Seit dem Zerfall der Sowjetunion in 1991 hat die Ukraine erhebliche Schwierigkeiten mit dem Begriff der Linken. Trotz permanent steigender Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption ist das Land nur bedingt für linke Kritik offen. Dafür gibt es zwei Ursachen: Die Geschichte der ukrainischen Spaltung und das Agieren der Kommunistischen Partei.
In den jetzigen Grenzen hat es die Ukraine vor 1939/40 nicht gegeben. Die Westukraine (Galizien, Bukowina, Wolhynien) wurde gegen den Widerstand der Bevölkerung von der Sowjetunion eingenommen. Die Region wurde von der Sozialistischen Sowjetrepublik Ukraine stark gefördert, hat aber auch sehr große Repressionen erlebt, die für den ausgeprägten Nationalismus und Kommunistenhass auch nach 1991 gesorgt hat. Die gescheiterte Erinnerungs- und fehlende Versöhnungspolitik der «Orangenen» Regierung von Viktor Juschtschenko nach 2004 hat zur Stärkung der rechten Grundstimmung in der Bevölkerung der westlichen Regionen geführt und letztendlich zum Aufschwung der rechtsextremen «Swoboda»-Partei beigetragen.
Die Kommunistische Partei der Ukraine hat sich nach 1991 etwas von der sowjetischen Kommunistischen Partei distanziert und war in der Folge recht erfolgreich. Die Kommunisten haben ihre Wähler im bevölkerungsreichen industriellen Osten. Ihre vorwiegend ältere Stammwählerschaft hat sie dabei stabil ins Parlament gewählt. Die Kommunistische Partei der Ukraine hat sich jedoch als sehr korrupt erwiesen. Mehrmals hat sie ihre Wahlversprechen gebrochen und mit den jeweiligen Regierungsparteien gegen die Interessen der eigenen Wähler kollaboriert. Ihr Vorsitzender Petro Simonenko gehört zu den reichsten Politikern der Ukraine. Ähnlich hat sich bis vor kurzem auch die Sozialistische Partei verhalten, sie hat es zuletzt aber nicht mehr ins Parlament geschafft.
In diesem Kontext hat es die neue ukrainische Linke nicht einfach. In der Situation mangelnder Ressourcen und korrupter Parteipolitik und erschwert durch die Diskreditierung linker Rhetorik, steht die junge nichtautoritäre Linke vor einer großen Herausforderung: die linke Idee muss im Land neu begründet werden.
Die wenigen marxistischen, anarchistischen und trotzkistischen Gruppen sind eher akademisch geprägt, orientieren sich an jüngerem (studentischem) Publikum und wollten sich bisher an dem von Oligarchen gelenkten parteipolitischen System nicht beteiligen. Außerdem fühlen sich die linken Initiativen durch Rechte und Ultra-Radikale bedroht, die von den Juschtschenko- und Janukowitsch-Regierungen toleriert und bei Bedarf als gelenkte Gegner aus der Tasche gezogen wurden. Die neue Linke ist zersplittert und es fehlt ihr an Kooperationsbereitschaft.
Die Maidan-Proteste 2013/14 haben die Situation noch verschärft. «Wir waren ganz gespalten, als wir den Maidan betraten», sagt die Aktivistin Nina Potarskaja. «Wir hatten keine gemeinsame Haltung zum Geschehen. Der Maidan hat die Kleinlichkeit der linken Bewegung aufgedeckt, unsere verdeckten Uneinigkeiten und unsere Schizophrenie.» Die liberalen Maidan-Proteste mit patriotisch-nationalistischer Prägung wurden von einigen Gruppen entweder sehr kritisch unterstützt oder als «bourgeois» und «faschistisch» abgelehnt. Andererseits hat es einen Versuch gegeben, eine anarchistische Miliz zu gründen, was von den Rechtsradikalen sabotiert wurde. Die Versuche der Gruppen «Linke Opposition» und «Commons», mit linken und emanzipativen Botschaften in die Proteste einzugreifen, funktionierten nur begrenzt. Auf der anderen Seite war die studentische Initiative, getragen von der linken Gewerkschaft «Prjama Dija» (Direct Action), mit der Besetzung des Bildungsministeriums und der gesellschaftlichen Kontrolle der Arbeit des Ministeriums sehr erfolgreich.
Erst die Proteste gegen die Polizeigewalt haben alle Linken kurzfristig geeint. Danach folgten aber zwei Eskalationen, die die points of no return für diese neue Linke bedeuteten. Am 1. März prügelten sich in Charkiw Anhänger des Maidan und deren Gegner. Der linke Schriftsteller Sergij Zhadan wurde dabei gezwungen, auf der Bühne niederzuknien. Auf der anderen Seite standen unter den chauvinistischen pro-russischen Aktivisten auch Mitglieder der marxistischen Gruppe «Borot’ba». Danach distanzierten sich viele Linke von «Borot’ba».* In der blutigen Schlacht in Odessa am 2. Mai standen die Anarchisten und die Aktivisten von «Borot‘ba» wieder auf verschiedenen Seiten. Dort wurde ihre Trennung bekanntermaßen mit Blut besiegelt.
Die Konferenz «Linke und Maidan», die im April mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew stattgefunden hat, hat gezeigt: Die ukrainische Linke braucht einen Grundkonsens über eine neue gemeinsame Vision, die über dem derzeit vorherrschenden nationalistisch geprägten Zwiespalt Pro-Ukrainisch vs. Pro-Russisch steht. Denn der soziale Protest schwillt an, findet aber keine politische Artikulation. Es braucht Konsolidierung und Öffentlichkeit und vielleicht eine neue parteipolitische Präsenz.
Nelia Vakhovska, Projektkoordinatorin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew
* Erklärung linker und anarchistischer Organisationen zu der Vereinigung “Borot’ba” (03.03.2014)
Wir, die Mitglieder der ukrainischen linken und anarchistischer Organisationen, erklären, dass die Vereinigung Borot’ba nicht zu unserer Bewegung gehört. Während der ganzen Dauer der Existenz dieses politischen Projektes hat sich die Zuneigung seiner Mitglieder zu den am meisten diskreditierten, konservativen und autoritären „linken“ Regimen und Ideologien gezeigt, die in keiner Weise die Interessen der Arbeiterklasse vertreten.
„Borot’ba“ hat sich als eine Organisation mit undurchsichtiger Finanzierung und Prinzipienlosigkeit in der politischen Zusammenarbeit erwiesen. Sie hat Mitarbeiter mit Gehalt, die in der Organisation arbeiten und nicht zu den sogenannten „freiwillige Mitglieder“ gehören. Teile von Borot’ba haben an gemeinsamen Aktionen mit der PSPU (Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine– einer antisemitischen, rassistischen, klerikalen Partei, die in keinem Zusammenhang mit der sozialistischen Bewegung steht) teilgenommen sowie an Aktionen der Charkiver „Oplot“, einer regierungsfreundlichen antisemitischen und homophoben Gruppe; außerdem sind Kontakte mit dem berüchtigten Journalisten O.Chalenko, der offen für die Positionen eines russischen Großmacht-Chauvinismus eintritt, bekannt.
Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass sie Leitung dieser Vereinigung dem Beispiel der „Kommunistischen“ Partei der Ukraine gefolgt sind und offen die Interessen von Janukovitch verteidigt, den Einsatz von Waffen durch die Sicherheitskräfte gerechtfertigt und die Akte ungerechtfertigter Gewalt und Grausamkeit, die Anwendung von Folter und anderer Formen von politischem Terror geleugnet haben. Die Vertreter von „Borot’ba“ nehmen auf den von ihnen kontrollierten Ressourcen und in ihren Medienkommentaren eine einseitige Position im Hinblick auf die Zusammensetzung der Protestbewegung ein. Nach ihren Angaben werden die Protestierenden auf dem Maidan ausschließlich von Nationalisten und radikalen Rechten unterstützt und zielen auf einen Staatsstreich (einen „faschistischen Putsch“) ab.
Wir vertreten antifaschistische Positionen und unsere Aktivisten waren häufig Opfer von Angriffen radikaler Rechter. Wir unterstützen nicht alle Ideen des Maidans und sind gegen die bourgeoise Opposition. Wir verurteilen ebenso konservative, nationalistische und radikal rechte Einstellungen, die in den Kreisen der Protestbewegung toleriert werden. Allerdings betonen wir, dass die Etikettierung aller aktiven Bürger als „Faschisten“ nicht nur falsch, sondern auch schädlich ist. Eine derartige Einseitigkeit schürt die chauvinistische Hysterie und teilt die Gesellschaft in einer Weise, die der herrschenden Klasse nutzt.
Am 24. Januar hat Oleksj Albu, Bezirksabgeordneter und Vertreter von „Borort’ba“ am Schutz des regionalen Verwaltungsgebäudes in Odessa vor „Nazis“ teilgenommen, gemeinsam mit russischen Kosaken und Nationalisten („Slavische Einheit“) sowie Mitgliedern der Partei der Regionen und der kommunistischen Partei. In einem späteren Interview gab er die Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst der Ukraine zu. Am 1. März haben „Borot’ba“-Aktivisten gemeinsam mit Pro-Putin-Organisationen an dem Angriff auf die Charkiver Bezirksverwaltung teilgenommen, die im Hissen einer russischen Flagge und schweren Schlägen für viele Charkiver Maidan-Aktivisten gipfelte, unter den Opfern war der linke Schirftsteller Serhiy Zhadan. Die Mitglieder von „Borot’ba“ nennen all‘ das antifaschistische Aktionen und behaupten, dass diese gewaltsamen Übergriffe gegen radikale Rechte gerichtet gewesen seien.
Daraus schließen wir, dass die Anführer von „Borot’ba“ nicht nur die autoritäre sowjetische Vergangenheit unterstützen sondern auch bewusst die öffentliche Meinung manipulieren und als „Taschenrevolutionäre“ für die herrschende Klasse fungieren. Ihr aktuelles Verhalten hat nichts gemein mit linker Politik und Klassenkampf und ist ausgerichtet auf die Unterstützung von Pro-Putin-Kräften unter dem Deckmantel von „Antifaschismus“ und „Kommunismus“. Die Handlungen dieser Organisation diskreditieren sowohl ihren Namen (der von den revolutionären „Borotbisten“ [Kämpfern] zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt) als auch die moderne ukrainische Linke insgesamt. Zudem scheut Borot’ba sich nicht, offen zu lügen und Tatsachen zu manipulieren um dadurch ausländische Linke und Antifaschisten zu täuschen.
Wir rufen alle bewussten Revolutionäre, die noch Mitglieder bei „Borot’ba“ sind, dazu auf, diese tückische und pro-bourgeoise Vereinigung zu verlassen und alle politischen Beziehungen mit ihrer Führung einzustellen. Wir hoffen auch, dass die europäischen und russischen Linken ihre Haltung zu „Borot’ba“ überdenken werden. Eine derartige Organisation muss isoliert werden.
Keine Götter, keine Herren, keine Nationen, keine Grenzen!
Arbeiter aller Länder – vereinigt euch!
Autonome Union der Arbeiter
Unabhängige Studentengewerkschaft „Direkte Aktion“
Journal of literature and social critique ProStory
Tovaryshka.info
Anarchist Black Cross – Ukraine
Anarcha-feminist collective Good Night Macho Pride
Anti-Fascist Action Ukraine
Visual Culture Research Centre
Linke Opposition
Ivan Shmatko
Ostap Kuchma
Oleksandr Bogachenko-Mishevsky
Andriy Rosdolsky
Sviatoslav Stetskovych
Andriy Zdorov
Myroslav Chaikovsky
Serhii Ischenko
Pavlo Myronov
Vadym Gudyma (Left Opposition)
Olga Papash
Yevgen Leshan
Quelle: http://avtonomia.net/2014/03/03/statement-left-anarchist-organizations-borotba-organization/
Statement of the union ‘Borotba’ over recent smear campaign against anti-fascists in Ukraine (05.03.2014)
So, here we are again. The old and tired brawling in Ukraine continues despite the current collapse of the country. Two marginal admittedly ‘left’ sects in Ukraine amidst fascist coup and far-right terror on streets try to accuse the leftwing forces and organizations that organize anti-fascist resistance.
It’s not for the first time, however, the dogs bark, but the caravan moves on.
Despite the irrelevance, of the statement against ‘Borotba’, we need to clear up some facts. The statement that “Borotba” union is not a part of our movement” is true in some aspects. We are not part of the movement that tried to collaborate with far-right and Nazi forces that dominate in Euromaidan protest. We are not part of the movement that – like those small sects – that tried to hide their ‘leftism’ in Euromaidan while actually helping to bring to power open Nazis and just another clan of oligarchs that accepts IMF loans and austerity measures.
We are not part of the movement that actually backs clerical, conservative and reactionary sentiments. The signatures of the smearing statement just pretend to be anti-conservative at the same time backing nationalist, clerical and anti-semitic protest in Euromaidan. Some of them have given in to patriotic intoxications - ready to be enlisted in the army so that to defend nazi-junta and its oligarchs. A hundred years after WWI beginning and we are at the same situation again.
We are not part of the movement that takes sides according to orders given from NGOs. We are not part of the movement that tries to hide left symbolic and social slogans in current situation. We are not part of the movement that buys into nationalist and patriotic hysteria spreading all over the country. We are not part of the movement that tries to defend the coup on behalf of Nazis, oligarchs and IMF. We are not part of the movement that tries to diminish the role of Nazis in Euromaidan or even whitewash their image when even mainstream western media show far-right paramilitaries roaming over the streets.
In short, we are not the part of the movement that has nothing common with left and antifascist stance. Thus, we are and have always been a leftwing and antifascist organization. We condemn ex-regime of Yanukovich and the new far-right government as well. We condemn Russian and Western interference in Ukrainian affairs as well as militarist patriotic intoxication induced by new power.
We stay strong on our left positions, though we are targeted by boneheads, far-right nationalists from Right Sector and ‘Svoboda’ paramilitaries. Our office in Kiev was recently looted and ransacked. Our members are victims of far-right violence. Some activists of the ‘Borotba’ union had to go underground so that to continue anti-fascist struggle. And in such a situation the smearing statement seems to be a denounce addressed to far-right militants.
As for the recent events in Kharkiv (March 1, 2014) we should highlight the following facts. There was a mass rally of different forces opposing Euromaidan. People decided to free the building of Kharkiv Regional State Administration earlier seized by Euromaidan supporters. After negotiations most Euromaidan supporters agreed to leave the building. Some militants (mostly from the Right Sector but some liberals too) rejected to obey the decision of Euromaidan majority and decided to stay in. Activists of ‘Borotba’ participated in the mass rally near the building carrying on agitation of internationalist and anti-fascist stance (and were criticized for that by some pro-Russian citizens). The mass rally rushed to storm the seized building after somebody has thrown into the crowd the flash-bang grenade. A crowd burst into building and captured some of the militants from Right Sector and a group of liberals that stayed with them (including poet Serhiy Zhadan). Then followed attempts of lynching made by excited crowd. Activists of ‘Borotba’ tried to stop by all possible means the lynching of captured Euromaidan supporters. So, the accusation of ‘Borotba’ is not only irrelevant but looks like a sheer hypocrisy from those who tried to ignore the practice of lynching dissenters regularly made by far-right Euromaidan supporters in Kiev and other cities. All the accusations of ‘Borotba’ union are sheer slander of some pro-nationalists groups or individuals.
We firmly follow internationalist antifascist and class line as our basic stance. We are against both Russian and Ukrainian nationalisms that are being used now only for dividing working class and further plundering of the country. We do not back Russian nationalist organizations as well as Ukrainian ones. All the smear campaign of our organization led by far-right groups and caught up by some admittedly ‘left’ groups will not stop us to organize anti-fascists resistance.
No Pasaran!
No gods, no masters, no nations, no borders!
Workers of all countries – unite!
Zum Weiterlesen:
Die «neue» linke Bewegung in der Ukraine (April 2013)
Von Vladimir Korobov
Das Phänomen der sogenannten «neuen» linken Bewegung in der Ukraine ist noch nicht hinreichend untersucht, doch der vorhandene faktische Umfang an Informationen erlaubt uns bereits – über eine Beschreibung hinaus – erste verallgemeinernde Schlussfolgerungen. Die zum heutigen Zeitpunkt in der Ukraine existierenden Erscheinungsformen der «neuen» linken Bewegung, die mit dem Erbe der KPdSU weder altersmäßig noch in politisch-organisatorischer oder ideologischer Hinsicht verbunden sind, können in folgende Kategorien eingeteilt werden:
a) eine sich herausbildende unabhängige Gewerkschaftsbewegung mit linker ideologischer Ausprägung,
b) neu entstandene außerparlamentarische linke politische Gruppen und Strömungen unterschiedlicher ideologischer Traditionen,
c) linke Vereine und Initiativen aus Forschung, Kultur, Bildung und Publizistik.
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