Gratulation zunächst zum Jubiläum der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Es gibt nicht viele unbefleckte Namen in der jüngeren deutschen Geschichte. Rosa Luxemburg ist ein solcher großer Name. Er schmückt und verpflichtet Sie. Sie können ihn mit Stolz tragen.
Ich war schon zweimal in der Bundestagsfraktion zu Kritik der Linken eingeladen. Das war sehr lebendig und hat großen Spaß gemacht. Aber diese Gespräche haben sich eher auf der tagespolitischen und taktischen Ebene bewegt. Bei Ihnen, der Denkfabrik der Linken, möchte ich eher grundsätzlich reden, strategisch.
Die Linke als Partei und politische Bewegung hat ihren festen Platz gefunden im politischen System der Bundesrepublik. Sie hat streckenweise sogar aus der Opposition mitregiert, so großen Druck erzeugt, dass sie die Politik insgesamt ein Stück nach links gerückt hat. Den Mindestlohn, die Sozialdemokraten im Saal mögen mir verzeihen, gäbe es nicht ohne die Linke.
Aber die Linke hat sich damit eher als linkssozialdemokratische denn als sozialistische Partei profiliert. Ihre Zukunft kann nicht darin liegen, wie linke Sozialdemokraten höheren Mindestlohn, auskömmlichere Renten oder eine Vermögensteuer zu fordern. Bliebe es dabei, stellte sich historisch die Frage nach der Vereinigung der beiden Parteien. Die Linke wäre dann nur Produkt der strategischen Dummheit der SPD nach der Wiedervereinigung. Das kann man so sehen, auch ich habe wiederholt für eine Vereinigung mit der SPD geschrieben; aber zwangsläufig ist das keineswegs.
In der Präambel des Programms der Partei, die Ihnen nahe steht, heißt es: «Die Linke als sozialistische Partei steht für Alternativen.» Und weiter: «Wir brauchen ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem: den demokratischen Sozialismus.» Da wären wir – verzeihen Sie bitte die anmaßende Formulierung – bei meinem ersten Auftrag. Ich finde, die Linke – in diesem Fall vor allem ihre Denkfabrik, die Rosa-Luxemburg-Stiftung – hat die Aufgabe, auf Basis der Erfahrungen mit dem gescheiterten Experiment der DDR, ein Modell für einen solchen demokratischen Sozialismus zu diskutieren und zu entwickeln. In der SPD ist «demokratischer Sozialismus» eine Traditionsformel. Bei Ihnen sollte er mit Leben, mit Zukunft gefüllt werden. Nicht wenige in der Gesellschaft erwarten das von Ihnen. Und zwar mit beiden Schwerpunkten: Demokratie und Sozialismus. Wie verstehen Sie das eine, wie das andere? Das heißt, Vorstellungen zu entwickeln über die Vervollkommnung der Demokratie. Nur parlamentarisch, repräsentativ – oder auch direkt, und wenn ja, wann und wo? Ohne dass direkte Demokratie zur Diktatur der Minderheiten wird.
Noch wichtiger erscheint mir aber, wenn von Sozialismus die Rede ist, die Eigentumsfrage zu stellen. Staatseigentum kann es nicht sein – und falls doch, dann nicht pauschal und im Einzelfall sehr gut begründet. Der Ruf nach Verstaatlichung der Banken ist keine Antwort. Ebenso wenig die Beschwörung von Ludwig Erhard. Taktisch mag das witzig sein, als aufrichtig empfinde ich es nicht. Nein, die Eigentumsfrage zu stellen, heißt neue Formen des gelebten, des funktionsfähigen, des ökonomisch effizienten Masseneigentums zu entwickeln. Wenn der Begriff nicht so schrecklich missbraucht und entwertet worden wäre, würde ich sagen: des Volkseigentums. Da bietet das untergegangene jugoslawische Modell Ansatzpunkte, aber auch die heute schon vorhandenen, allerdings unterentwickelten, vielfältigen Modelle der Kapitalbeteiligung von Arbeitnehmern. Warum gibt es die nicht in allen Unternehmen ab einer gewissen Größenordnung, gesetzlich vorgeschrieben oder gar im Grundgesetz verankert und mit Folgen für die demokratische Organisation von Unternehmen? Kluge Mittelständler haben das längst erkannt – und praktizieren es so phantasievoll wie weitsichtig. Wo Direktbeteiligungen nicht möglich sind, etwa in sehr kleinen Unternehmen oder im Öffentlichen Dienst, sind gesellschaftliche Fonds denkbar, die Unternehmertum nicht ersticken lassen. Über all das ist auch in den Gewerkschaften jahrzehntelang diskutiert worden, aber am Ende hat man es immer wieder aufgegeben. Sie müssen sich entscheiden. Entweder Sie sagen: Die Reichen werden immer reicher, weil sie Kapital besitzen. Oder Sie sagen: Kapital ist zu riskant für Arbeitnehmer. Beides zusammen geht aber nicht.
Sozialismus muss also nicht Klassenkampf heißen – mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats, die sich als Einparteien-Diktatur entpuppt hat. Sozialismus im modernen Verständnis kann demokratisch errungen werden, auch durch parlamentarische Koalitionen. Die Eigentumsfrage aufzuwerfen hieße also nicht, Sie bündnis- und regierungsunfähig zu machen. Oder: nicht europatauglich. Es bedeutet keineswegs Sektierertum – ganz im Gegenteil.
Zu dem großen Nachdenken, das ich Ihnen empfehle, gehört auch, Alternativen zu entwickeln zu den heute durch Weltkonzerne monopolisierten modernen Kommunikationstechniken. Also vor allem den sozialen Netzwerken: Facebook, Google, Twitter und Co. Solche Netzwerke müssen ihren Platz haben in einer sozialistischen Gesellschaft, denn sie sind urdemokratisch. Sie sind sogar konstituierend für ein modernes Verständnis von demokratischem Sozialismus. Aber werbegetrieben, renditefixiert, börsennotiert und angefüllt mit Hass, Rassismus und Menschenverachtung müssen sie keineswegs sein. Wie also lautet Ihre freiheitliche Alternative?
Da wären wir bei meinem zweiten Auftrag. Der erste sozialistische Versuch auf deutschem Boden wollte den «neuen Menschen» schaffen. Das ist, wenn wir auf die Gesellschaft schauen, die er hinterlassen hat, schrecklich schief gelaufen. Das Gegenteil wurde angerichtet. Der alte Wolfsmensch ist wieder unterwegs. Rassismus, Neonazismus und Fremdenfeindlichkeit sind nirgendwo so ausgeprägt wie im Osten Deutschlands, auf den Ruinen des einstmals real existierenden Sozialismus. In ganzen Regionen werden das öffentliche Bewusstsein, ja die Straßen von ihnen beherrscht. Mit fürchterlicher, alltäglicher Gewalt gegen Migranten, deren Häuser und Wohnungen. Der Widerstand gegen Flüchtlinge und Migranten wurzelt tief in der Anhängerschaft aller Parteien – auch jener der Linken. Sie alle kennen die ergrauten Herren, die früher den «bewaffneten Organen» angehörten, und heute in Ihren Parteiversammlungen aufstehen um zu verkünden, Ordnung müsse hergestellt werden an den Grenzen. Ein Viertel der Linken-Anhänger, hat eine Umfrage aufgedeckt, kann sich vorstellen, bei Demonstrationen gegen die Islamisierung Deutschlands mitzumarschieren. Bei Pegida in Dresden sind vermutlich schon viele dabei. Das aber darf Sie nicht lähmen oder verstummen lassen. Ein flotter Spruch wie «Die teuersten Flüchtlinge sind Steuerflüchtlinge» dient vor allem dem Entkommen vor diesen zweifelhaften Anhängern.
Mein Eindruck ist, dass die anderen Parteien, weil schwächer verwurzelt im Osten als im Westen Deutschlands, nicht in der Lage oder bereit sind, solchen Tendenzen wirkungsvoll entgegen zu treten. Bei der Linken ist die Verwurzelung, wenigstens kommunal, aus historischen Gründen sehr viel stärker. Also ist es der besondere Auftrag der Linken – und ihrer Denkfabrik –, der Fremdenfeindlichkeit mutig, ausdauernd und aufklärend mit nachhaltig angelegten Kampagnen und Initiativen paroli zu bieten. Und die anderen demokratischen Parteien dabei mitzunehmen. Das heißt: Flüchtlinge empfangen, schützen, begleiten und integrieren.
Den ersten Auftrag lege ich Ihnen freundlich nahe, den zweiten formuliere ich drängend, ja fordernd. Wenn Sie hier nicht mutig und risikobereit Farbe bekennen, weil Sie fürchten, Wähler an Rechtsradikale zu verlieren, brauchen Sie über demokratischen Sozialismus gar nicht mehr nachzudenken.
Also wünsche ich Ihnen bei Ihrem ersten Auftrag, so Sie ihn denn annehmen, intellektuelle Freude. Beim zweiten aber Courage. Bringen Sie die auf, werden Sie nicht alleine sein.