Wilfried Gaum rezensiert für das Online-Magazin "sozialistische Positionen - sopos"
Alexandre Froidevaux, "Gegengeschichten oder Versöhnung? Erinnerungskulturen und Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur ‚Transicion‘ (1936-1982)", Verlag Graswurzelrevolution Heidelberg 2015, 600 Seiten, 32,- €
Im Juli 2016 jährt sich zum 80. Mal der Beginn des Spanischen Bürgerkrieges. Froidevaux' Buch beschäftigt sich mit dem historischen Gedächtnis der spanischen Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung an diese in jeder Hinsicht einschneidende Periode ihrer Geschichte sowie die Phase der franquistischen Diktatur und ihren Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Diese Vergangenheit ist nie vergangen. So zeigen auch die letzten Wahlen, dass die alten Spaltungslinien zwischen einem konservativen, reaktionären Lager und den im weitesten Sinne freiheitlichen Kräften seit dem späten 18. Jahrhundert nie wirklich überwunden wurden: die Massendemonstrationen gegen Bourbonenkorruption und die Regierung in Madrid und anderswo fanden unter den Fahnen der spanischen Republik statt, und die regionalistischen Bewegungen in Katalonien und dem Baskenland konnten bis auf den heutigen Tag nie vollständig in das "ewige und einige" Spanien integriert werden. Und in den letzten Jahren wuchs die Bewegung der Enkel, die wissen wollen, was ihren Urgroßvätern und Vätern im Bürgerkrieg und danach angetan worden ist.
Die Schwierigkeit, mit dieser Vergangenheit umzugehen, resultiert aus den Widersprüchen nicht nur zwischen den Erinnerungskulturen der beiden Bürgerkriegsantagonisten, sondern insbesondere innerhalb des republikanischen Lagers. Froidevaux zeichnet minutiös nach, wie und welche Erzählungen sich herausbildeten, die für die jeweilige Fraktion konstitutiv für die jeweils aktuelle politische Strategie waren. Dabei wurden die historischen Fakten je spezifisch gefiltert: "Nur bedeutsame Vergangenheit wird erinnert, nur erinnerte Vergangenheit wird bedeutsam." (S. 35) Vergangenheit wird mit Bedeutung aufgeladen, "also für die Gegenwart, den Zusammenhalt und die Identität eines sozialen Kollektivs ‚semiotisiert‘. Eine solch fundierende Geschichte nennt (er im Anschluss an – d.Verf.) Jan Assmann Mythos."(S. 43) Dabei geht es um eine "sinnbehaftete Rückkopplung an die Gegenwart: "Das, was hier als Formen erinnerter Vergangenheit untersucht werden soll, umfasst ununterscheidbar Mythos und Geschichte. Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, ist Mythos, völlig unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist."(Assmann, zitiert auf S. 43).
Die Erinnerung von Geschichte ist somit ein Schlachtfeld in den sozialen Kämpfen der Jetztzeit. Nichts ist schlimmer, als wenn eine Gesellschaft gedächtnislos wird, wenn sie einer kollektiven Amnesie verfällt. Unterdrückung lebt auch soweit und solange es ihr gelingt, die Stimmen der Unterlegenen erst zum Verstummen zu bringen um dann schließlich das kollektive Gedächtnis im Sinne der Herrschenden zu transformieren und eine hegemoniale Erzählung durchzusetzen. Ablauf entsprechend der Devise in Orwells "1984": "Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Gegenwart. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Zukunft." Die herrschende Klasse herrscht auch deshalb, weil Alternativen zu ihrer Herrschaft nicht mehr erinnert werden können. Umso wichtiger ist es, alternative und dissidente Erinnerungskulturen am Leben zu erhalten.
Online weiterlesen hier - oder im PDF.