Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - NSU-Komplex Ausgeliefert

Ein Kommentar zum 300. Prozesstag im NSU-Verfahren am 20.7.2016

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Oberlandesgericht München, Foto: Friedrich Burschel

«Diese Hauptverhandlungsplanung entspricht (…) nicht der gesetzlich geforderten bestmöglichen Beweismittelverwendung. Je nach zeitlichem Verlauf droht durch die Umsetzung der Planung eine Beweisaufnahme, der die Übersichtlichkeit und die Vorbereitbarkeit vollständig abhanden kommen.» Dieses Zitat stammt aus einer Erklärung der Nebenklagevertretung der Eltern von Halit Yozgat aus Kassel, der am 6. April 2006 mutmaßlich vom NSU ermordet worden ist. Das war am 24. Prozesstag, dem 17. Juli 2013, also vor fast auf den Tag genau 3 Jahren, vor 276 Prozesstagen. Damals dachten die Anwälte der Familie Yozgat noch, man könne irgendwie Einfluss auf die Art und Weise nehmen, wie der erkennende Senat den Prozess gestalten und dass auf sinnvolle Anregungen reagiert werde. Damals ging es um das schwindelerregende «Themenhopping», wie es in den Medien hieß. Dass an manchen Tagen je einzelne Zeuginnen und Zeugen zu drei bis vier verschiedenen Themenkomplexen gehört wurden, war umso unwürdiger und verwirrender, als «Themen» damals noch die brutalen Morde waren, die dem NSU und seinem Umfeld zur Last gelegt werden.

Heute, nach 300 Prozesstagen und über drei Jahren Prozess, würde niemand mehr auf die Idee kommen, die Verhandlungsführung und Planung des allein und autokratisch herrschenden Vorsitzenden Richters Manfred Götzl zu kritisieren, nicht nur, weil es keinen Zweck hätte, sondern auch um einen seiner jähzornigen Ausbrüche zu vermeiden.

Dabei war zuletzt der Eindruck entstanden, der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichtes München wolle endlich mit der Beweisaufnahme zuende kommen, um den Prozess dann nach einer langen Phase mit den zahlreichen zu erwartenden Plädoyers der Verteidigung, der Bundesanwaltschaft und der über 50 Nebenklageanwältinnen und -anwälte irgendwann, vielleicht zum Ende des Jahres 2016, spätestens aber Anfang 2017, dann doch noch zu einem Urteil zu bringen. Dieses Vorhaben schien der Senat durch das endgültige Einschwenken auf die Anklagelinie der Bundesanwaltschaft zusätzlich zu unterstreichen: Die in dutzenden fulminanten Beweisanträgen angemahnte Aufklärung unzähliger Ungereimtheiten und offener Fragen, im wesentlichen zur Verstrickung staatlicher Stellen in den NSU-Komplex, fegte der Senat seit Herbst 2015 mit formelhaften Ablehnungsbescheiden vom Tisch. Letzte Hoffnungen, dass Angela Merkels Versprechen «lückenloser Aufklärung» doch noch erfüllt werden würde, schwanden endgültig dahin.

Vergangene Woche nun wurde bekannt, dass auch diese Versuche, die Wege des Herrn Götzl zu ergründen, schon wieder Makulatur sind: Der Richter hat im großen Sitzungssaal A 101 des Strafjustizzentrums in München Termine bis September 2017 reserviert, behält sich also eine Verlängerung des Prozesses um mehr als ein weiteres Jahr vor. Das ist nichts weniger als ein Alptraum für alle: Für die Angehörigen der Mordopfer und die Opfer der Bombenanschläge und Raubüberfälle des NSU, für vermutlich alle rund 100 Prozessbeteiligten, aber auch für die vielen ausdauernden Prozessbeobachterinnen und -beobachter auf der Publikumsempore.

Möglicherweise reagiert der Vorsitzende ja mit der Terminierung für mehr als ein weiteres Jahr auf die über 300 Fragen der Nebenklage an die Hauptangeklagte, die der Neu-Verteidigung Zschäpe und ihrer Mandantin am 295. Prozesstag um die Ohren flogen. Für das Gericht müssen die sehr scharfsinnigen und detailgenauen Fragen auch irgendwie peinlich gewesen sein, zeigten sie doch auf beeindruckende Weise, wie man die angeblich zur Aussage bereite Zschäpe hätte befragen können und – im Sinne der Wahrheitsfindung – müssen. Falls sich das Gericht entschlösse, sich die Fragen der Nebenklage zueigen zu machen, könnte das auch die Stunde der Wahrheit für die Neu-Verteidiger Zschäpes werden, was ihren Coup angeht, die Angeklagte wie in einem Befreiungsschlag doch noch zum Reden gebracht zu haben...

Richter Götzl wird uns – so wenig wie er damals auf die Anregungen der Yozgat-Anwälte reagierte – keinen Hinweis geben, was er plant und warum er es für möglich hält, dass der Prozess noch ein weiteres Jahr dauern könnte. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins legt sich nach 300 Tagen im Münchener Bunker denen auf die Seele, deren Job und Ehrgeiz es ist, bis zum Schluss durchzuhalten und für die Allgemeinheit Zeugnis abzulegen und Deutungen des düsteren Monsterstoffes NSU anzubieten – und auf all das hinzuweisen, was der Prozess nicht aufklären konnte oder wollte.

 

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300 Tage NSU Prozess

Mitwirkende

Friedrich Burschel,