorg-Todesschütze Kurras?

Kommentar von Christoph Lieber, aus: Sozialismus Juni 2009

Der Historiker in der Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin, Helmut Müller-Enbergs, fiel nach eigener Aussage fast vom Stuhl, als er auf 17 »vorbildlich geführte« Aktenbände über den Todesschützen Benno Ohnesorgs, den Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras, stieß. Die Akten hätten lediglich das Kürzel »GH 2/70« (»Geheime Ablage«) getragen und der Name Kurras sei aus der Klarnamendatei des MfS gelöscht und auch in der IM-Kartei bislang nicht aufgefunden worden.

Aus dem Aktenfund geht hervor, dass der Polizist Kurras, der den Studenten während der Anti-Schah-Demonstration am Abend des 2. Juni 1967 im Hof des Hauses Krumme Straße 66/67 in Westberlin durch einen Schuss in den Hinterkopf tötete, seit dem 26. April 1955 als informeller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit im Westen geheimdienstlich tätig war. Zur Stasi war er in Ostberlin als so genannter Selbststeller gestoßen - ein in jener Zeit nicht ungewöhnlicher Vorgang in der »geteilten« Frontstadt. Nach einer Kandidatenzeit ab Dezember 1962 wurde er am 28. Juli 1964 auch ordentliches Parteimitglied der SED.

Dieser Aktenfund wird den Deutungskämpfen um den Mythos '68, die schon immer zwischen nostalgischen Rückblicken, Selbstbestätigung, aber auch scharfer bis denunziatorischer Polemik und (Selbst-)Abgrenzungen sowie Geschichtsrevisionismus schwankten, weitere, in diesem Fall depremierende Details hinzufügen. 2008 versuchte der »Zeithistoriker« Götz Aly seine eigene politische Vergangenheit als spätradikalisierter Maoist der gesamten 68er-Bewegung unterzujubeln. Er verkannte dabei, dass K-Gruppen und Sekten eines angeblich »roten Jahrzehnts« in Wahrheit Nach-68er-Zerfallsprodukte waren.

Umgeschrieben werden musste und muss die Geschichte deshalb nicht - weder wegen solcher Zerfallsprodukte noch wegen der neuen Aktenlage, einem Zerfallsprodukt ganz eigener Art. Die Geschichte umzuschreiben werden nur solch beschränkte Weltbetrachter für nötig halten, die die damaligen kulturellen und politischen Verwerfungen in der Bundesrepublik auf »Ruhestörung« und »Männer machen Geschichte« (»Es war ein Schuss, der Deutschland veränderte « - Welt Online vom 22.5.2009) reduzieren. Für solche Zeitgenossen besteht Geschichte in der kleinbürgerlichen Schlüssellochperspektive auf Spione, Agenten und Strippenzieher. »Wenn Kurras in der SED war, wer war dann eigentlich Alexander der Große, für den die Quellenlage mäßig ist? Oder Julius Cäsar?« befragen die Spiegel-Redakteure den wehenden Mantel der Geschichte (25.5.2009). Festen Geschichtsboden unter ihren Füßen fühlen diese Journalisten erst, wenn sie behaupten können: »Ein Kommunist erschießt einen Linken, diese Nachricht ist nicht mehr zu instrumentalisieren. « (ebd.) Aber sie selbst tun genau dies.
Komplette Fassung im PDf-Dokument (siehe unten).

Christoph Lieber ist Redakteur von externer Link in neuem Fenster folgtSozialismus. Der Beitrag ist in Heft Juni 2009 von Sozialismus erschienen. Wir danken für die Erlaubnis zur Publikation.

Hinweis: Dossier 68er Bewegung. Der 2. Juni und die Staatssicherheit der Bundeszentrale für politische Bildung: Der Polizist Karl-Heinz Kurras, der den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin erschoss, war Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Das beweisen Unterlagen der Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU). Helmut Müller-Enbergs undCornelia Jabs über Kurras und den 2. Juni 1967.http://www.bpb.de/themen/EIRZV5