Nachricht | International / Transnational - Europa - Ukraine Der alltägliche Krieg. Ein Bericht aus der Ostukraine.

Anfang September fuhr ich nach Debalzewo. Eine kleine Stadt im Osten der Ukraine. Die Karte der Kampfhandlungen hat sich hier auf eine Weise entfaltet, dass diese Stadt derzeit von drei Seiten durch separatistische und russische Einheiten belagert wird.

Vor dem Krieg war Debalzewo ein wichtiger Eisenbahnknoten im Gebiet Luhansk. Jetzt sind die Bahnlinien ruiniert und die Stadt ist nur durch eine einzige Fernverkehrsstraße aus der Westukraine kommend erreichbar.

Schon seit mehreren Wochen steht Debalzewo unter Beschuss. Obwohl sich vor Ort kein einziger ukrainischer Soldat befindet, wird weiter auf die Stadt gefeuert. Auch während der Waffenruhe an die sich hier keiner hält. Den ganzen Juni war Debalzewo praktisch in der Gewalt von Separatisten und konnte im Juli befreit werden. Jetzt besteht die Gefahr, dass die Stadt wieder der Kontrolle prorussischer Kämpfer unterliegt.

„Wir kommen von Charkiw über eine staubige Landstraße nach Debalzewo. Die Luft ist immer wieder von Brandgeruch erfüllt. Wir fahren schnell und bald sind keine Zivilfahrzeuge mehr zu sehen. Dafür sehen wir immer wieder Panzer und anderes Kriegsgerät. Die Fahrzeuge erinnern mich an Spielzeug für Kinder, das zu überdimensionaler Größe angewachsen ist. Die Propaganda präsentiert uns den Krieg als eine Herausforderung für die reifen erfahrenen Männer. Doch in seiner Ausformung ist er infantil und seine Requisiten sind schockierend regressiv.

Die Panzer machen die Straße kaputt. Ihre Raupen hinterlassen Abdrücke im dünnen Straßenbelag. Von den Spurrinnen geht beim Darüberfahren ein Surren aus. Der Wagen wird auf den Schlaglöchern durchgerüttelt. Am Straßenrand tauchten Linien aus brennendem Gras auf. Ein Geschoss trifft in ein Feld, landet neben der Fahrbahn, versengt das Gras, setzt es da und dort in Brand. Es ist, als sei es hier erst vor kurzem vorbeigeflogen, als sei es mir nur wenige Minuten zuvorgekommen.

Der Name dieser Stadt ist gewölbt, wie die lokale Aussprache: mit einem selbstbewussten weichen ukrainischen 'h' und abgerundeten Vokalen, die plastisch hinter den Gemäuern der Silben hervortreten, als wollten sie sich jeden Moment aus dem Zangengriff des ausgesprochenen Wortes befreien. Die Straßen von Debalzewo sind auch tagsüber wie leergefegt. Der letzte Lebensmittelladen ist einen Tag vor meiner Ankunft ausgezogen. An dem Eisentor prangt ein Vorhängeschloss. Sämtliche Fensterscheiben sind nach dem Beschuss gestern Nacht zerborsten. Überall, wo ich hinkomme, glitzert der Asphalt von den Glassplittern und -scherben. Der ein oder andere versucht, seine Fenster mit Plastikplanen oder Sandsäcken zu schützen, doch die Mehrzahl hat aufgegeben und lässt es bleiben.

Neben dem Lebensmittelladen ist für gewöhnlich ein Markt. Doch es gibt keinen mehr, es stehen nicht einmal Tische mehr draußen. Alle Läden wurden entweder einfach zugesperrt oder zusätzlich mit Platten verdeckt, die inzwischen auch schon beschädigt sind. Von den ursprünglich 20.000 Einwohnern sind ungefähr 5.000 in der Stadt geblieben. Hier gibt es weder fließend Wasser noch Strom, die Gehälter werden nicht ausbezahlt und auch der Handel ist am Ende.

Und dennoch findet in der Stadt immer noch Leben statt. Auch wenn es tief verborgen ist, als verstecke es sich unter der Erde. Geht man am Tag durch Debalzewo, kann man manchmal Menschen sehen, die vor ihren Häusern auf Holzbänken in der Sonne sitzen. Kinder machen keinen Lärm. Sie toben nicht beim Spielen und bleiben in der Nähe der Eltern. Stille, aufflackernde Gespräche versinken im satten Grün der Gärten. Ermattete Bewegungen der Kinder, die wirken, als hätten sie Angst, irgendwen zu stören. In der Nähe des Stadtparks kommen mir – ein seltener Anblick – Passanten entgegen.

Eine junge Frau mit Kind und Mutter. Die junge Frau stellt sich als Straßenkehrerin vor. Sie sagt, sie versuche, jeden Tag arbeiten zu gehen. Sie lächelt viel und ist gesprächig. Sie erzählt von ihrer Liebe zur Stadt und versichert, dass sie hier nicht weg will. Sie mag ihre Arbeit und fühlt sich jetzt besonders gebraucht. Ihre Mutter wird beim Anblick meiner Kamera schneller und wirft mir einen ängstlichen und vorwurfsvollen Blick zu. Dann eilen sie nach Hause.

Ich betrachte ein Einschlagloch vom Granatwerferbeschuss. Es erinnert mich an eine Sonne, wie sie eine Kinderhand gezeichnet haben könnte. Meine ortsansässige Begleitung setzt mit gespieltem Ernst zu einem Erklärungsversuch an: „Wir glauben ja immer, dass die uns jeden Tag umbrin-gen wollen, dass sie uns vernichten wollen, damit von der Stadt nichts mehr übrig bleibt. Welsch großer Irrtum! In Wirklichkeit ist das Ganze ein neues Kinderprojekt. Sie zeichnen Sonnen auf die Straße, um uns eine Freude zu machen. Wir hätten uns ja wenigstens einmal bedanken können.“ Sagt es und lacht schallend.

Dieser Krieg, der zumindest in seinen medialen Darstellungen hartnäckig versucht, sich für etwas anderes auszugeben als er ist (friedlicher Rettungseinsatz, Kampf für die Rechte von Minderheiten etc.), zerstört weiterhin das hiesige Weltbild. Denn der Großteil der Bewohner und Bewohnerinnen von Debalzewe hat bis vor kurzem noch russisches Fernsehen konsumiert.

Der Krieg ist hier tägliches Ereignis.

Die Stadt wird jeden Tag mehrere Stunden lang mit Mehrfachraketenwerfern vom Typ Grad und Smertsch beschossen. Die Zeit versucht hier nicht, mit den Nachrichten Schritt zu halten, sie spiegelt ihren rasenden Lauf nicht wieder. Sie ist stehengeblieben im vielleicht wichtigsten Augenblick für das Verständnis dessen, was hier mit uns gerade passiert: im Augenblick der Erschütterung. Das Standbild der Kriegsszene ist vergrößert und das Leiden ist nun in den Vordergrund gerückt und hat all die schönen Schlachtszenerien, Panzer, Ideologien und den Patriotismus weit in den Hintergrund gedrängt.

Präzise Informationen dringen nicht bis in die Keller durch, und es spielt hier tatsächlich keine Rolle, wer jetzt genau schießt. Nicht, weil die Bürger eine anti- oder proukrainische Haltung vertreten, sondern weil viele von ihnen ihren eigenen Augen nicht trauen mögen und immer noch verwundert sind, dass überhaupt auf sie geschossen wird.

Polizei wird zum Anwalt der Dagebliebenen

Das ukrainische Katastrophenschutzministerium weigert sich wiederholt auszurücken, da es „zu gefährlich“ sei. Die elf Polizeibeamten, die am Vortag aus Lwiw angereist kamen, um hier ihren Dienst anzutreten, haben bereits ihre Kündigung eingereicht. Nach dem jüngsten nächtlichen Beschuss ist in der Polizeizentrale keine einzige Fensterscheibe heil geblieben. Auch die Innenwände sind hier und da durchlöchert.

Und dennoch ist die Polizei in der Stadt präsent. In Eigeninitiative wurden hier mehrere Ansprechstellen eingerichtet. Der Polizeichef beantwortet im Minutentakt Telefonanrufe. Viele Einwohner haben schon eine seiner vielen Handynummern. Und sie fragen ihn ständig, als kenne er die Antwort, wann die Stadt wieder beschossen wird, ob man in der Wohnung übernachten kann und warum er sein Wort nicht gehalten hat, als er Frieden versprach, nachdem Debalzewo befreit wäre.

Ein so vertrauensvolles Verhältnis zwischen den Bürgern und der Polizei erschien mir in den ersten Minuten absurd, wie eine für die Ukraine undenkbare Umkehrung der sozialen Rollenverteilung. Die Schrecken des täglichen Krieges haben die repressiven Kräfte und mafiösen Strukturen, welche die ukrainische Polizei zu ihrem korrupten Handlanger gemacht haben, in die Flucht geschlagen.

Wer früher bestach, erpresste, drohte und raubte, hat sein Revier verlassen. Jetzt, unter Feuer, entstehen hier neuartige Formen des Interagierens zwischen den Bürgern und Bürgerinnen und denen, die in der Stadt normalerweise als Vertreter der grotesken langfingrigen lokalen Regierung galten. Noch nirgendwo habe ich eine solche Kraft gespürt, noch nie solche, an aufgegangene Metallknospen erinnernde, mannsgroße Geschosse gesehen – sie werden als Beweismittel für die Angriffe auf die Zivilbevölkerung von der Polizei aufbewahrt.

Es war schon spät am Nachmittag, als ich ein Donnergrollen höre. Im Donnern war ein ungewöhnliches Dröhnen zu hören. Es klang künstlich und scharf. In einiger Entfernung sehe ich eine ältere, schwerfällige Frau mit Tragetaschen. Sie kann kaum gehen. Jeder einzelne Schritt fällt ihr sichtlich schwer. Doch auf einmal rennt sie los. Mit mühevollen Schritten versuchte sie zu laufen. Die Vögel werden hoch über die Baumwipfel aufgescheucht. Ein lahmer Köter taucht wie aus dem Nichts auf und saust mit eingezogenem Schwanz vorbei.

Plötzlich spüre ich zusammen mit der Atemluft eine warme, salzige Welle in mir aufsteigen. Es ist Angst – Überlebensangst, die ich nie vermutet hätte und mit der ich an diesem Tag zum ersten Mal Bekanntschaft mache.“

Yevgenia Belorusez, September 2014

Übersetzt von Anna Kauk

Yevgenia Belorusez ist Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lebt in Kiew und Berlin und widmet sich derzeit mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung ihrem Projekt „Rajtsentr. Arbeitswelten“ Zusammen mit den am Projekt teilnehmenden Einwohnern mehrerer ukrainischer Kleinstädte will sie eine künstlerische Forschung zur Reflektion der aktuellen ukrainischen Protestbewegung, sowie zum laufenden Militärkonflikt in der Ostukraine durchführen.