Nachricht | International / Transnational - Europa - Ukraine Streit um den «ukrainischen Bissen»

Vitali Atanasow über den Sinneswandel der Regierenden in Kiew und dessen Hintergründe

Vitali Atanasow (33), Journalist in Kiew, beschäftigt sich vor allem mit sozialen Problemen und Analysen der ukrainischen Gesellschaft. Er selbst bezeichnet sich als linken Aktivisten. In Berlin, wo Atanasow Gast der Rosa-Luxemburg-Stiftung war, befragte ihn Detlef D. Pries (neues deutschland) zu den aktuellen Ereignissen in der Ukraine.

Waren Sie überrascht, als die ukrainische Regierung die Unterzeichnung des Assoziierungs- und Freihandelsabkommens mit der EU gestoppt hat?

In gewissem Sinne ja, denn anderthalb Jahre lang baute die ganze Werbestrategie der Regierung auf der kommenden Unterzeichnung dieses Abkommens auf. Es gab ja sonst nichts, dessen sie sich rühmen konnte: Die Wirtschaft stagniert, die soziale Ungleichheit nimmt zu, die Korruption ist ungebremst. Nur die mögliche Annäherung an die EU schien sich als Trumpf ausspielen zu lassen.

Was macht die EU-Assoziierung in den Augen vieler Ukrainer so anziehend?

Nach dem Fall der Sowjetunion war die Hoffnung groß, dass die unabhängige Ukraine ein blühendes, demokratisches Land wird. Daraus ist bis heute nichts geworden. Mit der EU-Assoziierung verbinden daher viele die Hoffnung auf Veränderungen zum Guten. Die ukrainische Politik wird sehr oft von Mythen beherrscht, von abstrakten Ideen, statt von den realen Problemen. Da wird über Nation, Sprache, Religion gestritten, aber das Wichtigste, die sozialökonomischen Probleme, unter denen die Mehrheit der Bevölkerung leidet, spielt in der öffentlichen Auseinandersetzung keine Rolle. Stattdessen streiten der Präsident und die Opposition darum, wer der größere «Eurointegrator» ist.

Verstehen Sie die Gründe, die zur Wende der Regierung und des Präsidenten geführt haben?

Man muss unterscheiden zwischen den öffentlichen Erklärungen und dem, was hinter den Kulissen abgelaufen ist. Der Präsident sagt, eine zu schnelle Annäherung an die EU könne die wirtschaftliche Lage erschweren. Damit spielt er auf den Druck der Russischen Föderation an, und tatsächlich spielt Russland für die Energieversorgung und die Exportwirtschaft der Ukraine nach wie vor eine bedeutende Rolle. Dazu kommen andere Gründe: Offenbar hat sich Janukowitsch von den Mächtigen in der EU mehr versprochen. Er weiß, dass sie ihn nicht wegen seiner schönen Augen umarmen, sondern aus politischem und ökonomischem Interesse: Die EU selbst befindet sich in der Krise. Zwar ist die ukrainische Gesellschaft nicht sehr reich, dennoch ist der ukrainische Markt nicht zu verachten. Dafür, dass er diesen Markt für westeuropäische Unternehmen öffnet, wollte Janukowitsch offenbar mehr haben - gewisse Präferenzen, Garantien. Die hat er aber nicht bekommen.

Aus Sicht westlicher Medien schien zuletzt alles an der Freilassung Julia Timoschenkos zu hängen.

Ginge es nach einem Großteil der ukrainischen Bevölkerung, müssten alle Regierungschefs der letzten 20 Jahre ins Gefängnis - lebenslänglich. Und auch die europäischen Mächte waren offenbar bereit, diese Debatte zu vertagen, als Janukowitsch deutlich machte, dass er das Abkommen nicht unterschreiben werde. Sie schienen sogar bereit, ihre harten Forderungen nach Reformen, Bekämpfung der Korruption, Privatisierungen und dergleichen zu mildern. Das zeigt, wie wichtig ihnen die Ukraine ist.

Welche Rolle spielen soziale Forderungen in der gegenwärtigen Protestbewegung?

Der europäische Sozialstaat oder das, was davon unter dem Druck der neoliberalen Reformen übrig geblieben ist, wovon man sich also gewisse Verbesserungen für die Ukraine versprechen könnte, spielt in den Diskussionen eine sehr geringe Rolle. Als linke Gruppen mit der Forderung nach entgeltfreiem Gesundheits- und Bildungswesen auftraten, wurden sie gar als «Provokateure» diskreditiert. Das Problem ist, dass rechte und sogar ultrarechte Kräfte in Gestalt der nationalistischen Partei «Swoboda» die Proteste dominieren und jede linke Konkurrenz ausgrenzen. Obgleich es absurd scheint, dass Leute, die angeblich für «europäische Werte» streiten, sich für soziale oder Gleichstellungsfragen nicht interessieren.

Welches Gewicht haben linke Kräfte überhaupt in dieser Bewegung?

Offen gesagt, ein minimales. Das liegt auch daran, dass die außerparlamentarische Linke in der Ukraine zahlenmäßig schwach ist. Sie hat wichtige Ideen, aber sie kann sie nicht in die Gesellschaft tragen.

Die Kommunistische Partei der Ukraine befürwortet den Beitritt zur Zollunion mit Russland, schlägt aber ein Referendum über die Frage der Orientierung vor. Ist das eine Lösung?

Formal wäre das eine demokratische Prozedur, die erweisen könnte, was die Mehrheit wirklich will. Aber die KPU als Parlamentspartei unternimmt real sehr wenig, ein solches Referendum durchzusetzen. Mir scheint, dass sie ihre Idee selbst nicht ernst nimmt.

Würde ein Referendum die Spaltung der Ukraine womöglich gar vertiefen?

Es ist bekannt, dass in der Westukraine viele die Nationalisten unterstützen und paradoxerweise zugleich für die EU-Assoziierung eintreten. In der Ostukraine ist man mehr auf Russland orientiert. Insofern würde das Referendum nur bestätigen, was man schon weiß. Deshalb glaube ich nicht, dass ein Referendum der Ausweg wäre, aber es wäre ohne Zweifel demokratischer als eine einsame Entscheidung des Präsidenten.

Beide Seiten - die EU und Russland - stellen die Ukraine vor die Wahl: entweder mit uns oder mit denen. Ist das für die Ukraine eine realistische Alternative?

Die Ukraine ist ja kein einheitliches Ganzes. Janukowitsch und die Gruppe der Oligarchen, die er vertritt, haben eigene Interessen, deren oberstes der Machterhalt ist. Bei einer Wahlniederlage 2015 könnte Janukowitsch in Anbetracht der «Tradition», den politischen Gegner vor Gericht zu stellen, selbst im Gefängnis landen. Andererseits weiß er, dass seine Macht bedroht ist, wenn seine Entscheidung - EU-Assoziierung oder Beitritt zur Zollunion - ungünstige Auswirkungen für die große Mehrheit hat. Eigentlich steckt er in einer Sackgasse: Er braucht neue Finanzzuwendungen, wenn er der schwierigen Lage - hohe Staatsschulden, Haushaltsdefizit, Währungsverfall - entrinnen will. Der IWF fordert dafür, Renten und Löhne einzufrieren, Gas- und Stromtarife zu erhöhen. Wenn er darauf eingeht, ist das tödlich für seine Wiederwahl. Aber Russland verwöhnt ihn auch nicht: Der russische Kapitalismus verkauft der Ukraine, dem angeblichen «Brudervolk», Gas zum Höchstpreis. Offensichtlich konkurrieren beide - die EU und Russland - sehr ernsthaft um den ukrainischen Bissen. Das Schicksal der Ukraine und ihrer Bevölkerung interessiert sie dabei am wenigsten.

neues deutschland, 3.12.2013