Nachricht | Westeuropa - International / Transnational - Osteuropa - Ukraine Niedrigstlöhne oder totaler Ausverkauf

ExpertInnen sind sich einig: Die Annäherung der Ukraine an die EU wird auf dem Rücken der ArbeitnehmerInnen ausgetragen. ROSALUX BLICKPUNKT EUROPA

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Mit Mitteln aus einem Sonderprogramm des Auswärtigen Amtes kann die Stiftung in den kommenden drei Jahren den Auf- und Ausbau von Kooperationsprojekten mit ukrainischen Partnerorganisationen vorantreiben. Im April reiste die Vorstandsvorsitzende, Dagmar Enkelmann, gemeinsam mit der Moskauer Büroleiterin Kerstin Kaiser und einem Mitarbeiter des linken Europaparlamentariers Helmut Scholz in die Ukraine. Die Delegation sprach mit linken AktivistInnen, KünstlerInnen und GewerkschafterInnen.

Teil 2 des Reiseberichts dreht sich um die sozio-ökonomische Lage im Land.

«Korruption» – die deutsche Botschaft in Kiew hat sie als das Hauptproblem der ukrainischen Gesellschaft ausgemacht. Das erfahren wir bei unserem Gesprächstermin dort. Die wenigen sozialen Errungenschaften, die noch aus der Sowjetzeit übriggeblieben seien, würden konterkariert durch die Schmiergeldzahlungen, die in allen Bereichen des öffentlichen Lebens notwendig seien, um staatliche Leistungen zu erhalten, heißt es. So seien die Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens nach wie vor für alle UkrainerInnen kostenlos – allerdings nur auf dem Papier. In der Realität müsse man oft bezahlen, damit der Arzt die Türe zum Behandlungszimmer überhaupt öffne. Ein Versicherungssystem gebe es in der Ukraine nicht. Wir sprechen auch über die Ablehnung der Niederländer zum EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, über die Lebenssituation der Binnenflüchtlinge und die Stagnation beim Friedensabkommen Minsk II vom Februar 2015. Die Botschaft empfiehlt den Mitteleinsatz für mehr Offenheit in der Gesellschaft. Es gebe dringenden Nachholbedarf, etwa bei der Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen.

Später treffen wir in der ukrainischen Hauptstadt den Juristen Vitaly Dudin, den Ökonomen Alexander Kravchuk und die Soziologin Oksana Dutchak. Alle drei sind Mitglieder linker Organisationen. Ihr wirtschaftliches Szenario ist düster. In der Ukraine würden zwar noch die alten sowjetischen Arbeitsgesetze gelten, die viele soziale Errungenschaften enthielten. Aber wie bei der Gesundheitsversorgung gelte: Auf dem Papier klinge alles gut. Die Realität jedoch sehe anders aus. So gebe es keine Kontrollinstanzen die überprüfen, ob die Rechte auch gewährt und die Vorschriften eingehalten würden. Die ArbeitgeberInnen würden auch dann nicht zur Verantwortung gezogen, wenn sie die Gesetze missachten. Die Folgen der fehlenden Kontrollen tragen die ArbeitnehmerInnen: geringe Löhne, die manchmal über längere Zeiträume gar nicht gezahlt werden, schlechte Arbeitsbedingungen, 24 Tage Urlaub, soziale Sicherungssysteme, die sie aus ihren Abgaben bezahlen und an denen sich die Arbeitgeberseite nicht beteiligt.

Gegen neoliberale Reformen des Arbeitsrechts

Geschützt habe die Menschen in der Ukraine vor allzu großen sozialen Härten bisher ausgerechnet das oligarchische System: Der Oligarch beteilige in gewissem Umfang die Stadt oder die Region an seinen Gewinnen. Er habe ein großes Interesse daran, dass der Binnenmarkt geschützt werde. Das habe zwar internationalen Wettbewerb und Innovationen verhindert, das Land bisher aber auch vor dem totalen Ausverkauf bewahrt. Im Zuge der EU-Annäherung muss sich der ukrainische Markt nun öffnen und wird damit zum Konkurrenten anderer osteuropäischer Wirtschaftsstandorte. Aus Sicht der ExpertInnen kann diese Entwicklung nur in zwei Richtungen führen: Zu einer weiteren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, wenn Firmen oder Regionen versuchen, durch Niedrigstlöhne InvestorInnen anzuziehen – oder zum totalen Ausverkauf ukrainischer Industrien. Um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, unterstützt die Stiftung ein Projekt, das Vorschläge erarbeiten soll, wie eine linke Wirtschaftspolitik unter den aktuellen Bedingungen aussehen könnte. Daneben beteiligt sie sich an Aktivitäten, die versuchen, der geplanten neoliberalen Reform des Arbeitsrechtes etwas entgegenzusetzen.

Am Abend fliegen wir weiter in den Südosten des Landes, nach Dnipropetrowsk. Auf den ersten Blick erkennt man, dass die Stadt deutlich ärmer ist als Kiew. Viele Fassaden bröckeln, alte Tatra-Bahnen rumpeln durch die Straßen. Wir kommen vorbei an zwei überdimensionierten Betonfüßen, die auf einem Sockel stehen. Die Abbruchkante ist noch frisch. Das kürzlich beschlossene „De-Kommunisierungsgesetz“ erlaubt unter anderem das Verbot der Kommunistischen Partei und den Abriss aller sozialistischen Denkmäler. Hier stand einmal Lenin.

In einem kleinen Hinterhofgebäude treffen wir Mitglieder kleiner unabhängiger Gewerkschaften. Wie in anderen Gesellschaftsbereichen finden sich auch im Bereich Gewerkschaften sozialistische Reste in einem neoliberalen Kapitalismus. Das ukrainische Gewerkschaftssystem ist schwer zu durchschauen. Es gibt die großen staatlichen Gewerkschaftsverbände, in die man meist automatisch eintritt, wenn man den Arbeitsvertrag unterschreibt. Gewerkschaftliche Mobilmachung für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne ist dort ein Fremdwort, dafür bekommen die Mitglieder kleine Geschenke zu bestimmten Anlässen. Die Gewerkschaftsvorsitzenden stünden meist auf Arbeitgeberseite und seien so eher der verlängerte Arm des Unternehmens, der für Ruhe und Ordnung im Betrieb sorgen soll, , wird uns erklärt. Deshalb haben sich neben diesen Dachverbänden kleine unabhängige Branchenverbände gegründet, die mit geringen Mitteln versuchen Großes zu erreichen.

Andauernder Kampf um die Auszahlung der Löhne

Und so sitzen wir in einem kleinen Raum, die Schreibtische sind notdürftig aus alten Platten zusammengeschraubt, darauf stehen zwei alte Computer mit Röhrenbildschirmen. Ein kleiner Kohleofen hat seinen Abzug zum Fenster. An den Wänden hängen Erinnerungen an die Siege der vergangenen Jahre. Fotos von Demonstrationen, die Urteile der gewonnenen Arbeitsrechtsprozesse. Daneben das Bild von Rosa Luxemburg mit dem Schriftzug der Stiftung. Die ArbeiterInnen, die sich hier versammelt haben, berichten von ihrem andauernden Kampf um die Auszahlung der Löhne. Die Härte ihres Lebens steht ihnen ins Gesicht geschrieben, die Armut ist hier zum Greifen nah. Dennoch zeigen sie uns voller Stolz ihre selbstgebastelten Plakate, berichten enthusiastisch von Ihren Projekten. Sie kämpfen trotz ihrer schwierigen Bedingungen um ihre Würde und sie sagen zu uns: «Solidarität ist das Wichtigste».

Wir fahren weiter mit dem Auto nach Krywyj Rih, russisch Kriwoi Rog, einer Stadt mit etwas mehr als einer halben Million Einwohner und reichen Erzvorkommen. Für die 150 Kilometer bis dorthin brauchen wir drei Stunden. Nicht nur die Straße ist schlecht, auch die Lebensbedingungen sind es. Die Lebenserwartung in der Region liegt für Männer bei 52, für Frauen bei 58 Jahren. Die Luft ist dreckig, Asthma-Erkrankungen sind überdurchschnittlich häufig. Wir besuchen eines der größten ukrainischen Stahlwerke. Der ehemals staatliche Betrieb wurde in einem öffentlichen Bieterverfahren an den transnationalen Stahlproduzenten ArcelorMittal verkauft. Das Unternehmen besitzt neben vielen anderen Werken auch das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt. Die Leitung der Zeche führt uns herum, sie spricht viel von den guten Arbeitsbedingungen. Wer hier arbeite, heißt es, habe das große Los gezogen. Als wir später mit den GewerkschafterInnen sprechen, die im Unternehmen aktiv sind, klingt das ganz anders. Vor zehn Jahren, erzählen sie, seien hier noch 56.000 ArbeiterInnen beschäftigt gewesen. Heute sind es nur noch halb so viele. In Zukunft sollen nur noch 15.000 Menschen im Werk arbeiten. Der Rest werde outgesourct, um Personalkosten zu sparen.

Hier findet sich Teil 1 «Die Linken haben es schwer» über die politische Situation in der Ukraine.

ROSALUX BLICKPUNKT EUROPA Der Umgang der EU mit Griechenland, die autoritäre Reaktion auf die Flüchtlingsbewegungen und die Radikalisierung der Rechten in Europa haben gezeigt, dass die Linken bisherige Strategien eines Politikwechsels überdenken müssen. Wie gelingt gemeinsames Handeln, und wie wird Solidarität wirksam? Darüber diskutierten VertreterInnen emanzipatorischer Bewegungen bei einer Konferenz Anfang Juni in Berlin. Die RosaLux-Redaktion widmet der Lage in Europa einen Online-Blickpunkt.