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Die Niederlage des Front National: Nochmal davon gekommen?

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«Ein Aufschub für die Republik» titelt die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde in ihrer Dienstags-Ausgabe (15. Dezember 2015), der Leitartikel auf der Seite Eins ist überschrieben mit: «Handeln vor der Katastrophe». Diese Schlagzeilen geben dem auch sonst verbreiteten Gefühl einen Ausdruck, wonach man in Frankreich noch einmal davon gekommen ist, was politische Siegeschancen der extremen Rechten betrifft – sich aber auf gar keinen Fall, mit dieser Feststellung im Rücken, nun getrost zurücklehnen darf.

Dem Front National (FN) ist es im zweiten Durchgang der französischen Regionalparlamentswahlen am 13. Dezember d.J. nicht gelungen, eine der dreizehn künftigen Regionalregierungen zu stellen. Er konnte keine der juristisch ab dem 1. Januar 2016 bestehenden neuen Regionen – einige von ihnen gingen aus dem Zusammenschluss bisheriger Verwaltungsregionen hervor, es gab ihrer bisher 22 – «erobern». Die konservativ-wirtschaftsliberale Rechte stellt künftig sieben der neuen Regionalregierungen, die Sozialdemokratie fünf, auf Korsika gewannen die Autonomisten und Inselnationalisten. Das Scheitern der extremen Rechten bei dem Versuch, einen oder mehrere Exekutivposten an der Spitze der Regionen zu übernehmen, erklärt sich zum Gutteil aus der Bündelung der übrigen politischen Kräfte, um dies zu verhindern.

Hinter dieser Realität verbirgt sich jedoch eine zweite. Denn der Front National kann zugleich auf neue Rekordzahlen verweisen, was die Ausdehnung seines wahlpolitischen Einflusses betrifft. Die erste lautet: 358 Sitze in den Regionalparlamenten, das sind so viele wie noch. Dadurch wird Marine Le Pen im Übrigen auch keinerlei  Schwierigkeiten haben, zur nächsten Präsidentschaftswahl anzutreten – dazu sind die Unterstützungsunterschriften von 500 Parlamentarier/inne/n oder Bürgermeistern erforderlich. In der Vergangenheit drohte der FN mehrfach, knapp an dieser Hürde zu scheitern, bis dann doch noch einige Bürgermeister für ihn unterzeichneten. Nun weist die Partei jedoch, zum ersten Mal, in ihren eigenen Reihen genügend Mandatsträger/innen dafür auf.

Neuer Sockel für den FN-Einfluss

Der zweite Rekordwert: In den Stichwahlen stimmten insgesamt 6,82 Millionen Französinnen und Franzosen für die rechtsextreme Partei, nachdem es in der ersten Runde 6,02 Millionen waren. Prozentual ergab dies in beiden Fällen knapp 28 Prozent. Das sind so viele wie noch nie. Ihr bisheriger Rekord lag bei 6,42 Millionen Stimmen im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen von 2012 für Marine Le Pen. Ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, hatte 2002, als ihm der Einzug in die Stichwahl um die französische Präsidentschaft (neben Jacques Chirac) gelungen war, insgesamt 5,5 Millionen Stimmen sammeln können.

Gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten – nicht jener der tatsächlich Abstimmenden – entspricht diese neue Rekordzahl einem Anteil von 13,2 Prozent der in die Wählerverzeichnisse eingetragenen Bürgerinnen und Bürger. Die Wahlenthaltung betrug in der ersten Runde 49,9 Prozent, im zweiten Durchgang stieg sie sprunghaft auf 58,5 Prozent. Dieser Zuwachs an Wahlteilnehmern und –teilnehmerinnen fällt noch höher aus als der zwischen den beiden Durchgängen der französischen Präsidentschaftswahl von 2002 zu verzeichnende: Damals war die Beteiligung um 8,11 Prozent gestiegen. In beiden Fällen ging es vielen Stimm-Abstinenzlern der ersten Runde darum, in den Stichwahlen einen Durchmarsch des FN zu verhindern.

Der größere Teil der Nichtwähler/innen aus der ersten Runde stimmte folgerichtig in der zweiten dann für jene Listen, ob konservative oder sozialdemokratische, die gegen den FN antraten. Eine Ausnahme bilden dabei allerdings die beiden Regionen in Nordost- und Südostfrankreich, in denen der FN nach allgemeiner Auffassung tatsächliche Siegeschancen aufwies: Nord-Pas de Calais-Picardie (40,64 Prozent für die Spitzenkandidatin Marine Le Pen im ersten, 42,2 Prozent im zweiten Durchgang) und Provence-Alpes-Côte d’Azur (40,55 Prozent für die Liste von Marion Maréchal-Le Pen in der ersten und 45,2 Prozent in der zweiten Runde). Dort fiel die Zunahme bei der Stimmbeteiligung ungefähr so stark aus wie im landesweiten Durchschnitt. Aber einer Umfrage des Instituts OpinionWay am Ausgang der Wahllokale zufolge stimmten in diesen beiden Regionen zwar 60 Prozent derer, die in der zweiten Runde eine gültige Stimme abgegeben und sich in der ersten enthalten hatten, für die konservative Liste. Diese stellte die einzige Alternative zum FN dar, nachdem die Sozialdemokratie die ihre zurückgezogen hatte, um Dämme gegen die extreme Rechte zu errichten. Aber 40 Prozent dieser vormaligen Nichtwähler/innen stimmten nunmehr für den FN. In diesen beiden Regionen übte die Partei also eine gewisse Anziehungskraft auch auf einen Teil der Nichtwähler aus. Im Übrigen weisen diese Regionen auch einen Rekordwert an ungültig abgegebenen Stimmen auf (4,5 Prozent im Nordosten und 5,4 Prozent in PACA). Dabei dürfte es sich um Linkswähler/innen handeln, die nicht konservativ votieren mochten, aber zugleich den Anteil des FN an der Gesamtzahl der abgegeben Stimmen verringern wollten.

Am stärksten war diese Tendenz, in dem Ziel abzustimmen, «den FN zu verhindern», in der jüngeren Generation. So erklärten 72 Prozent der Wahlteilnehmer/innen insgesamt, doch 78 Prozent der 18- bis 30jährigen unter ihnen gegenüber dem Umfrageinstitut Harris Interactive, ihr Wahlmotiv (oder eines ihrer Stimmmotive) liege in der Verhinderung einer Regierungsübernahme durch den FN. Allerdings scheint dies im Widerspruch dazu zu stehen, dass laut OpinionWay in dieser Generation 29 Prozent in der zweiten Runde für den FN stimmten. Zwei Drittel der Jungwähler/innen zwischen 18 und 24 enthielten sich zugleich in den Stichwahlen ihrer Stimme. Jenseits dieser Zahlen, die sich durch eine gewisse Widersprüchlichkeit auszeichnen, dürfte jedoch feststehen, dass in der jüngeren Generation eine gewisse Polarisierung herrscht. Wiederum bei Harris Interactive taucht die Zahl von 31 Prozent der Jungwähler auf, denen zufolge «allein der FN neue Lösungen anzubieten» habe, während 23 Prozent der Wählerschaft insgesamt dieser Antwort zustimmten.

Zusammensetzung der Wähler/innen/schaft

Wie schon bei anderen Wahlen in den letzten 25 Jahren – seitdem die früher einmal eher mittelständische Wählerschaft des FN während der achtziger Jahre ab den Neunzigern zum Teil durch eine Unterklassen-Anhängerschaft ausgetauscht wurde, parallel zum Wechsel im sozial- und wirtschaftspolitischen Diskurs der rechtsextremen Parteien – weist der Front National einen „Unterklassenbauch“ auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person für den FN stimmt, wächst umgekehrt proportional zum Einkommen sowie zum Bildungsgrad. Treffen die Zahlen des Instituts OpinionWay zu, dann stimmten 14 Prozent der höheren Angestellten sowie Angehörigen intellektueller Berufe für den FN, doch 54 Prozent der Arbeiterschaft - sofern sie wählen ging, denn überdurchschnittlich viele Angehörige dieser sozialen Gruppe gingen überhaupt nicht zur Wahl. Aber auch 29 Prozent der Unternehmer und Selbständigen votierten demnach für den FN. Von den Befragten mit Hochschulabschluss stimmten derselben Befragung zufolge 14 Prozent für den FN, bei denen mit Abitur 33 Prozent, unter denjenigen ohne Abitur hingegen 45 Prozent.

Unter den Anhänger/inne/n aller politischen Parteien weist die FN-Wählerschaft den höchsten Anteil von Personen auf, die sich als «an den Regionalwahlen interessiert» ausgaben (60 Prozent, ansonsten im Durchschnitt 45 Prozent), die ihre Stimmentscheidung als seit längerem feststehend bezeichneten (47 Prozent gegenüber 42 Prozent im allgemeinen Durchschnitt), und die «nationale Politikinhalte» als vorrangig gegenüber «lokalen» darstellten (63 Prozent, durchschnittlich 41 Prozent). Dabei handelt es sich vor allem um die üblichen ideologischen Symbolthemen: Einwanderung (von 77 Prozent der FN- und 34 Prozent der allgemeinen Wählerschaft als Motiv angegeben) und «Innere Sicherheit“ (72 Prozent gegenüber 45 Prozent). Hinzu kommen Steuersenkungen (48 Prozent gegenüber 39). Nahezu alle anderen Themen interessierten die FN-Wähler/innen weniger als die anderen, handele es sich um die Schaffung von Arbeitsplätzen (33 Prozent zu 51), Umweltschutz (22 Prozent zu 39) oder Schulbauten, wofür die Regionen zuständig sind. Als wichtige Motiv wurde durch die FN-Wähler/innen ferner angegeben, dass sie durch ihre Stimmabgabe die Zentralregierung unter François Hollande abstrafen wollten. Dieses Motiv wurde von 63 Prozent unter ihnen genannt, im Durchschnitt aller Wähler/innen irgendeiner Partei durch 36 Prozent.

Was die früheren politischen Präferenzen der «frischen» FN-Wähler/innen betrifft, fällt auf, dass besonders viele neu Hinzukommenden der extremen Rechten früher für Nicolas Sarkozy stimmten – 20 Prozent von dessen Wähler/inne/n bei der Präsidentschaftswahl 2012 fanden sich dieses Mal beim FN ein. Gemessen am Stimmverhalten in der ersten Runde der Regionalparlamentswahlen wechselten vor allem Wähler/innen der nationalistischen bürgerlichen Rechten, vertreten durch den sich selbst als «gaullistisch» ausgebenden EU-Kritiker Nicolas Dupont-Aignan, in der Stichwahl zum FN. Dupont-Aignans Listen erzielten im ersten Durchgang knapp vier Prozent, im zweiten fanden sich 32 Prozent seiner Wählerschaft (laut OpinionWay) beim FN wieder. Dupont-Aignan hatte jede Stimmempfehlung für die zweite Runde verweigert.

Die Niederlage des FN in den Stichwahlen weist vor allem auf das strategische Problem hin, das für ihn nach wie vor darin besteht, dass er über keine Verbündeten unter den anderen politischen Kräften verfügt. Dadurch fehlen ihm die Stimmreserven, die für andere politische Parteien daraus resultieren, dass sie in der zweiten Runde ihre Wählerpotenziale mit denen anderer Parteien bündeln. Nachdem in den besonders vom FN «gefährderten» Regionen die sozialdemokratischen Listen zugunsten einer Wahlempfehlung für die Konservativ-Liberalen zurückgezogen worden waren (auch wenn nicht alle Linkswähler/innen dieser Aufforderung Folge leisteten), wuchsen die Anforderungen für die extreme Rechte erheblich. Denn in einer Stichwahl mit drei Listen genügt eine absolute Mehrheit für den Wahlsieg, in einer Runde mit nur zwei Listen ist jedoch eine absolute Mehrheit erforderlich. Eine solche hat in jüngerer Zeit keine rechtsextreme Partei in Europa erreicht. Zwar regierten oder regieren solche Parteien manche Regionen in Europa (in Österreich ehemals Kärnten und jetzt das Burgenland, in Italien die norditalienischen Regionen Lombardei und Venetien), doch erreichten die betreffenden Parteien – FPÖ und Lega Nord – dabei jeweils nur relative Mehrheiten und schlossen Koalitionen mit anderen Kräften. Historisch hat selbst die NSDAP in zugespitzten wirtschaftlichen Krisenzeiten keine eigene absolute Mehrheit erreicht (jedenfalls nicht auf deutschlandweiter Ebene), sondern ging ihrerseits Bündnisse mit Deutschnationalen und Konservativen ein.

Welche Konsequenzen für den FN?

Auf ihr Dilemma, mit einer Strategie des «Allein gegen alle» regelmäßig (spätestens) am Sperrriegel der erforderlichen absoluten Mehrheit zu scheitern, könnte die Partei von Marine Le Pen grundsätzlich mehrere Antworten geben. Die eine bestünde darin, zu versuchen, die Konservativen zu zerreißen und einen Teil von ihnen zu sich herüberzuziehen. Dies könnte ansatzweise dann gelingen, wenn der FN in einer Stichwahl gegen die Sozialdemokratie oder einen Block von Linksparteien anzutreten hätte. Doch er kann sich seine Gegenspieler bei Wahlen nicht aussuchen, und ob es sich um die Präsidentschaftswahl 2002 oder die jüngsten Regionalparlamentswahlen handelt – oft steht er Konservativen gegenüber, und dann gelingt es Letzteren, sowohl einen Teil der rechten Wählerschaft als auch die der Mitte und der Linken hinter sich zu vereinen, während der FN in eine Rechtsaußenecke abgedrängt bleibt. Dafür erreicht er zwar bemerkenswert hohe Stimmergebnisse, doch bis an die Fünfzig-Prozent-Marke reichte er bislang nicht heran.

Eine andere Strategie bestünde darin, heute schon Bündnisangebote an manche konservativen Kräfte zu richten. Eine dritte, ihr diametral entgegen stehende besteht darin, zu erklären, «Links» und «Rechts» spielten als politische Kategorien ohnehin keine Rolle mehr, und der FN stünde als «einzige Alternative zu den abgewirtschafteten Systemparteien» in Äquidistanz sowohl zur Linken als auch zur bürgerlichen Rechten. Die wirkliche Trennungslinie verlaufe auch nicht mehr zwischen politischer Linker und politischer Rechter – denn in einem solchen Falle bliebe der FN auf konservative Bündnisse angewiesen -, sondern etwa zwischen «dem Weltsystem unterworfenen Parteien» einerseits und Nationalisten andererseits.

Letztgenannten Kurs hat der FN seit den frühen 1990er Jahren eingeschlagen, nachdem rechtsextreme Intellektuelle und Strategien damals theoretisiert hatten, durch den Fall der Berliner Mauer und den angeblichen «Tod des Marxismus» könne ihre Partei den vermeintlich frei werdenden Platz der «Systemopposition» und des Ausdrucks sozialer Veränderungswünsche einnehmen. Sinnfälligen Ausdruck fand diese Strategie im Jahr 1995 durch die vorübergehende Übernahme des Slogans Ni droite ni gauche, Français («Nicht links, nicht rechts, sondern Franzosen»), die schon bei Jacques Doriot im Faschismus der 1930er Jahre Verwendung gefunden hatte.

Ähnlich positioniert sich auch heute Marine Le Pen wiederum. In einer Ansprache am Abend des 10. Dezember in Paris, wo sie zusammen mit allen regionalen Spitzenkandidat/inn/en des FN auftrat, behauptete sie, die wirkliche politische Spaltung im Lande verlaufe zwischen mondialistes (ungefähr: Anhängern einer Eine-Welt-Ideologie) und «Patrioten». Alle «Altparteien» gehörten in den ersten Sack, der FN verkörpere das zweitgenannte Lager.

Anders konkret positioniert hat sich ihr Vizevorsitzender in der Partei, Florian Philippot. Er war als Spitzenkandidat in Ostfrankreich (im neuen Zusammenschluss der Regionen Elsass, Lothringen und Champagne-Ardennen) angetreten. Am Abend des Wahlsonntags am 13. Dezember bot er explizit dem Nationalkonservativen Nicolas Dupont-Aignan ein politisches Bündnis an. Um eine neue, potenziell mehrheitsfähige Allianz auf der politischen Rechten aufzubauen, dürfte dieses relativ kleine Segment der Rechtskräfte jedoch sicherlich nicht ausreichen, zumal Dupont-Aignan auch jedenfalls keine exklusive Partnerschaft mit dem FN anstrebt. Das Haupthindernis bei einer Annäherung an andere konservative Rechte besteht jedoch nach wie vor in einem diametral entgegen stehenden Diskurs zur Wirtschaftspolitik: wirtschaftsliberal bei den Mainstream-Konservativen, eher etatistisch beim FN, obwohl er seit dem Frühsommer 2015 auch einige wirtschaftsliberale Kurskorrekturen vorgenommen hat.

Eine vierte Möglichkeit für den FN bestünde darin, abzuwarten, dass äußere Krisenfaktoren – eine Zuspitzung der sozialen und ökonomischen Krisensituation, weitere Attentate, kriegerische Konflikte mit Rückwirkungen auf Frankreich – die Partei nach oben spülen, auch wenn sie über keine Verbündeten von Gewicht verfügt. Darauf setzte Jean-Marie Le Pen in seiner Zeit als Parteivorsitzender (1972 bis 2011) insgesamt über zwanzig Jahre lang, nachdem frühere Kontakte zu Konservativen in den späten achtziger Jahren abrissen. Bislang stellte diese Strategie jedoch nicht unter Beweis, dass sie zur erfolgreichen Machteroberung oder –beteiligung führt.