Nachricht | GK Geschichte „Sonst kriege ich die Sozialdemokraten nicht mit“ Deutsche Arbeiterbewegung und Linke im Ersten Weltkrieg

Ein Artikel von Dr. Stefan Bollinger aus Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 98

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Einhundert Jahre nach dem Kriegsbeginn 1914 läuft die Eventindustrie auf Hochtouren. Erklärungen und die Suche nach Kriegsschuld oder richtiger eben keinen Schuldigen, sondern „Schlafwandlern“ machen die Runde. Ein Ergebnis dieser Geschichtspolitik ist schon sicher: Die intensive Beschäftigung mit dem Großen Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird abermals genutzt, um kritische, auf sozialökonomische Fragestellungen gerichtete Forschungs- und Erinnerungsansätze zu torpedieren. Große oder weniger große Männer haben gehandelt, die weder die Vereinten Nationen noch die Europäische Union einschalten konnten, die Diplomaten haben versagt, die Militärs waren vielleicht ein wenig zu ungeduldig und – nun ja, Teile der Wirtschaft witterten gute Geschäfte.

Weitgehend ausgeblendet wird die Rolle der Arbeiterbewegung und der Linken – als Gegenspieler, überraschenderweise dann im Sommer 1914 als Erfüllungsgehilfen und schließlich als Beender des Krieges. Höchstens einen Seitenhieb sind in neueren Darstellungen die oft tiefschürfenden und sich radikal gebenden Positionen der internationalen Sozialdemokratie wert, die auf ihrem internationalen Kongressen 1907 in Stuttgart und 1910 in Kopenhagen den Widerstand gegen den Krieg zur Grundaufgabe des Proletariats und ihrer Parteien erklärten. Ein solches Ausblenden des Widerstandes gegen den Krieg – von radikalen Linken wie von bürgerlichen Pazifisten – begünstigt jene Geschichtsschreibung, die den Ersten Weltkrieg zum Ausgangspunkt des Totalitarismus erklärt – wegen seiner Gewalt, wegen des Entstehen des Bolschewismus mit seinen diversen Ablegern und wegen der dann einsetzenden faschistischen und national„sozialistischen“ Reaktion darauf. Dass die Protofaschisten der Rechten, angefangen beim Alldeutschen Verband, ebenso in solchen Betrachtungen untergehen wie jene, die vor dem Krieg warnten und gegen ihn den Widerstand organisierten, ist dann zwangsläufig.

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