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Erste kurze Analyse der Wahlergebnisse der Parlamentswahlen in Griechenland vom 20. September 2015

Information

Überblick über das Wahlergebnis vom September 2015 im Vergleich zu den Januar-Wahlen

September 2015Januar 2015
SYRIZA35,4636,34
ND28,1027,81
XA (Gold. Morgenröte)6,996,28
PASOK6,284,68
KKE5,555,45
POTAMI4,096,05
ANEL3,694,75
ENOSI KENTROON (Bund der Mitte) 3,431,79
LAE (LAIKI ENOTITA)(2,86)-

Betrachtet man das Gesamtergebnis dieser Wahlen so lassen sich grundsätzlich zwei wichtige Aspekte hervorheben:

  • die überraschend angesetzten und damit erfolgreichen Neuwahlen für SYRIZA
  • der Anstieg der Wahlabstinenz.

Trotz  der Unterzeichnung der Vereinbarung zum 3. Memorandum und trotz der Spaltung und des Austritts der innerparteilichen Opposition und zahlreicher weiterer Parteifunktionäre und Mitglieder ist es SYRIZA gelungen, das Wahlergebnis vom Januar 2015 annähernd zu erreichen und den Auftrag zur Regierungsbildung ohne nennenswerte Wählerverluste mit dem gleichen Regierungspartner zu erneuern[1].

Die rasche Durchführung der Wahlen bildete hierfür den entscheidenden Faktor, denn diese ermöglichte erstens, dass  SYRIZA, mit der «Aura» von hart durchgeführten Verhandlungen in die Wahlen ging und ihre großen Stimmanteile in den ärmeren Gegenden des Landes behaupten konnte, wobei die Folgen der Vereinbarung noch nicht eingetreten sind. SYRIZA verzeichnete die größten Stimmanteile in den abgewerteten Gegenden, in denen der Anteil von sozial schwachen Bevölkerungsschichten sehr groß ist. So erreichte SYIRZA z. B. in Fyli, einer griechischen Gemeinde in West-Attika einen Wähleranteil von 45,57 Prozent (gleicher Anteil wie im Januar, allerdings weniger Stimmen), in der Gemeinde Agia Warwara (Kreta) 43,84 Prozent und Aspropyrgos 43,88 Prozent.

Die rasche Wahl  verhinderte zweitens die Bildung einer stabilen Partei „links» von SYRIZA, die sie infrage stellen konnte mit dem Ergebnis, dass die Laiki Enotita («Volkseinheit») nicht ins Parlament einzog und drittens kam sie damit einer Schwächung der ANEL und der Möglichkeit ihres Nichteinzuges ins Parlament zuvor[2] und verhinderte damit Szenarien einer Regierungskoalition mit PASOK, POTAMI oder sogar der ND. Sie verhinderte viertens die Neuordnung der traditionellen Pro-Memoranden-Parteien und besonders der ND, die den Wahlkampf unter der Führung eines Übergangsvorsitzenden bestritt.

In den letzten Tagen erhöhte SYRIZA die Wählermobilisierung auf beeindruckende 70 Prozent. Verglichen mit dem Ergebnis der Januarwahlen verlor sie 9 Prozent ihres Wählerpotentials an die ND, 6 Prozent an die LAE, 3 Prozent an die KKE und 3 Prozent an die XA und verzeichnete einen Zulauf von 13 Prozent von der KKE, 12 Prozent von PASOK, 5 Prozent von der ND, 3 Prozent von der XA.

Die SYRIZA-Wähler wählten sie in hohem Maße wieder

  1. aus Angst vor der Rückkehr der traditionellen Parteien an die Macht[3],
  2. mangels glaubwürdiger Alternativen mit einer Anti-Memoranden-Ausrichtung und
  3. aufgrund der Anerkennung der kämpferischen Haltung während der Verhandlungen[4].

Ein großer Anteil der von SYRIZA enttäuschten Wähler vom Januar entschied sich letztlich für die Enthaltung durch Wahlabstinenz (320.000 Wähler, also etwa 14 Prozent ihres Wählerpotentials), wie wir weiter unten genauer sehen werden. Hinzu kommt, dass SYRIZA aufgrund einer als verantwortungsbewusst geltenden Haltung am Ende der Verhandlungen für bisherige Wähler von Parteien in der rechten und linken Mitte «attraktiver» wurde. Diese Tatsache erklärt die Zuwanderung von Wählern der PASOK, der ND (s.o.) und von POTAMI.

Die ND konnte ihre Potentiale behaupten[5], 10 Prozent der PASOK-Wähler und 6 Prozent der XA-Wähler vom Januar strömten ihr zu. Während des Wahlkampfes wurde die Nominierung eines Übergangsvorsitzenden positiv aufgenommen und spielte bei der Wahl der ND eine wesentliche Rolle, so dass die ND ihr Januarniveau wieder erreichen konnte, nachdem sie infolge des Referendum, zumindest bei Umfragewerten , unter 20 Prozent Auflösungserscheinungen zu verzeichnen hatte. Die Stabilität ihrer prozentualen Anteile ist auch der Tatsache geschuldet ‒ wie auch im Falle von SYRIZA ‒, dass 180.000 ihrer Wähler, die sie nicht wiederwählten, sich für die Wahlabstinenz und damit nicht zugunsten einer anderen Partei entschieden. Die ND war mit einer vorläufig bestellten Parteiführung und ungeklärten Fragen hinsichtlich ihrer Oppositionsstrategie nicht auf die Wahlen vorbereitet. Das zeigt die deutliche Niederlage gegenüber SYRIZA, obwohl diese sich spaltete und im Ruf stand, dass sie aufgrund ihrer Niederlage bei den Verhandlungen im Vergleich zu ihren Ankündigungen vom Januar 2015[6] ein deutlich schlechteres Ergebnis erhalten würde. Die Verfahren zur Nominierung einer neuen Führung in der ND sind inzwischen auf den Weg gebracht.

Die faschistische XA legte zu, wenn auch nicht entscheidend. Das liegt vor allem auch an den hohen Prozentanteilen von SYRIZA in den ärmeren Gegenden. Dennoch ist es bemerkenswert, dass in Vierteln, die dem größten Druck durch Flüchtlingsströme ausgesetzt sind, der Aufstieg der XA spürbarer (ebenso die Zahl der Nichtwähler) geworden ist. Hier ist auch die Zahl der Nichtwähler deutlich höher als im Durchschnitt. Im Einzelnen erzielte die XA auf der Insel Lesbos 7,88 Prozent im Vergleich zu 4,6 Prozent im Januar, auf Kos 10,15 Prozent im Vergleich zu 5,87 Prozent und auf der Inselgruppe des Dodekanes insgesamt 8,07 Prozent im Vergleich zu 5,53 Prozent im Januar 2015.

Obwohl die PASOK aufgrund der Polarisierung zwischen der ND und SYRIZA Verluste hinnehmen musste (siehe Wählerwanderungen zu SYRIZA und ND ), erhöhte sie ihre Anteile, indem sie den Großteil der Wählerstimmen der im September nicht zur Wahl stehenden Partei von G. Papandreou für sich verbuchen konnte, der im Januar 2,47 Prozent erzielte. Die KKE wies keine nennenswerten Zugewinne auf, was hauptsächlich auf die Stabilität des Potentials von SYRIZA in den Gegenden mit einfachen Wohnlagen zurückzuführen ist. Als Ergebnis der dominierenden Polarisierung musste POTAMI einen Rückgang seines Anteils um ein Drittel hinnehmen. Die Partei konnte gerade einmal 45 Prozent ihres Wählerpotentials mobilisieren. Die Stimmenabgänge verteilten sich im Wesentlichen auf die ND (26 Prozent) und SYRIZA (18 Prozent). Sie wird in den kommenden Monaten einen außerordentlichen Parteitag abhalten. Die ANEL schaffte den Einzug ins Parlament, auch weil die Auswirkungen des  Memorandums derzeit noch nicht erkennbar sind. Die Enosi Kentroon (Bund der Mitte) ist eine auf die Führungsfigur ausgerichtete, gemäßigte, mitteorientierte Partei mit im Weiteren nicht klar umrissenen politischen Merkmalen. Der Parlamentseinzug eines bis vor kurzem eher beschaulichen politischen «Gebildes» kann einerseits als Verspottung des Wahlaktes durch einen Teil der Wählerschaft verstanden werden, andererseits aber auch als Symptom einer generellen Schwächung des politischen Systems, die sich beispielsweise ebenso in der Wahlabstinenz ausdrückt. Der LAE gelang es letztlich nicht, ein verlässlich fundiertes und öffentlichkeitswirksames Wahlkampfprofil aufzubauen und war somit nicht in der Lage, mit den Wählerressourcen des OXI beim Referendum zu kommunizieren. Der Zeitmangel, die Angriffslust von Seiten der Eliten, der große Anklang von SYRIZA bei der einfachen Bevölkerung, aber auch das Gefühl der Wiederholung der SYRIZA-Politik von vor der Regierungsübernahme, machten eine zwar neue, aber dennoch traditionell wirkende linke Partei wirkungslos.

Das zweite wesentliche Merkmal dieser Wahlen ist die Zunahme der Wahlabstinenz. Seit 2009 (dem letzten Jahr vor der Ära der Memoranden) haben wir einen Wählerrückgang von 1,5 Millionen. Von ungefähr 7.000.000 Wahlberechtigten in 2009 wählten bei den letzten Wahlen lediglich 5.500.000 bei einer Gesamtzahl von rund 9.900.000[7] registrierten Wählern. Zwischen den Januarwahlen und den  Septemberwahlen erhöhte sich die Wahlabstinenz um 764.000 und erreichte 43,3 Prozent.[8] SYRIZA verlor 320.000 Wähler oder 14 Prozent seiner Wähler vom Januar und die ND 192.000 Wähler, also ca. 11 Prozent ihres Wählerpotentials. Der Anstieg der Wahlabstinenz ist in abgelegenen Regionen des Landes mit schwierigem und ökonomisch aufwändigerem Zugang höher, sie war jedoch auch in den städtischen Ballungsräumen spürbar. Die größten Anteile an Nichtwählern gab es in Florina mit 64,46 Prozent, Kefalonia mit 61,92 Prozent und in Lakonia mit 59,54 Prozent, also in Randgebieten des Landes. Dennoch verzeichneten auch städtische Ballungszentren wie der Wahlbezirk A' von Piräus mit 47,59 Prozent, aber auch der Wahlbezirk A' von Athen mit 46,72 Prozent überdurchschnittlich viele Nichtwähler, während sich ihr Anteil im Bezirk B' von Piräus auf 43,43 Prozent belief.

Wir haben noch keine Veröffentlichung weiterer Daten zur altersmäßigen, klassenspezifischen und bildungsbezogenen Verteilung der Nichtwähler, doch wird gerade bei den Jungwählern von einem hohen Nichtwähleranteil ausgegangen. Es ist dennoch wahrscheinlich, dass sich die Wahlabstinenz zu einem Strukturmerkmal entwickeln wird, denn es sieht so aus, als befände sich auch Griechenland in einem Prozess des Niedergangs der repräsentativen demokratischen Verfahren und Institutionen. Zur bereits bekannten Abscheu der Bevölkerung gegenüber dem traditionellen politischen Personal muss nun noch die Enttäuschung über die Schwäche des durch Wahlen ausgeübten Einflusses auf die kritischen wirtschaftlichen und sozialen Fragen hinzugefügt werden, wie sie  im Ausgang der jüngsten Verhandlungen deutlich wurde. Die Beschädigung der repräsentativen Demokratie beginnt nun tatsächlich beunruhigend zu werden.

 


[1]    Es ist bemerkenswert, dass der Stimmenverlust ausgedrückt in absoluten Zahlen größer ausfällt als der prozentuale Stimmenverlust, aber während sich die Stimmenverluste primär aus der Wahlabstinenz ergaben, ist der Verlust prozentual ausgedrückt unbedeutend.

[2]    Während der Zeit der Memoranden stellte sich heraus, dass die kleineren, an Koalitionsregierungen beteiligten Parteien, schwächer werden und verschwinden, wenn sie nicht im Parlament vertreten sind.

[3]    Die Wahlkampfkampagne von SYRIZA konzentrierte sich genau auf diese Angst, auf die Kampfansage gegen die Korruption und den Filz und daher profitierte sie von der Abscheu der Wähler vor dem traditionellen politischen Personal.

[4]    Auf diese Tatsache kann auch die positive Bilanz mit der KKE zurückgeführt werden.

[5]    Die ND verzeichnete die größten Stimmanteile in den traditionell bürgerlichen Vierteln wie Filothei-Psychiko mit 54,06 Prozent und Kifissia mit 47,59 Prozent.

[6]    Mehr Fakten hinsichtlich des Einflusses des Wahlergebnisses auf die politische Strategie der ND (aber auch der anderen Parteien) im nächsten ausführlicheren Artikel.

[7]    Wir müssen anmerken, dass es einen ungeklärten, zeitunabhängigen Anteil von Nichtwählern aufgrund der unsystematisch durchgeführten Bereinigung der Wählerlisten gibt.

[8]    Anzumerken ist, dass die Zahl der Wähler im Referendum vom Juli etwa gleich hoch war wie bei den Januarwahlen.