Nachricht | GK Geschichte Hülk/Pöppel/Stanitzek (Hrsg.): Bohème nach ´68, Berlin 2015

Wer es liest, weiß hinterher jedenfalls mehr über die Bundesrepublik, den modernen Kapitalismus und seine Umarbeitung vormals dissidenter Praktiken.

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An akademische kulturwissenschaftliche Publikationen und erst recht Sammelbände sind andere Maßstäbe anzulegen als an geschichts- oder politikwissenschaftliche. Dies wird deutlich, wenn dieser neue Band zur Bohèmeforschung, der aus einer Tagung Anfang 2012 an der Universität Siegen resultiert, gelesen wird. Die versammelten zwölf Beiträge kreisen zwar alle um Bohème, sind aber inhaltlich sehr unterschiedlich: Definiert der eine Autor jene als imaginäres Reservoir oder als Phantasma, ist sie für andere ein alternatives Programm. Für die einen ist die Bohème, erst recht heutzutage, Bestandteil des Bürgertums, für andere ihr Gegenteil. Bohème ist und war aber, das zumindest scheint Konsens zu sein, marginal, prekär, künstlerisch und intellektuell, zumindest temporär.

Folgerichtig thematisieren die Artikel die Bohème als Mythos und als realen Faktor. Sie trat nach 1960, bzw. tritt heute, so der Tenor von Diedrich Diederichsen bis zum FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube, in der Figur des (historischen) Hipsters, als alternative Bewegung, als digitale Bohème und – zumindest vom Namen her – neuerdings als der urbane, neoliberale Bobo (Bourgeois Bohèmien) auf. Viele ihrer Bestandteile sind längst „Mainstream“ und Teil der Massenkultur. Das heißt nicht, dass viele, die der Bohème zugehörig sind, nicht realer Marginalisierung und Selbstausbeutung, mithin materieller Not, unterliegen. Mit Foucault und Negri kann zudem zu Recht gefragt werden, wo heute das „außerhalb“ zur herrschenden Gesellschaft sein soll; jene Zone, in der die Bohème sich positioniert. Die Zeitzeugen, die später über ihre Zeit in der Bohème berichteten, waren meist GewinnerInnen und konnten diese biografische Phase als Lehrjahre der bzw. ihrer eigenen politischen und ästhetischen Erziehung interpretieren. Heute droht vielen das verarmte Bohème-Sein bis zum imaginären Renteneintritt.

Der Soziologe Wolfgang Eßbach erinnert in seinem Beitrag an Peter Brückner, Gabriele Dietze schreibt zur zweiten Frauenbewegung, die mit ihren Aktionsformen sexistische Grundstrukturen kritisiert habe. Mitherausgeber Stanitzek weist darauf hin, dass die Bohème eher ein Milieu und die Herkunft ihrer Anhänger bemerkenswert klassenübergreifend sei. Die neoliberale Hochschule und darin vor allem der sog. Bologna-Prozess, sei ein – erfolgreicher – Großangriff auf die studentische Bohème gewesen, während gleichzeitig durch Projekte, Praktika und Soft-Skill-Lehrgänge all das fast schon zwanghaft gelehrt werde, was vorher Praktiken der Bohème gewesen sei.

Der bereits seit Ende des letzten Jahrhunderts beschriebene Bobo vereine dagegen, so Nicole Pöppel, bürgerliche und gegenkulturelle Werte, er sei nicht als Bestandteil, sondern vielmehr als Alternative, wenn nicht Gegensatz  zur Bohème anzusehen. Die materiell gut aufgestellten Bobos verfügten auch über ein ausgeprägtes Distinktionsbedürfnis, wenn nicht sogar Klassenbewusstsein. Gregor Schuhen bleibt dann nur noch darauf hinzuweisen, dass die Bohème schon immer nostalgisch verklärt worden sei – und dies besonders bei ihrem Übergang in die Massenkultur:  nur was unwiederbringlich abgeschlossen sei könne dann historisiert und musealisiert werden. Weitere Beiträge untersuchen z.B. die Zentrale Intelligenzagentur, die Berliner Popliteraten oder das Hamburger Gängeviertel.

Sammelbände haben immer Redundanzen, was aber bei diesem Band nicht weiter schlimm ist. Kritik an herrschenden Strukturen wird es immer geben, neu ist die Debatte, dass der Kapitalismus Innovation braucht auch nicht. Offen bleibt auch nach der Lektüre dieses interessanten und noch dazuhin preiswerten Buches, ob man ästhetisch schneller oder in der Kritik radikaler sein kann, als die Bemühungen des Kapitals um Vereinnahmung. Wer es liest, weiß hinterher jedenfalls mehr über die Bundesrepublik, den modernen Kapitalismus und seine Umarbeitung vormals dissidenter Praktiken.

Walburga Hülk/ Nicole Pöppel/ Georg Stanitzek (Hrsg.): Bohème nach ´68, Verlag Vorwerk8, Berlin 2015, 246 Seiten, 19 EUR


Kurt-Wolff-Preises 2016 an Verlag Vorwerk8

Am 18. März wurde auf der Leipziger Buchmesse der Kurt-Wolff-Förderpreis (dotiert mit 5000 Euro) an den Verlag Vorwerk 8 verliehen, der „seit 1994 mit Spürsinn, Geistesgegenwart und großem typographischen und visuellen Einfallsreichtum die Künste miteinander ins Gespräch bringe.“