Nachricht | Geschichte - International / Transnational - Gesellschaftliche Alternativen Imperialismus - letzter Akt?

THEMA Wie Landraub und Freihandel auch heute noch zusammenhängen

Kolonialer Landraub ist ohne Freihandel nicht denkbar. Wie beides miteinander verknüpft ist, beschrieb Rosa Luxemburg bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges.

Seit einem guten Jahrzehnt wird Land weltweit im großen Maßstab umverteilt. Bestätigt wurden über eintausend transnationale Geschäfte mit Ländereien größer als 200 Hektar seit dem Jahr 2000. Allein daraus ergeben sich veränderte Landnutzungsrechte auf einer Fläche von über 35 Millionen Hektar – das Doppelte der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Bundesrepublik. Für die Umverteilung sind weder Landreformen noch ein supra­national abgestimmtes Programm die Ursache, sondern der ungebremste Kapitalfluss. Wer sind die neuen Junker, und woher kommt ihr gewachsenes Interesse an der Ackerkrume? Nach dem durch die US-Immobilienkrise 2007 ausgelösten Finanzcrash wandten BankerInnen sich von mehrfach geschnürten und weitergereichten Versicherungspapieren ab und Nahrungsmitteln sowie den dafür wichtigsten Produktionsmitteln Land und Wasser zu.

Weil einerseits die natürlichen Ressourcen zur Nahrungsmittelproduktion begrenzt sind und andererseits die durch Technologie erzielten Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft immer geringer ausfallen, scheint die mittel- wie langfristige Preis- und Wertsteigerung landwirtschaftlicher Flächen gewiss. Die Prognose einer weiter wachsenden Weltbevölkerung wurde von einer Bedrohung zur Verheißung für InvestorInnen. Ob Nahrungsmittelspekulation oder Investitionsfonds, mit denen AnlegerInnen gezielt in Agrarkonzerne investieren, die Finanzjongleure schwangen sich in wenigen Jahren zu den Junkern des 21. Jahrhunderts auf. Transnationale Unternehmen der Agrar- und Lebensmittelindustrie erhalten seither immense Summen an Investitionskapital, das sie schlagkräftig zur Aneignung von Land- und Wasserressourcen einsetzen.

Die gewaltvolle Aneignung von natürlichen Ressourcen wie Land und Wasser (aber auch von fossilen Mineralen, Öl und Gas) ist keine neue Geschichte. Die koloniale ökonomische Unterwerfung, verbunden mit einer rassistischen Ideologie, hatte ihren Ausgangspunkt in der Expansion kapitalistischer gegenüber nicht-kapitalistischen Staaten. Heute geben sich westliche Regierungen hingegen mehr als Verwalter denn als unmittelbare Akteure des Landraubs. Dagegen sind die Golfstaaten und China mit dem Ziel der nationalen Ernährungssicherung im Mantel halbstaatlicher Unternehmen auf die globale Arena getreten.

Doch die neuen Herren der Welt sind zweifelsohne die Führungsriegen der transnationalen Konzerne. Sie verzichten vordergründig auf einen rassistischen Diskurs zur Legitimation ihrer Unternehmensexpansion. Das ökonomische Argument allein reicht aus, wenn Agrarkonzerne ihre Produktion zur unterstellten Steigerung globaler Wohlfahrt auf vermeintlich ungenutztes Land ausweiten. Vermeintlich, weil Land- und Wasserressourcen fast überall ökonomisch genutzt werden und lediglich der Grad der Sichtbarkeit – die Nutzungsintensität – variiert. So entpuppt sich die Behauptung, durch erhöhte Produktion für den Weltmarkt zu globaler Gerechtigkeit beizutragen, als Heuchelei, die andere Produktionsmodelle, ja ganze Lebensweisen als überflüssig diskriminiert.

Der gegenwärtige Ausverkauf von Land ist mit Grundprinzipien wie Wahlfreiheit von landwirtschaftlichen ProduzentInnen oder Minderheitenschutz nicht zu vereinbaren. Wenn die Produktion und der Handel einerseits und die kapitalistische Expansion auf bisher noch nicht durchkapitalisierte Produktionsstandorte andererseits zwei Seiten derselben Medaille sind, dann erhält die Aneignung von Ländereien erst durch den Freihandel ihren Sinn. Doch unterliegt dieser sogenannte Frei-Handel von Anfang an einer Asymmetrie: historisch befeuerte ab 1870 gerade die Zollpolitik die koloniale Expansionsfreude, was den Freihandel in Rosa Luxemburgs Worten «zur spezifischen Form der Schutzlosigkeit nicht-kapitalistischer Länder gegenüber dem internationalen Kapital» machte. Kurz gesagt: Ohne uneingeschränkten Verkehr von Kapital und Waren bei einer gleichzeitigen globalen Asymmetrie gäbe es keinen transnationalen Landraub. Denn wenn indische Unternehmen in Kenia Produktionsstandorte eröffnen, müssen sie sicher gehen können, dass ihnen weder der kenianische Staat mit hohen Pachtpreisen und Exportzöllen das Geschäft versaut, noch dass die EU sich ihren «fair gehandelten» Rosen verwehrt.

Die UN-Institutionen haben die ungleiche Durchsetzung des Freihandels bisher nicht verhindert. Der WTO kommt international die Rolle der Handelspolizei zu. Viele Länder des globalen Südens, die seit langem die Herauslösung der Agrarproduktion aus den laufenden WTO-Verhandlungen fordern, haben mit dem Abschluss der WTO-Runde im Dezember 2013 in Bali eine Niederlage eingefahren: Investitionsschutzabkommen sichern transnationalen Unternehmen auch zukünftig freie Fahrt. Internationale Übereinkommen wie beispielsweise die Freiwilligen Leitlinien zum verantwortlichen Umgang mit Landbesitz, Wäldern und Fischereiressourcen sind zahnlose Tiger. Vertreibung und Verdrängung verhindern sie nicht. Der international verhandelte Prozess von gemeinsamen Regeln hechelt den Landgeschäften doch immer nur hinterher und Sank­tionsmöglichkeiten sind als solche gar nicht vorgesehen.

Wie lange lässt sich der Landraub noch fortsetzen, bis jede Ackerkrume im Besitz globaler Konzerne ist? Schätzungen gehen davon aus, dass bereits jetzt bis zu 30 Prozent des weltweiten Ackerlandes geraubt wurden. Die anhaltende Durchkapitalisierung natürlicher Ressourcen ist Ausdruck der unendlichen Innovationskraft des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Hier irrte Rosa Luxemburg, als sie schrieb, ihr erscheine «gemessen an der gewaltigen Masse des bereits akkumulierten Kapitals der alten kapitalistischen Länder, gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitals, das seiner Expansion noch verbleibende Feld als ein geringer Rest».

Der Beitrag ist Teil des Titelthemas «Nachhall der Geschichte» der Ausgabe 1-2014 des Stiftungsjournals RosaLux