Nachricht | Migration / Flucht - International / Transnational - Westeuropa - Asien - Westasien Ein Leben im Warteraum

Die Auswirkungen des EU-Türkei-Abkommens für syrische Geflüchtete in der Türkei hat sich Vivien Hellwig vor Ort angeschaut.

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Autorin

Vivien Hellwig,

Am 20. März 2016 ist das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft getreten, zeitweilig wird es wegen der Diskussionen um Visumfreiheit und dem Anti-Terrorgesetz ausgesetzt. Ob es überhaupt jemals Bestand haben wird, bleibt äußerst fragwürdig. Bisher wurden nur vereinzelt syrische Flüchtlinge in die Türkei zurück transportiert, der Großteil der Abgeschobenen stammt aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan. Was mit ihnen passiert, bleibt bis heute ungewiss.

Ich mache mich auf die Reise, um zu sehen was geschieht, wenn Menschen als Verhandlungsmasse zwischen politischen Akteuren missbraucht werden. Wie ist es, seit vier Jahren auf der Flucht zu sein und kein Gefühl der Perspektive und Rast zu haben? Ein Leben in der permanenten Unsicherheit. Selbstverständlich kann ich die Situation nicht nachempfinden, weil ich sie nie erlebt habe, weil ich aus einem der reichsten und sichersten Länder komme und keinen Krieg miterleben musste. Ich möchte aber sehen wie die Lebensbedingungen der Menschen sind, die nirgendwo willkommen geheißen werden. Viel wurde über Griechenland berichtet, mich interessiert die Türkei, spezieller die türkisch-griechische Grenze. Ich fahre von Istanbul nach Izmir, und nach Chios, einer griechischen Insel vor Izmir.

In der Türkei befinden sich aktuell 2,7 Mio. registrierte Flüchtlinge aus Syrien. Etwa 10% der Geflohenen lebt in Camps, wo sie Zugang zur Notversorgung erhalten. Die anderen Menschen leben in den Städten, überwiegend im Südosten der Türkei, ohne staatliche Unterstützung.

Izmir war im letzten Jahr die entscheidende Station auf der Route nach Europa. Der Bahnhof Basmane, Straßen und Parks waren voller Menschen, die für zwei bis drei Tage in der Stadt blieben, um dann nachts die lebensgefährliche Überfahrt nach Griechenland anzutreten. Heute sieht man nichts mehr davon, vereinzelt erinnern Schaufensterpuppen mit Rettungswesten an die Szenarien des letzten Jahres. Elif, eine Unterstützerin, erzählt von der Zeit: «Die meisten konnten sich kein Hotel leisten und schliefen auf der Straße, Nachbarn haben Essen und Decken verteilt, jetzt leben die, die hier geblieben sind, in Häusern oben am Berg.»

Ich besuche über dreißig dieser Familien am Berg, in Basmane und Kadifekale. Die Wohnungen sind sehr spartanisch eingerichtet, wenn es Möbel gibt, sind sie meist Geschenke von Nachbarn. Am Anfang konnten die Familien aus Syrien hier noch günstig wohnen, teilweise sogar umsonst. Türkische Familien, die ein Haus in dieser Gegend hatten, stellten einen Raum oder eine Wohnung zur Verfügung. Nun leben die Familien schon über drei Jahre hier und die Mieten steigen kontinuierlich. 350 bis 400 TL (106 bis 121 €) zahlt eine Familie im Durchschnitt für eine Wohnung, 60 bis 100 TL (18 bis 30 €) für Strom und Wasser. Die Schlafmatten werden schnell zu Sofas umfunktioniert, wenn Besuch kommt. Es gibt immer Tee oder Kaffee.

«In Syrien hat ein Mensch gearbeitet um zehn Menschen zu ernähren, hier müssen zehn Menschen arbeiten, um eine Person zu ernähren»,  sagt Ahmad lachend. Er ist 58 Jahre und kommt aus einem Dorf nahe Aleppo. In ein paar Jahren solle ich unbedingt zum Essen mit seiner Familie nach Syrien kommen.

Oft treffe ich auf Frauen mit ihren kleinen Kindern, die Männer und älteren Kinder seien auf der Arbeit. Fast alle arbeiten in der Textilbranche als Schneider oder Bügler. Wenn alles gut geht, verdienen sie 300 TL (90 €) in der Woche, für zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Kinder und Frauen bekommen weniger Geld. Es gibt keine Verträge, geschweige denn eine Unfall- oder Krankenversicherung.

Wenn es Arbeit gibt, können sie arbeiten, wenn sie krank sind, bekommen sie kein Geld. Dann müssen sich die Familien Geld von anderen Verwandten oder Freunden leihen. Häufig kommt es vor, dass der Lohn nicht ausgezahlt wird, besonders in der Baubranche. Ich besuche eine Familie, deren Wohnung sehr gut eingerichtet ist. Das war der Lohn, erzählt der Vater, den sein Sohn für eine Woche auf dem Bau erhalten habe, sie hätten ihm den Sperrmüll als Gehalt gegeben. Ein bis zwei Personen pro Haushalt müssen im Schnitt sechs Menschen ernähren. Das Einkommen reicht also nur für die Miete und das Nötigste, wenn alle gesund sind und es Arbeit gibt. Der Konkurrenzkampf zwischen den türkischen Arbeitnehmer_innen und den Geflüchteten aus Syrien spitzt sich stetig zu, die Gewerkschaften in der Türkei haben hierauf noch nicht reagiert.

Besonders schwer wiegt der hohe Anteil der unter 18 Jährigen, die jeden Tag über zehn Stunden arbeiten. Kinder über 14 Jahre müssen meist arbeiten, damit die Familie ihr Einkommen sichert. Es gibt einige Familien, in denen der Vater noch in Syrien ist oder bereits verstorben. Hier sind die Kinder diejenigen die für das Einkommen sorgen. Einen 15-Jährigen frage ich, was er gerne in der Zukunft machen würde. In Syrien war er zur Schule gegangen und wollte studieren. Er sieht mich an, und sagt, dass er gesegnet sei und sie alles hätten. Er könne nicht an die Zukunft denken, er müsse sich um seine Familie kümmern. Er arbeitet wie sein Bruder auf dem Bau, zehn Stunden am Tag für insgesamt 60 TL (18 €). Die Wohnung ist komplett mit Schimmel befallen und eine Mieterhöhung um 50 TL (15 €) steht ihnen bevor.

Seit kurzem können syrische Kinder Schulen in der Türkei besuchen, doch nur die wenigsten besuchen welche. Zu groß ist das Misstrauen gegenüber türkischen Schulen, aber auch die Anfeindungen durch andere Kinder. 60 Prozent der registrierten Kinder aus Syrien besuchen keine Schule in der Türkei, weder eine türkische noch eine syrische Schule.[i] Einige Lehrer_innen, die in Syrien gewesen sind, beginnen nun die Kinder zu unterrichten. Viele wollten ihre Kinder, wenn schon nicht in Syrien, dann in Europa auf eine Schule schicken.

Kein Recht auf Asyl

Seit Beginn des Jahres müssen sich Geflüchtete aus Syrien in der Türkei registrieren. Wer nicht registriert ist, droht inhaftiert oder abgeschoben zu werden. Bis eine Familie registriert ist, vergehen oft Monate, da es zu wenig Registrierstellen gibt. Bis die Ausweise ausgestellt werden, dauert es erneut Monate. Mit diesem sogenannten temporären Schutzstatus haben die Menschen zwar theoretisch die Möglichkeit, Krankenhäuser und Schulen zu besuchen, eine finanzielle Unterstützung gibt es aber nicht. Rein praktisch wird der Zugang zu Krankenhäusern allerdings oft verwehrt, oder ist abhängig von dem Engagement des Krankenhauspersonals.

In der Türkei gibt es kein Recht auf Asyl, ausgenommen für Flüchtlinge aus Europa. Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonventionen zwar ratifiziert, jedoch auf der geografischen Beschränkung (also nur Menschen aus Europa Asyl zu gewähren) beharrt. Bis 2014 gab es gar keine Gesetze über den Umgang mit Geflüchteten, die Türkei galt als Transitland.

Seit 2012 hat sich die Situation drastisch geändert, und die Türkei ist zum dauerhaften Aufenthaltsort vieler Geflüchteter geworden. Seit diesem Jahr hat sich die Situation erneut verschärft. 2,7 Millionen registrierte Flüchtlinge aus Syrien sind in der Türkei. Etwa 10 Prozent der Geflohenen leben in Camps, die anderen Menschen sind in die Städte gezogen.

2014 ist ein Gesetz in Kraft getreten, wodurch syrische Flüchtlinge einen temporären Schutzstatus erhalten. Dieses gilt nur für Menschen aus Syrien und lediglich für einen nicht definierten Zeitraum. [ii]

Ich frage mich, wie man also Asyl beantragen kann, wenn es dieses Recht in der Türkei faktisch nicht gibt. Wie können sich die Familien und jungen Menschen eine dauerhafte Perspektive aufbauen? Es ist schlichtweg nicht möglich. Um Asyl in einem anderem Land zu beantragen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man gehört zur Gruppe der besonders Schutzbedürftigen oder es gelingt über die Familienzusammenführung Asyl zu beantragen. Einen Antrag kann man nur mit Hilfe von NGOs stellen und selbst dann ist der Ausgang komplett ungewiss. Für einen Antrag auf Familienzusammenführung benötigt man erst einmal einen Termin bei der jeweiligen Botschaft, doch Termine werden momentan nur in Ausnahmefällen vergeben.

Für viele der NGOs, Unterstützer_innen und politischen Gruppen gestaltet es sich schwierig, adäquate Unterstützung zu leisten. Immer wieder wird hilfreiche Arbeit verhindert, weil Organisationen nicht offiziell in der Türkei anerkannt werden, und somit auch nicht offiziell tätig werden dürfen. Das ist deswegen fatal, weil der komplette Unterstützungsapparat auf dem Engagement von diesen Organisationen und Unterstützer_innen beruht. Nichtsdestotrotz gibt es in Izmir ein verhältnismäßig großes Netzwerk an Unterstützungsstrukturen, welches zum einem die Notversorgung sicherstellt und zum anderen auf langfristige Schritte des Empowerments setzt.

Das Leben in der Warteschlange – Die griechische Insel Chios vor Izmir

Von Izmir aus fahre ich weiter auf die zwei Stunden entfernte griechische Insel Chios. Es ist bestürzend: Ich bezahle 15 Euro für eine gemütliche Überfahrt, Geflüchtete zahlen 400 Euro für einen Platz im überfüllten Schlauchboot und riskieren damit ihr Leben. 2016 sind laut IOM allein 2.859 Menschen (Stand 15. Juni 2016) bei der Überfahrt im Mittelmeer gestorben/vermisst.

Auf der Insel Chios sind momentan ca. 2.500 Geflüchtete, verteilt auf drei Camps. Seit dem 20. März 2016 stecken sie hier fest. Insgesamt befinden sich nahezu 8.500 Geflüchtete auf den griechischen Inseln. Es gibt kein vor und kein zurück, nichts passiert. Mohammed ist erst vor einer Woche angekommen. Die Schleuser hatten ihm erzählt, die Tür nach Europa würde wieder offen sein. Wochenlang sind keine Boote angekommen, doch an dem Tag an dem Deutschland den Völkermord an den Armeniern anerkennt, kommen drei Boote mit 132 Geflüchteten aus Izmir auf der Insel an. Sollte der EU-Türkei-Deal platzen, werden neue Boote kommen, davon gehen die Unterstützerorganisationen und NGOs fest aus.

Die Kinder haben hier in den Camps das Prinzip «in der Schlange anstehen» verinnerlicht. «Stay in line!» strukturiert den Alltag, um Essen zu bekommen, Milch, Kleidung, medizinische Versorgung. Und dazwischen: Warten. Warten ob man einen Interviewtermin beim UNHCR bekommt, eine Nachricht von einer Botschaft, oder überhaupt eine Mitteilung, über das was nach dem 21. März passieren soll.

Der UNHCR stellt lediglich Zelte und zwei Container für Duschen und Toiletten zur Verfügung. Essen, medizinische Grundversorgung, Kleidung, Rechtsberatung und eine Schule werden komplett von Unterstützer_innen, Geflüchteten und NGOs getragen. Auf Chios dürfen Unterstützer_innen nur in zwei Camps hinein, eines ist militärisches Sperrgebiet. In diesem Camp hat sich vor einigen Wochen ein unbegleiteter Minderjähriger das Leben nehmen wollen. Er kam in ein Krankenhaus in Athen und wurde Tage später wieder in das gleiche Camp an den gleichen Ort zurück gebracht.

Auch in Chios werden nur Asylanträge von besonders Schutzbedürftigen bearbeitet, und es wird weiter sortiert: wer in der Türkei nicht um sein Leben bangen muss, muss dort sein Asylverfahren abschließen.

Am Tag meiner Abreise aus Chios, werden Geflüchtete mit ihrem Boot, welches sich bereits in europäischen Gewässern auf dem Weg nach Chios befunden hat, unter Gewaltandrohung in den türkischen Hafen in Cesme abgeschoben. Illegale «Pushbacks» wie diese häufen sich an den europäischen Außengrenzen ebenso wie an der syrisch-türkischen Grenze.

Wenn ich ein Fazit aus dieser Reise ziehen soll, bleibt mir leider wenig Positives zu sagen. Eine europäische Asylpolitik, die versucht, die Frage von Asyl und Flucht in außereuropäische Gebiete zu verlagern, ist offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Das Recht, überhaupt einen Zugang zu einem Asylverfahren zu erhalten, ist faktisch abgeschafft worden. Die Menschen migrieren, lediglich die Routen, Kosten und Zeiträume ändern sich. Es stellt sich nur die Frage wie viele Menschen dabei ihr Leben verlieren müssen. Erschreckend ist es, immer wieder zu sehen, dass es hierbei nicht um ein viel beschworenes «nicht können» geht. Finanziell gesehen macht dieser absurde Aufbau eines Verwaltungs- und Abschiebungsapparates keinen Sinn. Vielmehr wird damit eine rechtskonservative Politik unterstützt und rassistisches Denken weiter legitimiert.

Ich bin dankbar für all die Erfahrungen und das Vertrauen, welches mir die Menschen auf der Reise geschenkt haben. Ich hoffe, dass sie den Mut nicht verlieren und weiter würdevoll ihren Weg gehen können, und nicht an diesem Leben in permanenter Unsicherheit verzweifeln.


[i] TÜRKİYE’DEKİ SURİYELİLER: «ORTAK GELECEĞE HAZIR MIYIZ?», DOÇ. DR. M. MURAT ERDOĞAN, HACETTEPE ÜNİVERSİTESİ GÖÇ VE SİYASET ARAŞTIRMALARI MERKEZİ MÜDÜRÜ, 04/2016

[ii] Limits to temporary protection: non-camp Syrian refugees in İzmir, Turkey, Ayselin Yıldız & Elif Uzgören, 03/2016