
Jeder Fußballfan kennt Uwe Seeler und Franz Beckenbauer. Aber wer kennt schon Erwin Seeler und Alfons Beckenbauer? Der Vater von Uwe und der Onkel von Franz begannen ihre sportliche Laufbahn in Arbeitersportvereinen.
Erwin Seeler, Lastkranführer im Hamburger Hafen und Vater von Uwe und Dieter, war ein Star im Hamburger Arbeiterfußball. Mit ihm gewann die erste Herren-Mannschaft des SC Lorbeer 06 zweimal, 1929 und 1931, die Bundesmeisterschaft des Arbeiter Turn- und Sportbundes. Erwin Seeler trug bei neun Länderspielen und Alfons Beckenbauer bei fünf Länderspielen das Trikot der Auswahl des deutschen Arbeitersports.
Der Ringer und Olympia-Teilnehmer Werner Seelenbinder und der Fußballer Franz ‚Bimbo‘ Binder sind weitere Sportler, die ihre ersten Erfolge in Arbeitersportvereinen feierten. Binder konnte später mit Rapid Wien sechs österreichische Meisterschaften erringen. Binders umfangreiche Torausbeute von 421 Treffern in 347 Pflicht- und Länderspielen ist bis heute unvergessen.
In Abgrenzung und Konkurrenz zum Deutschen Fußballbund (DFB) organisierte der Arbeiter Turn- und Sportbund (ATSB) einen eigenen Spielbetrieb, trug Verbands- und Bundesmeisterschaften aus und bestritt auch internationale Partien. Die Proletarier, die von Nationalismus nichts wissen wollten, bezeichneten ihr Team als Bundesauswahl. In Konkurrenz zur sozialistischen Luzerner Sportinternationalen gründete sich Mitte der 1920er Jahre die kommunistische Rote Sportinternationale.
Sportbuchautor Christian Wolter hat in seinem aktuellen Werk die Entwicklung des Arbeiterfußballs in der Region Berlin und Brandenburg vom Kaiserreich bis 1933 untersucht. Ausgelöst durch die politischen Umbrüche verschärfte sich 1919 auch die Konkurrenz zwischen dem bürgerlichen Verband Brandenburgischer Ballsportvereine (VBB) und der proletarischen Märkischen Spielvereinigung (MSV), die fortan den Arbeiterspielbetrieb organisierte. In übersichtlichen Kästen stellt Wolter jährlich die Endrundenpaarungen der vier ATSB-Verbandsmeisterschaften und der Bundesmeisterschaft vor. An mehreren Stellen berichtet Wolter über vorhandene Spannungen und taktische Winkelzüge zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Fußballfunktionären.
Abwerbeversuch in elterlicher Wohnung
Von allen ATSB-Sportarten hatte der Fußball die stärksten Abgänge zu den bürgerlichen Vereinen zu verzeichnen. Dies hing laut Wolter damit zusammen, daß mit Fußballspielen etwas Geld zu verdienen war. Erich Bergmann, Führungsspieler beim proletarischen BFC Alemannia 1922, bekam am 9. September 1924 Besuch in der elterlichen Wohnung. Vertreter der bürgerlichen Concordia Wilhelmsruh wollten ihn zu einem Vereinswechsel bewegen und boten Bergmann neue Sportbekleidung und zehn Mark je Einsatz. Bergmann ging zum Schein auf das Angebot ein und machte den Anwerbeversuch öffentlich.
Mangels Fahrgeld reisten viele Mannschaften per Fahrrad zu ihren Auswärtsspielen. Pfingsten 1932 hatten die radelnden Kicker von Eintracht Neukölln eine Anfahrt von rund 120 Kilometern zu Blau-Weiß Finsterwalde. Nachdem die Partie 2:2 geendet hatte, wurde zurückgeradelt.
In seiner Darstellung geht Christian Wolter streng chronologisch vor. Von 1919 bis 1933 widmet er jedem Jahr ein Kapitel. Zu Beginn schildert er jeweils kurz die allgemeine wirtschaftliche und politische Lage. Aus zeitgenössischen Sportpublikationen hat er eine Fülle an Vereins- und Verbandinterna, Spielergebnissen, sportlichen Erfolgen und organisatorischen Einzelheiten zusammengetragen.
Wie ein Buchhalter berichtet Wolter detailversessen von Anträgen und Diskussionen auf Kreistagen der Märkischen Spielvereinigung und zitiert aus den Zeitschriften: Vorwärts, Rote Fahne, Arbeiter-Fußball, Arbeiter-Sport, Arbeiter-Turn-Zeitung, Berliner Fußball-Woche, Spiel und Sport, Rot-Sport und Freie Sportwoche. 1927 verweigerten MSV-Vereine Angehörigen der bewaffneten Staatsmacht die Mitgliedschaft. Ein Jahr später bestätigte eine Versammlung die Sperre für Polizei- und Reichswehrangehörige, auch wenn eine Weddinger Polizeibereitschaft für die Rote Hilfe gesammelt hatte.
Wolters Zusammenstellung ist eine Fundgrube für Kuriositäten, Besonderheiten und Einzelfälle. Doch durch die chronologische Aneinanderreihung zahlreicher Einzelfakten ermüdet und verwirrt Christian Wolter seine Leser. Kurzbiografien bedeutender Sportler und Funktionäre hätten eine Einordnung erleichtert. Eine thematische Gliederung nach Sportfesten, Meisterschaften und eine Aufschlüsselung sozialdemokratischer und kommunistischer Interessen und Einflussnahmen auf Sportverbände wäre nachhaltiger gewesen.
Kai Böhne / Göttingen
Christian Wolter: Arbeiterfußball in Berlin und Brandenburg 1910-1933. Arete Verlag, Hildesheim 2015; 228 Seiten DIN A4, 19,95 EUR, ISBN 978-3-942468-49-7