Nachricht | International / Transnational - Ukraine Amnesty International: Entführungen und Folter in der Ostukraine

Rechtsstaatlichkeit verlangt, dass jeder Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen, die von beiden Seiten in dem Konflikt begangen werden, sofort, wirksam und unabhängig untersucht wird. Dies ist ein wesentliches Element bei der Schaffung von Frieden und Versöhnung zwischen beiden Seiten dieses Konflikts.

Auszüge aus dem AI-Bericht Abductions and Torture in Eastern Ukraine vom Juli 2014 über die Entwicklung des Konflikts und eine zentrale Schlussfolgerung:

Die drei Monate lang andauernden «EuroMaidan»-Proteste in Kiew (von November 2013 bis Februar 2014) führten zum Sturz des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch und zur Bildung einer Interimsregierung. Vorgezogene Präsidentschaftswahlen am 25. Mai gewann Petro Poroschenko bereits im ersten Wahlgang.

Diese Ereignisse wurden von den Demonstrierenden in Kiew und von vielen in der West- und Zentralukraine begrüßt. Doch viele Menschen in den überwiegend russischsprachigen Regionen des Ostens der Ukraine, der Hochburg des gestürzten Präsidenten und seiner regierenden Partei der Regionen, waren weit weniger begeistert. In dieser Region kam es zu Protesten gegen die neue Regierung in Kiew, bei denen Tausende auf die Straßen gingen. Die Protestierenden lehnten die Übergangsregierung in Kiew als «illegitim» ab und beantworteten die Ernennung neuer regionaler Gouverneure durch Kiew mit der Ausrufung von «Volksgouverneuren» und «Volksbürgermeistern» auf großen Protestversammlungen. Die Entscheidung des ukrainischen Parlaments, den Status der russischen Sprache durch die Aufhebung eines früheren Sprachengesetzes entscheidend herabzusetzen, erhöhte die Spannungen. Obwohl der amtierende Präsident sein Veto gegen diese Entscheidung einlegte, hatte sie bereits zum Klima der Unzufriedenheit im Osten beigetragen. Die öffentlichen Proteste in der gesamten Region wurden auch von der Sorge getrieben, dass die neuen Behörden in Kiew die Ukraine näher an die EU und den Westen bringen würden – auf Kosten der wirtschaftlichen und anderen Beziehungen mit Russland, von denen das Wohl vieler Bewohner des industriellen Ostens der Ukraine direkt abhing.

UnterstützerInnen der neuen Kiewer Behörden organisierten ihre eigenen Kundgebungen in der Ostukraine, und es kam zu zunehmend gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den gegnerischen Lagern. Das Versagen der Polizei, angemessenen Schutz zu bieten und zu intervenieren, um Zusammenstöße zu verhindern, trug zur Gewalt bei und drängte beide Seiten, sich für Straßenschlachten zu bewaffnen.

Im März begannen Protestierende im Osten, Verwaltungsgebäude zu besetzen, ähnlich wie dies Teilnehmende des EuroMaidan in Kiew getan hatten, russische Flaggen zu hissen und andere Symbole zu verwenden, womit sie AnhängerInnen der ukrainischen Einheit gegen sich aufbrachten. Die Versuche der Übergangsregierung, die Gebäude zurückzugewinnen und diejenigen zu verfolgen, die die Anti-Kiew-Proteste anführten, verstärkten den Widerstand. Im Laufe des April richteten sich Protestierende in der Ostukraine dauerhaft in vielen regionalen und lokalen Regierungsgebäuden in den regionalen Hauptstädten Donezk und Luhansk und in weiteren Städten, wie Slawjansk und Kramatorsk, ein. Sie begannen, Waffenarsenale von Polizei und anderen Strafverfolgungsbehörden zu erobern und sich zu bewaffnen. In mehreren Städten weigerten sich Polizei und andere Strafverfolgungsbehörden, sich ihren Aktionen zu widersetzen, und in vielen Fällen traten sie offen auf ihre Seite über.

Ein «Referendum» über die Unabhängigkeit von der Ukraine auf der russisch besetzten Krim am 16. März und die anschließende rasche Annektierung der Halbinsel durch Russland, die von der Mehrheit der ethnisch russischen Bevölkerung unterstützt worden zu sein scheint, führten zu ähnlichen Initiativen im Osten. Am 11. Mai fanden «Referenden» in Städten der Ostukraine statt, über die Kiew die Kontrolle verloren hatte oder begann, die Kontrolle zu verlieren.

Am 7. April begann eine Sonderoperation der Strafverfolgungsbehörden (silovaya operatsiya) im Osten, und am 15. April verkündete der amtierende Präsident der Ukraine Olexandr Turtschynow den Beginn einer «Anti-Terror»-Operation, die am 24. April zu einer bewaffneten Offensive eskalierte, um die Kontrolle über die Stadt Slawjansk zurückzuerobern. Dieser Versuch war nicht erfolgreich, und die Situation schlug schnell um in einen bewaffneten Konflikt zwischen ukrainischen Polizeitruppen, Sicherheitsdienst und militärischen Einheiten auf der einen Seite und separatistischen bewaffneten Gruppen auf der anderen. Es gab vereinzelte schwere Kämpfe, als ukrainische Streitkräfte versuchten, die Kontrolle über verschiedene Städte in den Regionen Donezk und Luhansk, darunter auch an der Grenze zu Russland, wiederzuerlangen.

Die ukrainischen Behörden haben Russland vorgeworfen, die bewaffneten Gruppen im Osten mit Waffen, Militärinstrukteuren und Freiwilligen zu versorgen. Obwohl die russischen Behörden dies stets bestritten haben, wird die Glaubwürdigkeit solcher Dementis seit der Besetzung der Krim in Zweifel gezogen, und es gibt Belege für das Gegenteil, wie den Einsatz von Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Artilleriesystemen und anderen hochentwickelten Waffen durch bewaffnete Gruppen, bei denen es unwahrscheinlich scheint, dass sie in einer solchen Anzahl aus Beständen der ukrainischen Seite erobert worden sein könnten.

Solange der Konflikt andauert und die ukrainischen Streitkräfte versuchen, die Kontrolle über Städte und Gemeinden von bewaffneten Gruppen in der Ostukraine wiederzuerlangen, ist die lokale Bevölkerung durch beide Seiten in dem Konflikt gefährdet. Die Tatsache, dass die Militäroperationen in dicht bewohnten Gebieten stattfinden, bedeutet für die Zivilbevölkerung das Risiko, im Kreuzfeuer oder durch Artillerie- oder Luftangriffe getroffen zu werden.

Die Berichte ehemaliger Geiseln, die von Amnesty International befragt wurden, veranschaulichen den Zusammenbruch von Recht und Ordnung im Osten der Ukraine, wo EinwohnerInnen, JournalistInnen und internationale Beobachter in den Händen bewaffneter Anti-und Pro-Kiew-Gruppen gefährdet sind durch Entführung, Folter und andere Misshandlungen. Entführungen von JournalistInnen und internationalen Beobachtern behindern die Berichterstattung über Verletzungen von Menschenrechten und des humanitären Völkerrechts und bergen das Risiko eines Informationsvakuums in der Konfliktzone.

Die gesetzlose Situation in der Ostukraine wurde erleichtert durch die Erosion der Rechtsstaatlichkeit [seit Jahresbeginn] mit wiederholten Amnestien für die Täter von Verbrechen (sowohl Demonstrierende als auch Polizeibeamte) während des EuroMaidan und der Unfähigkeit, den politischen Willen zu demonstrieren, solche Verbrechen zu untersuchen.

Wenn die Ukraine die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen will, wenn der Konflikt vorbei ist, muss sichergestellt sein, dass jeder Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen, die von beiden Seiten in dem Konflikt begangen werden, sofort, wirksam und unabhängig untersucht wird. Dies ist ein wesentliches Element bei der Schaffung von Frieden und Versöhnung zwischen beiden Seiten dieses Konflikts.

Der vollständige AI-Bericht findet sich hier.

Übersetzung aus dem Englischen: Michael Glaß