Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Staat / Demokratie Gerangel um sichere Listenplätze

Zur 37. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen vom 7. bis zum 9. Februar 2014 in Dresden. Von Jochen Weichold.

Information

«Stoppt TTIP!», rief eine Gruppe junger Leute, während sie mit Postern und Transparenten wie «TTIP?! – ich glaub‘, mein Schwein pfeift» die Messehalle in Dresden stürmten, in der Die Grünen am zweiten Februar-Wochenende 2014 ihren Europa-Parteitag abhielten. Damit wollten sie ihrem gleichlautenden radikalen Antrag zusätzliches Gewicht verschaffen.

Tatsächlich hatte sich an der im Programm-Entwurf des Bundesvorstandes zur Europa-Wahl am 25. Mai 2014 formulierten Passage zum geplanten Freihandelsabkommen EU – USA eine Kontroverse entzündet. Die Passage, in der sowohl Chancen als auch Risiken in dieser Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) gesehen wurden, war der Mehrheit der Antragsteller zu unkritisch. Antragsteller und Bundesvorstand einigten sich darauf, den Delegierten drei Varianten zur Auswahl vorzuschlagen: (A) Aussetzung der Verhandlungen und kompletter Neustart auf Basis eines transparenten Verfahrens und eines neuen Verhandlungsmandats. Keine Zustimmung zu einem Abkommen, das europäische Standards und Gesetze untergräbt. (B) Stopp der TTIP-Verhandlungen, breiter gesellschaftlicher Dialog mit der Zivilgesellschaft über die Handelspolitik der EU, Mobilisierung gegen TTIP zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren. (C) Kritik der bisherigen TTIP-Verhandlungen und Ziehung klarer roter Linien gegen jegliche Schwächung der EU-Standards. Die Delegierten entschieden sich mehrheitlich für die Variante (A).

Auf der 37. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen blieb die TTIP-Kontroverse allerdings die einzige, in der die Parteiführung ihre Linie nicht vollständig durchsetzen konnte. Obwohl mehr als 600 Änderungsanträge zum Programm-Entwurf des Bundesvorstandes eingegangen waren, gelang es einer geschickten Parteitagsregie in den Antragstellertreffen, durch Übernahme bzw. durch modifizierte Übernahme den meisten Konfliktstoff zu beseitigen, so dass relativ wenige Anträge kontrovers abzustimmen waren. Nach der Programm-Debatte erfolgten die Wahlen zur Europaliste der Partei.

Grüne Spitzenpolitiker und Delegierte engagierten sich auf dem Parteitag, der unter dem Motto „Europa – Mitentscheiden, erneuern, zusammenhalten“ stand, in unterschiedlichen Formen immer wieder für die Rechte von Homosexuellen und Lesben in Russland und für die prowestliche Opposition in der Ukraine. Höhepunkt dabei war die Gast-Rede des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowytsch. Gleich zu Beginn des Parteitags signierten die beiden Bundesvorsitzenden Simone Peter und Cem Özdemir demonstrativ einen „Freiheitsappell“ für Sotschi.

Reden der Spitzenpolitiker

Co-Parteichefin Simone Peter erklärte vor den rund 800 Delegierten in der Politischen Rede des Bundesvorstandes, Die Grünen würden sich klar zu Europa und seinen „gemeinsamen Werten von Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit“ bekennen und jegliche populistische Europa-Kritik zurückweisen. Europa dürfe nicht den „Salon-Nationalisten der AfD“ oder „Sprücheklopfern aus Bayern“ überlassen werden.

Peter ging auf den Tagungsort des diesjährigen Europa-Parteitages der Grünen ein: Dresden sei eine Stadt, in der sich deutsche und europäische Geschichte tief eingeschrieben habe − mit Glanz, aber auch mit Schrecken. „Wo, wenn nicht in Dresden, wird deutlich, was Krieg bedeutet und wie wichtig ein vereintes, ein demokratisches Europa ist.“ Die Grünen würden für ein Europa streiten, das Verantwortung für die Welt übernimmt, aber als Friedensmacht, die Konflikten präventiv vorbeugt, als Vermittler und Partner des globalen Südens, der seine Zusagen für mehr Entwicklungshilfe erfüllt. Europa müsse auch nach außen den Frieden sichern − und zwar mit politischen Mitteln und nicht mit mehr Militäreinsätzen. „Wir wollen ein Europa, das Frieden exportiert und nicht Panzerboote nach Saudi-Arabien!“

Frau Peter kritisierte das neue Merkel-Kabinett als eine „Regierung ohne Plan für die Zukunft“, als eine Regierung ohne eine verbindende Idee. „Nie zuvor hatte eine Regierung so viel Macht und so wenig Gestaltungswillen!“ Das werde nirgendwo deutlicher als beim Klimaschutz. Die neue Bundesregierung setze unverdrossen auf Kohle, den Klimakiller Nummer 1. Statt den Kohle-Boom zu stoppen, deckele Schwarz-Rot Sonne, Wind und Co. Die Kohle bekomme Bestandsschutz. „Schwarz und Rot − das ist die Kohle-Koalition: Schwarz wie Ruß und Rot wie glühende Briketts.“ Wenn Deutschland Kohle-Land bleibe, könne es weder Energiewende-Land noch Klima-Land werden. Im bevorstehenden Europa-Wahlkampf würden sich Die Grünen für eine Europäische Union (EU) mit „mehr Klimaschutz statt Kohle und Atom“ engagieren, für ein „Europa der Menschen und nicht der Banken“. Simone Peter kündigte zudem an, „Steilpässe“ auf der föderalen Landkarte zu spielen: im Bundesrat – „als Korrektiv zur Großen Koalition“.

Co-Parteichef Cem Özdemir warb in seiner Rede zur Präambel des Europawahl-Programms seiner Partei für ein weltoffenes, demokratisches und gerechtes Europa. Er kritisierte, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel im Unterschied zu all ihren Amtsvorgängern keine Idee, keine Vision von Europa habe. Sie müsse aber sagen, wo sie Europa in zwanzig Jahren sieht. Europa sei für Die Grünen „ein großes Versprechen auf Frieden, Freiheit und Demokratie“. Wenn es darauf ankomme, das gemeinsame Europa gegen „Populismus von links und von rechts“ zu verteidigen, dann stünden Die Grünen auf der Seite der europäischen Werte. „Wir wollen ein solidarisches Europa“, sagte Özdemir und forderte, die Europäische Union müsse im Klimaschutz vorangehen.

Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, warnte vor einem Roll-Back in der europäischen Klima-Politik, wie sie sich im geplanten Neubau von Atomkraftwerken beispielsweise in Großbritannien zeige. In Deutschland nehme die Regierung Merkel mit ihrer Politik des Aussitzens, des Nichtstuns in Sachen Klimaschutz bewusst ökonomische Folgeschäden in Kauf. Hofreiter erinnerte in diesem Kontext daran, dass der britische Ökonom Sir Nicolas Stern 2006 überzeugend dargelegt hatte, dass sich Investitionen in den Klimaschutz ökonomisch rechnen. Erneuerbare Energien seien ein gewaltiger technologischer Fortschritt. Windkraft sei die billigste Form überhaupt geworden, Energie zu produzieren. Es sei absurd, Windenergie zu deckeln und Kohle zu fördern, wie dies die neue Bundesregierung plane. Hofreiter erklärte: “Wir Grüne sind nicht bereit, absurde Politik mitzutragen. Wir wollen dafür sorgen, dass die Energiewende ein Erfolg wird.” Auch dafür brauche es starke Grüne im Europa-Parlament.

Die Debatte zum Europa-Wahlprogramm

In der Debatte zum Europa-Wahlprogramm folgten die Delegierten einmütig der Linie der Parteiführung, Die Grünen als die proeuropäische Partei zu präsentieren. Aus der Diskussion sind neben der Eingangs dargestellten TTIP-Debatte vor allem folgende Kontroversen bemerkenswert:

  • Die Idee einer europäischen Armee: Der Parteilinke und Friedensaktivist Uli Cremer wandte sich in seinem Antrag gegen mehr militärische Zusammenarbeit in der EU und gegen eine europäische Armee und forderte die Auflösung der Battle Groups und der EU-Eingreiftruppen. Dagegen verlangte ein Antrag aus dem Realo-Lager (Omid Nouripour, Tom Koenigs, Marieluise Beck [alle MdB] u.a.), die nationalen Streitkräfte langfristig durch eine europäische Armee zu ersetzen. Der Politische Bundesgeschäftsführer der Grünen, Michael Kellner, begründete dagegen noch einmal − überzeugend für die Delegierten − die Position des Bundesvorstandes: Die nationalen Streitkräfte in der EU sollten weitgehend aufeinander abgestimmt werden, um durch ihre Spezialisierung und durch gemeinsame Beschaffung und Nutzung der Ausrüstung Synergien zu schaffen und gesamteuropäisch militärische Ausgaben zu senken. Der Parlamentsvorbehalt solle beibehalten und im Falle von militärischen EU-Einsätzen das EU-Parlament Kontrollrechte erhalten.
  • Die Haltung zu einem neuen Europäischen Konvent: Mit dem Blick auf das Erstarken rechtspopulistischer, europaskeptischer bzw. -feindlicher Kräfte verlangte ein Teil der Delegierten, die Idee der Einberufung eines neuen Europäischen Konvents abzuschwächen und lediglich im hinteren Teil des Programms zu erwähnen. In diesem gegenwärtig ungünstigen Umfeld könnte ein neuer Konvent zu weniger Europa führen. Demgegenüber erklärte das langjährige Bundesvorstandsmitglied Malte Spitz: „Wir brauchen eine große, breite Debatte, wie sich Europa weiter entwickeln soll.“ Natürlich gebe es dabei auch Risiken, die Auseinandersetzung mit europaskeptischen und europafeindlichen Kräfte dürfe aber nicht gescheut werden. Mehr Rechte für das Europäische Parlament seien nur über einen neuen Konvent zu erreichen. Die Delegierten entschieden sich gegen eine Abschwächung der Idee der Einberufung eines neuen Europäischen Konvents.
  • Die Charakterisierung der Finalität der Europäischen Union: Vertreter der Grünen Jugend forderten, perspektivisch für einen föderalen europäischen Bundesstaat einzutreten. Die Zeit der Nationalstaaten, der nationalen Kleinstaaterei sei vorbei, und Die Grünen müssten klar sagen, wo sie hinwollten. Parteichef Cem Özdemir entgegnete unter Verweis auf das Grundsatzprogramm der Öko-Partei, die EU sei weder Bundesstaat noch Staatenbund. Die EU sei etwas völlig Neues, das nicht mit den Kategorien des vergangenen Jahrhunderts erklärt werden könne. Der Antrag wurde mit einer Drei-Viertel-Mehrheit abgelehnt.
  • Die Frage des Green New Deal: Einige Delegierten hielten diesen Begriff für unverständlich, meinten, das Anliegen im Straßenwahlkampf nicht vermitteln zu können, und forderten seine Streichung. Die Befürworter des Green New Deal legten überzeugend dar, dass der Begriff die große Erzählung beinhalte, Ökologie, Wirtschaft und Soziales zusammenzudenken und als Botschaft zu transportieren, und konnten sich klar durchsetzen.
  • Die Charakterisierung der sogenannten Euro-Rettungspakete: Einige Antragsteller formulierten Kritik am Abstimmungsverhalten der Bundestagsfraktion zu diesen Rettungspaketen. Die Zustimmung zum Fiskalpakt sei falsch gewesen, und die Austeritätspolitik habe vor allem in den südeuropäischen EU-Staaten zu einer gravierenden sozialen Schieflage geführt. Die Verteidiger des Kurses der Bundestagsfraktion argumentierten, wer den Euro nicht scheitern lassen wollte, habe den Rettungspaketen als kurzfristiger Krisenmaßnahme zustimmen müssen. Die EU habe zu Beginn der Krise über keinen gemeinsamen Mechanismus zur Stabilisierung der gemeinsamen Währung verfügt. Es sei daher notwendig gewesen, Instrumente wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu schaffen. Die Delegierten folgten der Argumentation und lehnten den Änderungsantrag ab.

Weitere Abstimmungen betrafen die Analyse der Ursachen der Krise in Europa, den im Wahlprogramm vorgesehenen Altschuldentilgungspakt, Fragen des EU-Haushalts, die Verkleinerung der Europäischen Kommission, die Energiepolitik, ein europaweites Nachtflugverbot, Fragen des Wahlrechts oder der Entwicklungszusammenarbeit.

Das Europa-Wahlprogramm

In ihrem in Dresden beschlossenen Programm zur Europawahl sprechen sich Die Grünen für eine Erneuerung der Europäischen Union aus. Die Wirtschafts- und Finanzkrise habe „Konstruktionsfehler und gefährliche Risse im Fundament“ gezeigt und „nationale Fliehkräfte“ hervorgerufen. Der Zusammenhalt der Union stehe in Frage: „Statt der Suche nach gemeinsamen Antworten droht der Rückzug in die jeweils eigenen, nationalen Grenzen.“

Die Grünen wollen mit ihrem Programm ein „Angebot für ein anderes, besseres Europa“ machen, weil Europa „unsere gemeinsame Zukunft“ sei. Es gehe ihnen um ein Europa, das seine Wirtschaft und Energieversorgung auf eine umweltfreundliche und nachhaltige Basis stellt, das gemeinsam, fair und solidarisch vor allem das Gemeinwohl im Auge hat, in dem die Krise nicht länger durch eine einseitige Kürzungspolitik verschärft wird, in dem der grüne Umbau der Wirtschaft, sinnvolle Investitionen und vermehrte Bildungsausgaben den Menschen wieder Perspektive und Arbeitsplätze bieten. Es gehe ihnen um ein Europa, das jeden Menschen akzeptiert und schützt – unabhängig von Geschlecht, Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Identität. Es gehe ihnen um ein Europa, das die Privatsphäre seiner Bürgerinnen und Bürger verteidigt und die Rechte und Würde auch von Flüchtlingen schützt. „Wir streiten mit Überzeugung für die weitere europäische Einigung, den Euro und den Zusammenhalt in Europa.“

Vielfach habe das Krisenmanagement mit seinem einseitigen Fokus auf staatliche Sparmaßnahmen und Lohnsenkungen die Wirtschaftskrise in den überschuldeten Ländern mit verschärft. Zu wenig sei getan worden, um neben den notwendigen Strukturreformen und Sparmaßnahmen auch positive Impulse für die Wirtschaft zu setzen. Die Grünen wollen sich gegen eine Politik des einseitigen Sparens einsetzen, die Sozialabbau und Armut befördere und die die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern Europas in skandalöse Höhen getrieben habe. Notwendige Reformen müssten sozial ausgewogen gestaltet werden und dürften nicht dazu führen, dass die sozialen Sicherungssysteme zusammenbrechen, Wasserversorgung und Bildung privatisiert werden oder die Gesundheitsversorgung leidet.

Die Öko-Partei plädiert für eine Politik, „die uns solide, solidarisch und nachhaltig aus der Krise führt“. Dabei setzt sie auf den Green New Deal als europäisches Investitionsprogramm, das gerade in den Staaten unter dem Euro-Rettungsschirm die ökologische Modernisierung und die Energiewende voranbringen und so neue Jobs und Zukunftsperspektiven schaffen könne. Die Grünen wollen damit zugleich die Wirtschaftsunion um eine soziale Dimension ergänzen. Durch ein langfristiges und sozial-ökologisch ausgestaltetes Programm im Rahmen des EU-Haushaltes soll die Rezession in den Krisenländern überwunden und das Fundament für ein nachhaltigeres Wirtschaftsmodell gelegt werden, das ohne Umweltzerstörung auskommt. Es geht der Öko-Partei um nicht weniger als um eine „grüne industrielle Revolution“.

Die Grünen wollen die gemeinsame Wirtschafts- und Finanzunion weiter entwickeln und demokratisieren. Ohne eine abgestimmte Wirtschafts- und Haushaltspolitik bleibe der politische Rahmen der gemeinsamen Währung unvollendet. „Eine gemeinsame Währung ist mit wirtschafts- und haushaltspolitischer Kleinstaaterei schwer zu vereinbaren.“ Die Partei plädiert in diesem Kontext auch für eine gemeinsame europäische Finanzpolitik und eine gemeinsame europäische Steuerpolitik. Um die ökonomischen Ungleichgewichte in der Europäischen Union abzubauen, müsse die Binnenkonjunktur in den Überschussländern wie Deutschland (zum Beispiel durch Mindestlöhne, Maßnahmen gegen die Tarifflucht und eine stärkere Orientierung der Entwicklung der Reallöhne am Produktivitätsfortschritt) gestärkt werden.

Seit Gründung der EU gebe es eine Schieflage zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und sozialen Rechten, konstatieren Die Grünen. Sie plädieren für gemeinsame europäische Regelungen wie eine soziale Fortschrittsklausel und für eine EU-weite Stärkung der Arbeitnehmer/innenrechte.

Die Grünen halten die Ausgabe von Eurobonds für sinnvoll und fordern die Schaffung eines Europäischen Schuldentilgungspaktes, der auf einem Schuldentilgungsfonds basiert. Sie plädieren für eine wirksame Regulierung der Finanzmärkte, für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die alle Arten von Finanztransaktionen umfasst, für die Einschränkung des Hochfrequenzhandels und für eine europäische Bankenunion. Sie treten für die klare Trennung von Investment- und Geschäftsbanken, für eine Schuldenbremse für Banken und für die Gründung einer von den Banken unabhängigen europäischen Rating-Stiftung ein.

Die Grünen plädieren in ihrem Europa-Wahlprogramm für eine Stärkung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente und fordern stärkere Mitspracherechte der Bürgerinnen und Bürger. Als ersten Schritt wollen sie sich für die Einberufung eines öffentlichen, parlamentarisch geprägten Europäischen Konventes einsetzen, um zusammen mit der Zivilgesellschaft und den Sozialpartnern Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU im Bereich Wirtschaft, Finanzen, Soziales und Demokratie zu entwickeln und zu diskutieren. Entgegen der Position anderer Parteien ist für Die Grünen die Erweiterung der Europäischen Union nicht abgeschlossen.

Das Ringen um aussichtsreiche Plätze auf der Europaliste

Den zum Showdown hochstilisierten Kampf um Platz 1 auf der Europaliste der Grünen konnte die Vorsitzende der Europäischen Grünen Fraktion im Europäischen Parlament, Rebecca Harms, mit 477 Stimmen zu 248 Stimmen für ihre Rivalin Ska Keller (MdEP) klar für sich entscheiden. Die 57jährige Harms hatte zwar auf der BDK der Grünen im Oktober 2013 in Berlin die Unterstützung der Delegierten für die Primaries zur Europäischen Spitzenkandidatur der europäischen Grünen erhalten. Die 32jährige Ska Keller konnte sich aber in dieser europaweiten Online-Wahl, deren Repräsentativität allerdings unter einer niedrigen Wahlbeteiligung litt, gegen Harms durchsetzen und ist seither Spitzenkandidatin der Europa-Grünen. Dieser Erfolg ermutigte sie, nun auf der BDK in Dresden Jugend gegen Alter auszuspielen und nach dem Spitzenplatz zu greifen – wenn auch vergebens. Beim Ringen um Platz 3 vermochte sie dann jedoch mit 592 Stimmen gegen eine unbekannte Kandidatin deutlich zu punkten.

Während Rebecca Harms in ihrer Bewerbungsrede vor allem auf die Unterstützung der westlich orientierten ukrainischen Opposition abhob und der EU-Kommission in Brüssel vorwarf, zu dem alten Mix aus Atomkraft und Kohle zurückkehren zu wollen, setzte Ska Keller den Akzent besonders auf die Notwendigkeit eines sozialen Ausgleichs innerhalb der EU. Keller, die dem linken Parteiflügel zugerechnet wird, rief den Delegierten zu: „Lasst uns streiten für ein Europa, in dem der Reichtum Weniger nicht zu Lasten Vieler geht.“ Spätestens am Ende ihrer Bewerbungsrede konnte Harms die Basisvertreter auf ihre Seite ziehen: „Ich bin mir sehr bewusst, dass ich weit über 30 bin. Aber ich bin immer noch die Gorleben-Aktivistin. Und ich will immer noch die Welt verändern.“

Der attac-Deutschland-Mitbegründer Sven Giegold konnte sich gegen einen Mitbewerber mit großem Vorsprung Platz 2 sichern. Der Vorsitzende der European Green Party, Reinhard Bütikofer, setzte sich beim Rennen um Platz 4 überzeugend gegen zwei Mitbewerber durch. Die frühere Generalsekretärin von Amnesty International, Barbara Lochbihler, die vor fünf Jahren ebenso wie Sven Giegold als Zeichen der wieder erstarkten Verbindung der Grünen mit den sozialen Bewegungen auf die damalige Europaliste gewählt worden war, errang Platz 5 gegen die langjährige Europa-Abgeordnete Elisabeth Schroedter. Nachdem die Brandenburgerin Elisabeth Schroedter auch mit ihren Bewerbungen für die Listenplätze 7 und 9 scheiterte, warf sie − hart getroffen − das Handtuch.

Platz 6 ging an Jan Philipp Albrecht (MdEP). Helga Trüpel (MdEP) setzte sich im Kampf um Platz 7 gegen fünf Mitbewerberinnen durch. Martin Häusling (MdEP) errang Platz 8, Terry Reintke (Grüne Jugend) kam auf Platz 9, und der profilierte Verkehrsexperte Michael Cramer (MdEP) sicherte sich gegen fünf Mitbewerber Platz 10. Gewählt wurde bis Platz 26.

In den Meinungsumfragen werden den Grünen für die Wahlen zum Europäischen Parlament derzeit rund 10 Prozent der Stimmen vorhergesagt, so dass die ersten zehn Plätze auf der Europaliste einen sicheren Einzug ins EU-Parlament verheißen. 2009 hatten Die Grünen bei der EU-Wahl noch 12,1 Prozent der Stimmen erzielen können und 14 Abgeordnete in das Europa-Parlament entsandt.


Bilanziert man die jüngste Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Dresden, erscheinen drei Punkte bemerkenswert:

Erstens unterstützte der Parteitag den Kurs der Parteiführung, Die Grünen als die Europa-Partei darzustellen. Die Delegierten wandten sich wiederholt gegen eine „populistische Europa-Kritik von rechts und links“ und waren bestrebt, sich damit deutlich von der politischen Konkurrenz abzuheben.

Zweitens war auf der BDK in Dresden nichts mehr zu spüren von der Larmoyanz und dem Wundenlecken, das noch den Parteitag im Oktober 2013 in Berlin geprägt hatte. Vielmehr verwies Parteichefin Peter stolz auf den jetzigen Rekord von über 61.000 Mitgliedern und auf die Erfolge in der Regierungsbeteiligung der Grünen in sieben Bundesländern mit fast 50 Millionen Einwohnern.

Drittens will die Öko-Partei mit einer Schwerpunktsetzung auf klassische Grünen-Themen wie Klimaschutz und Energiewende, Ökologie und nachhaltige Landwirtschaft, Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie Verbraucherrechte und Datenschutz wie bei der Europa-Wahl 2009 ein zweistelliges Ergebnis einfahren. So möchte die Partei ihre Schlappe bei der Bundestagswahl im September 2013, als nur 8,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Öko-Partei ihre Stimme gaben, bei der kommenden Wahl ausbügeln und mit einem erfolgreichen Abschneiden am 25. Mai 2014 deutlich machen, dass sie die Niederlage überwunden hat.

Jochen Weichold

 

Die Kandidatenliste der GRÜNEN für die Wahl zum Europäischen Parlament:

 

Listen-Platz

Name, Vorname

Anteil der Stimmen in Prozent

Bemerkungen

1

Harms, Rebecca

65,1

derzeit MdEP

2

Giegold, Sven

91,7

derzeit MdEP

3

Keller, Ska

85,1

derzeit MdEP

4

Bütikofer, Reinhard

79,2

derzeit MdEP

5

Lochbihler, Barbara

77,9

derzeit MdEP

6

Albrecht, Jan Philipp

97,4

derzeit MdEP

7

Trüpel, Helga

58,2

derzeit MdEP

8

Häusling, Martin

57,6

derzeit MdEP

9

Reintke, Terry

51,1

 

10

Cramer, Michael

64,4

derzeit MdEP

11

Heubuch, Maria

60,2

 

12

Franz, Romeo

53,9

 

13

Bartelt, Jennifer

49,7

 

14

Alberts, Peter

55,1

 

15

Linnartz, Christine

52,4

 

16

Wettach, Wolfgang G.

47,1

 

17

Duplitzer, Imke

60,4

 

18

Hässelbarth, Ralf-Peter

64,8

 

19

Detzer, Sandra

52,2

 

20

Huppertz, Cornelius

70,0

 

21

Schöpfer, Tina

52,1

 

22

Novak, Andrej Ferdinand

56,0

 

23

Herzberger-Fofana, Pierrette

50,7

 

24

Volpert, Stefan

68,1

 

25

Hahn, Henrike

67,5

 

26

Haugk, Holger

58,5

 

Von den derzeitigen Europa-Abgeordneten der Grünen waren Heide Rühle und Werner Schulz nicht zur Wahl angetreten, Gerald Häfner hatte seine Bewerbung zurückgezogen, und Elisabeth Schroedter war mit ihren Bewerbungen um drei verschiedene Listenplätze gescheitert.

 

Berlin, 11. Februar 2014