Nachricht | Geschichte - Rosa Luxemburg Łódź

Reihe «Mit Pan Tadeusz, Marx und Lassalle – Rosa Luxemburg in Polen». Von Holger Politt.

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Holger Politt,

Keine Stadt in Polen ist in ihrem Werdegang so eng mit dem Werk Rosa Luxemburgs verflochten wie die einstige Textilindustriemetropole Łódź.
Alle Thesen Rosa Luxemburgs über die Perspektiven der kapitalistischen Entwicklung im Riesenreich der Zaren nahmen hier ihren logischen Anfang, konnten zugleich am praktischen Beispiel überprüft werden. Eine Stadt ohne Anfänge in vorkapitalistischen Zeiten, ohne das Gewirr aus Gassen, ohne eingezwängte historische Altstadt und Schloss, eine Stadt fast ganz im Banne bürgerlichen Pioniergeists, der sich im Kampf und im Rennen um Gewinn und Profit mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen suchte. Eine Stadt, die weit und breit ihresgleichen suchte. Kein Wunder also, dass fortlaufende Statistik diesem Ort aus Berechnung und kalter Klugheit mit den schnurgeraden, im Schachbrettmuster angeordneten Straßenzügen den einzig fassbaren Ausdruck zu geben schien. Und die Industriekapitäne und Geschäftemacher dieser Goldgräberzeit gingen als „Lodschermensch“ in die Weltliteratur ein.

Łódź bestand zum Zeitpunkt der Gründung des Königreichs Polen im Jahre 1815 aus ganzen 100 Kochstellen. Bis zum Ausbruch des Januaraufstands im Jahre 1863 waren es schon über 30.000 Bewohner, deren Leben sich bereits ausschließlich um die ersten Manufakturen und Fabriken drehte. Die Piotrkowska-Straße, später legendäre und überhaupt Polens längste Hauptstraße, bestand allerdings noch weitgehend aus kleinen, den für die Gegend typischen einstöckigen Häusern. Der gewaltige Zustrom von Arbeitskräften setzte nach der Niederlage des letzten polnischen Nationalaufstands ein, weil dann 1864 per Zarendekret auch für das Königreich Polen die sogenannte Bauernbefreiung verfügt wurde, die alsbald ein riesengroßes Heer freier Arbeitskräfte zur Folge hatte. Die Vorgeschichte des Kapitals endete, der Aufstieg von Łódź begann.

Rosa Luxemburg konnte in ihrer Dissertationsschrift „Die industrielle Entwicklung Polens“ (1898) bereits die rasch nach oben schnellenden Zahlen notieren: 1878 100.000 Einwohner, 1885 150.000 Einwohner und 1895 315.000 Einwohner. Zugleich hob sie diesen Zusammenhang hervor: „Bis zu den siebziger Jahren wurden hier Baumwollwaren für einen beschränkten Markt, hauptsächlich für die wohlhabenden Klassen, fabriziert. Als aber der polnischen Industrie russische Märkte eröffnet wurden und allmählich eine neue Klasse von Abnehmern, das arbeitende Volk, in der Nachfrage die herrschende Rolle zu spielen begann, musste sich auch die Textilindustrie von Łódź dem neuen Konsumenten anpassen. Das Łódźer Fabrikantentum ging dann auch zur Produktion billiger und einfacher Baumwollwaren über, wie Trikot und andere grobe bedruckte Stoffe, vor allem aber zur Produktion von Barchent” (GW Bd. 1/1, S. 137 f.). Zu Zeiten der Revolution 1905 hatte die Stadt bald 350.000, am Ende des Königreichs Polen, also 1915 aber schon 600.000 Einwohner – äußere Zeichen einer atemberaubenden großindustriellen Entwicklung, die sich ihren Weg ebnete „mit Zügen von Blut und Feuer“ (MEW, Bd. 23, S. 743). Łódź war zu Beginn des Ersten Weltkriegs nach Petersburg, Moskau und Warschau und noch vor Odessa und Kiew viertgrößte Stadt im Zarenreich und herausragendes Industrie- und Arbeiterzentrum. Die günstigen Bedingungen seines Wachstums hingen fast ganz mit dem schier unersättlichen russischen Markt zusammen.

Als im Zarenreich im Januar 1905 die Arbeiterrevolution ausbrach, musste die Stadt fast zwangsläufig zu einem ihrer Brennpunkte werden. „In der Zeit vom 20. bis 25. Juni 1905 stand das Proletariat von Łódź an der Spitze der Revolution, als es sich zu einem so gewaltigen, massenhaften und ausdauernden Kampf entschloss, wie es ihn seit Ausbruch der revolutionären Unruhe im Zarenreich noch keinen gegeben hat“ (Z pola walki, 30. Juni 1905, S. 1). Nach der blutigen Niederschlagung der Barrikadenkämpfe verglich Rosa Luxemburg die Juniereignisse in Łódź mit denen in Paris im Jahre 1848. „Das ist nicht die erste blutige Ernte der Junitage in der Geschichte der Arbeiterbewegung“ (Ebd., S. 2). Noch heute erinnert eine Gedenktafel an die Kämpfe, wobei die Rolle der SDKPiL in der Inschrift ausdrücklich hervorgehoben wurde, was aus Sicht heutiger Zustände und Betrachtungsweisen fast schon wieder aufhorchen lässt: „1905–1955. Vom 22. bis 24. Juni 1905 stand das Proletariat von Łódź nach Aufforderung durch die SDKPiL zum bewaffneten Kampf gegen Zarenherrschaft und Kapitalismus auf. Die heftigsten Kämpfe tobten auf vier Barrikaden an der Kreuzung von Ost- und Südstraße.“ Die Südstraße wurde damals, 1955 in Straße der Revolution 1905 umbenannt und heißt noch heute so.

Über die ganze Zeit wurde die Fabrikantenklasse der Stadt von deutschen und jüdischen Männern dominiert: Namen wie Geyer, Scheibler, Grohmann, Kindermann dort, wie Silberstein, Kernbaum, Maybaum, Hertz und schließlich Poznański, der ungekrönte König der Stadt, hier. Die gewaltige Proletariermasse setzte sich polnisch und jüdisch zusammen, so dass neben den beiden polnischen Arbeiterparteien SDKPiL und PPS der jüdische Arbeiterbund wichtigen Einfluss hatte. Neben den mächtigen Fabrikanlagen, die kleine Reiche zu bilden schienen, in denen der Fabrikherr fast unumschränkt zu herrschen schien, befanden sich die Fabrikantenpaläste, unweit davon bereits die Arbeiterquartiere, zunächst elendig, dann hin- und wieder sogar der planenden Hand gehorchend. Dazwischen das übliche Handelstreiben der rasenden Großstadt.

Nach der Niederschlagung der Revolution charakterisierte Rosa Luxemburg 1908 die Stadt mit markanten Worten, wobei ihre volle Verachtung die Łódźer Fabrikantenschicht traf, da die sich in der Revolution ungeniert auf die Seite des Absolutismus gestellt hatte, also als probates Mittel zur Schlichtung oder Niederschlagung von Arbeitskämpfen und Ausständen stets noch die Kosaken zur Hilfe rief:

„In diesen Kämpfen widerspiegelt sich zugleich die besondere Physiognomie des Łódźer Kapitalismus, seine soziologische Natur. Bislang ist Łódź eine Stadt, die an die Siedlungen erinnert, die schnell neben den Goldminen in Australien und Amerika errichtet wurde. Ein Gemisch aus verschiedenen kulturellen und Nationalitätenmilieus. Deutsche, russische Juden, Polen, polonisierte und nichtpolonisierte Deutsche – durch keinerlei tiefer gehende Fäden des kulturellen Zusammenlebens verknüpft und bei völligem Fehlen jeglicher Klassentradition oder einer gemeinsamen historischen Vergangenheit. Von daher die besondere Kulturlosigkeit, die Blutdürstigkeit die gedankenlose abenteuerliche Taktik, durch die sich die Łódźer Kapitalisten auszeichnen. Hier mangelt es gar an elementaren gesellschaftlichen Bindungen. Wenn schon von der kapitalistischen Gesellschaft, so wie überhaupt von jeder Klassengesellschaft, nicht gesagt werden kann, sie sei Gesellschaft im eigentlichen Wortsinne, also eine Form vollkommenen Gemeinschaftslebens, die den Massen psychisch weitgehend erlauben würde, sich gegenseitig zu beeinflussen, nützlich zu sein und eine gemeinsame Kultur zu gestalten, so gibt es in Łódź nicht einmal eine Spur derjenigen Bedingungen, die so oder so in anderen Industriezentren vorhanden sind. Während die Industriebourgeoisie anderer Länder und auch bei uns außerhalb von Łódź durch verschiedene psychische und soziale Fäden mit der vorhandenen Kultur verbunden ist, auf die sie einwirkt und die sie einsaugt, so haben hingegen die Łódźer Fabrikanten, dieses aus verschiedensten Milieus, verschiedenen Kulturen und Nationalitäten zusammengesetzte Gemisch, und obwohl sie bis zu einem bestimmten Grade das politische und soziale Leben in unserem Land bestimmen, schlechterdings überhaupt keine Berührungspunkte mit der polnischen Kultur, stehen völlig außerhalb der sogenannten Gesellschaft und sind mit ihr durch nichts weiter verbunden als durch die Lust auf Gewinn und Raub. Das entbindet ihre Hände, enthebt sie übermäßiger ‚Gefühlsduselei‘.“ (Wybór pism, Bd. 2, S. 64 f.)

Welche Wucht der Entwicklung die Stadt auch nach der Niederlage der Revolution kennzeichnete, verdeutlicht die Tatsache, dass die Einwohnerzahl in dieser kurzen Zeitspanne sich fast noch einmal verdoppeln konnte.

So hätte es weitergehen können, doch Łódź ist nicht São Paulo – es geriet in die Mühlen der Geschichte. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde ein völlig neues Kapitel in der jungen Stadtgeschichte aufgeschlagen. „Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbst geschaffene Schranke gestoßen ist“ (GW, Bd. 5, S. 410).

Der Erste Weltkrieg schien Rosa Luxemburgs Prophezeiung aus dem Jahre 1913 vollauf zu bestätigen, und doch zeigt das Zitat aus historischer Perspektive sogleich auf die Kehrseite – auf das Ausbleiben der erwarteten Rettung, der durch das Industrieproletariat vollzogenen sozialistischen Weltrevolution. Die alten, von Rosa Luxemburg längst für tot erklärten Gespenster nationalstaatlicher Entwicklungen erhielten noch einmal einen ungeahnten geschichtlichen Aufschub – auf bürgerlicher Seite, aber auch dort, wo sich eine nichtkapitalistische gesellschaftliche Alternative ebenfalls mit allen Mitteln durchzusetzen suchte. Erst am Ausgang des 20. Jahrhunderts scheint dieser Aufschub – zumindest in Europa – aufgebraucht. Seitdem stehen Europa und auch Polen vor der über das Nationalstaatsprinzip hinausgehenden Perspektive, wie sie Rosa Luxemburg zu skizzieren suchte, freilich aus unterschiedlichen Gründen ohne die damals verbreitete Hoffnung auf Rettung durch eine Weltrevolution.

Für die mächtige Industriestadt Łódź indes begann mit dem Ersten Weltkrieg ein Niedergang, der wie ein Fluch über der Stadt zu hängen scheint, der höchstens auf einige Zeit aufgehalten werden konnte, der selbst heute noch längst nicht gestoppt scheint.

Die Stadt kam Ende 1918 zu Polen, dem wiederhergestellten Land, das Rosa Luxemburg immer ausgeschlossen hatte – es sei denn, die Teilungsmächte Polens würden gegenseitig in den Krieg ziehen! Damit verlor die Industrie der Stadt ihren mit Abstand wichtigsten, fast einzigen Absatzmarkt – Russland. Nur mühsam konnten die Einbrüche im Laufe der Zeit durch andere Märkte im Westen wettgemacht werden. Dennoch schrieb Mitte der 1930er Jahre der aus Łódź gebürtige Schriftsteller Julian Tuwim resigniert: „Die Stadt durchlebt eine Tragödie. Ein Koloss, und doch ein Habenichts, ein dahinvegetierender Riese, dessen gewaltige Ausmaße heute keinen Sinn machen, keine Rechtfertigung finden. Eine Stadt ohne Tradition, ohne Volkssage, ohne Mythos, ohne Verbindungsglied mit Geschichte und Kultur der Nation. Das Jahr 1905 ist seine einzige Legende“ (Wspomnienia o Łódzi). Die Stadt hatte 1939 noch immer eine vergleichsweise stolze Einwohnerzahl – fast 670.000, darunter 220.000, die Jiddisch oder Hebräisch, und 60.000, die Deutsch als ihre Muttersprache bezeichneten.

Nachdem in München 1938 das Versailler System unrettbar verloren ging, geriet Polen in die Klammer zwischen Nazideutschland und Stalinscher Sowjetunion. Łódź wurde nach der Eroberung Polens dem Deutschen Reich angegliedert, nun dem sogenannten Warthegau zugehörig. Im Nordteil der Stadt, damals ein Gebiet weitgehend ohne Kanalisation, wurde das Ghetto eingerichtet, ein Zwangsarbeitslager, das bis zum Sommer 1944 produzierte. Wer hier nicht umkam, wurde in die Vernichtungslager verfrachtet – allen voran Kinder, Alte und Gebrechliche. Das jüdische Leben der Stadt wurde ausgelöscht, der Zahl der Opfer nach in einer Größenordnung, die der heutigen Einwohnerzahl Rostocks entspricht. Vor und nach der Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 – die Stadt blieb weitgehend unzerstört – verließen Zehntausende Deutsche ihre Heimat. Łódź war von nun an polnische Stadt.

Die Entwicklung der Stadt nach 1945 erinnerte in manchem noch einmal an längst vergangene Zeiten, als die Stadt in der Hochkonjunktur für Textilwaren zu ihren Ausmaßen kam. Die Bevölkerungszahl ereichte in den 1980er Jahren sogar einen Höchststand mit 900.000 – fast eine Millionenstadt. Wichtigster Absatzmarkt für die produzierten Waren war die Sowjetunion, von wo auch ein Großteil der benötigten Rohstoffe kam. Łódź war unbestritten das größte Textilindustriezentrum in der sowjetischen Hemisphäre. Doch alles änderte sich schlagartig, als dieser morsch gewordene Herrschaftsbereich wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. An Rosa Luxemburg erinnert dabei, dass ein auslösendes Moment für den Zusammenbruch des sowjetisch geprägten Staatssozialismus die massenhaften Arbeiterproteste in Polen gewesen waren, politische Massenstreiks, von denen Rosa Luxemburg seinerzeit das Fanal zum entscheidenden Ausbruch aus der kapitalistischen Welt erwartet hatte. Eine Ironie der Geschichte, die wiederum viel mit Łódź zu tun hat, denn natürlich war die Textilarbeiterstadt eines der Zentren der Arbeiteraufstände gegen den praktizierten Staatssozialismus.

Heute wohnen noch knapp 700.000 Menschen in der Stadt, die als ein den Zeiten angepasstes Dienstleistungszentrum sich zu finden sucht. Die riesenhaften alten Fabrikanlagen verlangen als gestylte Einkaufszentren oder teure Wohnanlagen nach neuer Kundschaft, die in der Stadt nur teilweise zu finden ist, da es vor allem an gut bezahlter Arbeit mangelt. Kreisläufe, wie sie seit 1990 auch in ehemaligen Industriestädten im Osten Deutschlands vielerorts bekannt sind. Wer es einzurichten weiß, der mag zuerst Halle an der Saale und dann Łódź besuchen – er wird trotz der ganz unterschiedlichen Geschichte auf viele offenkundige Parallelen treffen, die mit der jüngeren Vergangenheit seit 1945 zu tun haben.


Als Lektüre sei bei dieser Gelegenheit zuallererst Władysław Reymonts weltberühmter und von Andrzej Wajda verfilmter Roman „Das gelobte Land“ empfohlen. Außerdem, weil nicht leicht zu finden, sei auf einen jüngeren Beitrag des Wirtschaftshistorikers Jörg Roesler verwiesen: Das „Manchester des Ostens“. Aufstieg und Fall der Stadt Łódź zwischen industrieller Revolution und postsozialistischer Deindustrialisierung, in: Osteuropa in Tradition und Wandel. Leipziger Jahrbücher, Bd. 7 (1), Leipzig 2005, S. 83–104. Zum Ghetto und zur Auslöschung des jüdischen Teils der Stadt mehr in „Die Elenden von Łódź“, einem Roman des schwedischen Autors Steve Sem-Sandberg.

Mit Pan Tadeusz, Marx und Lassalle – Rosa Luxemburg in Polen 
Unter dieser Überschrift stellt der Autor an dieser Stelle in losen Abständen ausgewählte Probleme des Wirkens und der Tätigkeit Rosa Luxemburgs in Polen dar.