9. Juli 1943
Papa hat mir eine riesige Freude gemacht, er ließ für mich mein Wahrzeichen malen, den Leuchtturm. Leuchtturm – Freiheit – Hoffnung – Selbstständigkeit – Sei bereit –
Einige von den Nationalsozialisten geschaffenen Mythen haben sehr lange überdauert. Dazu gehört, dass die Existenzbedingungen in Theresienstadt gut oder zumindest besser als in den anderen Lagern gewesen seien und der Ort ein „bevorzugter Ort” für deutsche Juden bzw. ein privilegiertes „Altersghetto” sei. Zwei neuere Veröffentlichungen zum Ort Theresienstadt konfrontieren diese Mythen: die persönlichen Erinnerungen von Helga Pollak-Kinsky sowie eine wissenschaftlich-quellenbasierte Monografie des Historikers Wolfgang Benz.
Von 1941 bis 1945 wurde die böhmische Garnisonsstadt Theresienstadt von den Nationalsozialisten als Ghetto[1] für insgesamt 141 000 erst tschechischer, dann deutscher und österreichischer und auch holländischer und dänischer Juden genutzt, von denen nur 23 000 überlebten. Zu ihnen gehörte Helga Pollak-Kinsky, die mit 12 Jahren zusammen mit ihrem Vater aus Wien deportiert wurde und vom 27. Januar bis zum 23. Oktober 1944 im Mädchenheim L410, Zimmer 28 im Ghetto Theresienstadt lebte. Dort zog sich sich immer wieder zurück, um an ihrem Tagebuch zu schreiben. Ihre Erinnerungen verdeutlichen vor allem die persönliche Dimension dieser Erfahrung. Die Tagebucheinträge werden im Buch ergänzt um Kalenderbucheintragungen ihres Vaters Otto Pollak, von ihr und anderen Mitgefangenen gemalte Bilder, Dokumente sowie – das macht das Buch besonders bereichernd – zwei kurze Interviews, die in den letzten Jahren geführt wurden. Es ergibt sich ein eindrucksvolles Porträt eines jungen Menschen zwischen der Erfahrung mit Hunger, Tod und Vernichtung, Kinderalltag, Hoffnung und Überleben. Seit Jahren ist Helga Pollak-Kinsky zusammen mit ihrem Freundeskreis dabei, über ihre Vergangenheit aufzuklären und diese auf unterschiedliche Weisen festzuhalten, wovon das Buch neben einem weiteren Buch, einem Hörspielfeature, einem Theaterstück und einer Ausstellung nur eine unter vielen ist. Der Verlag Edition Room 28 wurde nun eigens gegründet, um das Kindertagebuch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dass Pollak-Kinsky sich bis heute in Diskussionen rund um Theresienstadt einbringt, wird im Interview deutlich, als sie Wolfgang Benz' Veröffentlichung für die Darstellung und Auslassungen bezüglich der Kinder- und Jugendfürsorge kritisiert.
Benz' Buch ist die erste Monografie über Theresienstadt seit dem Ende der 1950er Jahre veröffentlichten Standardwerk von H.G. Adler, der Theresienstadt überlebt hat. Basierend auf einem breiten Fundus an Quellen beschreibt Benz viele unterschiedliche Aspekte des Alltags und verknüpft sie jeweils mit den Erinnerungen einzelner Personen, darunter Prominente wie Leo Baeck.
Mythen
Dass die Täter_innen mit ihrer Darstellung und der Implementierung von Mythen, unter anderem durch einen Propagandafilm und einer Inszenierung für das Internationale Rote Kreuz 1944 nicht erfolglos waren und diese Eingang in die Geschichtsschreibung hatten, beschreibt Benz am Ende seines Buches überzeugend.
Umstritten ist bis heute die Rolle der Jüdischen Selbstorganisation sowie besonders der Kinder- und Jugendfürsorge in Theresienstadt. H.G. Adler äußerte sich in seinem Werk abfällig über daran Beteiligte, sprach von der „Verwahrlosung der Jugend“. Gonda Redlich und Fredy Hirsch wurden als Leiter_innen dieser Fürsorge scharf kritisiert, ebenso einige Judenälteste. Pollak-Kinsky schreibt nun, sie finde diese Aussagen nicht grundsätzlich falsch, jedoch müssten ihre besonderen Verdienste und die dahinter stehenden pädagogischen Konzepte anerkannt werden. Auch Benz würde kein Wort über den Malunterricht Friedl Dicker-Brandeis' verlieren, aus dem viele erhaltene Kinderzeichnungen stammen, sondern stattdessen die Fürsorge in Verbindung mit der von Adler erwähnten Verwahrlosung bringen. Tatsächlich schreibt Benz, man müsse die Bilder entschlüsseln, damit nicht der Eindruck der Idylle entstehe und erwähnt im Anschluss die Erwähnung von Verwahrlosung bei Adler. Ihm liegt spürbar am Herzen, die durch die Propaganda der Nationalsozialisten entstandenen Mythen nicht zu bekräftigen. Fragwürdig ist, ob dies durch die Hervorhebung von grausamen Eindrücken aus Theresienstadt allein geschehen kann und ob nicht gerade auch positive Erlebnisse ihren Platz haben können, ohne dabei die NS-Realität zu verharmlosen. Dass der Alltag nicht nur vom Grauen geprägt war, wird in Helga Pollak-Kinskys Aufzeichnungen immer wieder deutlich. Auch dass sie ihre Situation im Verhältnis nicht als besonders dramatisch empfindet, schreibt sie:
„Donnerstag, 30. September 1943
[…] Walter Deutsch ist vor 14 Tagen aus Theresienstadt geflüchtet und wurde geschnappt und einem Konzentrationslager übergeben. Was ist dem verrückten Jungen nur eingefallen, so schlimm ist es hier doch nicht.“
Wichtig ist die Wahrnehmung positiver Erlebnisse auch deshalb, weil die Realität in Theresienstadt nicht allein geprägt war vom Willen der Täter_innen, sondern auch immer wieder von der Subjektivität der Häftlinge und dem Grad der Solidarität, die sie sich gegenseitig zuteil werden ließen. Kunst und Kultur besteht nicht nur fälschlicherweise fort, sondern kann immer auch Bewältigung sein. Das religiöse Weiterleben, Musik und Kaffeehaus hatten eine Bedeutung für viele, auch wenn der Zugang weitaus beschränkter war als oft angenommen. Um zu verhindern, dass positive Aussagen des subjektiven Erlebens einzelner Häftlinge eine relativierende Wirkung entfalten können, müssen sie kontextualisiert und in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden. Dazu gehört, dass Theresienstadt für viele eine Station auf dem Weg zur Vernichtung war. Die Perfidie der Abhängigkeit von den Nazis muss bei den Betrachtungen ihren Raum haben, ebenso wie die gegen die Intentionen der Machthaber ausgelebten Bedürfnisse.
Wenn von der Täuschung der Öffentlichkeit die Rede ist, als die Nationalsozialisten 1944 den Film „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ filmen ließen oder dem Internationalen Roten Kreuz einen lange angekündigten Besuch gewährten, sollte in Zukunft auch danach gefragt werden, was für eine Öffentlichkeit das ist, die sich 1944 davon täuschen lässt. Propaganda hat hier nicht nur den Auftrag der Täuschung, sondern auch der Beruhigung derjenigen, die von der Vernichtung nichts wissen wollten. Ähnlich verhält es sich mit den Rezipent_innen historischer Forschung: Wer bereit ist, sich über den Gesamtzusammenhang nationalsozialistischer Vernichtung zu informieren (wie es bei Benz möglich ist), wird auch Schilderungen unbeschwerter Szenen nicht zur Beschönigung nutzen.
Dass Benz für die Veranschaulichung des Internierungslagers für Deutsche ab 1945 ebenso wie bei den vorigen Kapiteln eine Zeitzeugin zu Wort kommen lässt, verschleiert genau jenen Zusammenhang. Hier wäre ein Bruch auf formaler Ebene notwendig gewesen, um den Bruch, den die Befreiung von den Nationalsozialist_innen bedeutete, deutlich zu machen. Dass in Thesesienstadt durchaus auch Täter_innen interniert waren und wie es überhaupt zum Umstand der Internierung kam, hätte deutlicher herausgestellt werden müssen. So erscheint der „Deutschenhass“ seitens der tschechischen Bevölkerung lediglich als Fortsetzung von allgemeinem Hass, als habe man nichts aus dem eigenen Leid gelernt.
Wolfgang Benz: Theresienstadt: Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, C.H. Beck., München 2013.. 281 Seiten, mit 46 Abbildungen und 1 Karte. Gebunden. 24,95 €
Helga Pollak-Kinsky: Mein Theresienstädter Tagebuch 1943-1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak, ergänzt und herausgegeben von Hannelore Brenner, Edition Room 28, Berlin 2014. 22 €.
Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien in "analyse und kritik", Ausgabe 596 vom 19. August 2014. Wir danken Johannes Spohr für die Erlaubnis zur Publikation.
[1]Viele Überlebende wählten auch die Bezeichnung Konzentrationslager.