Walter Benjamin beschrieb in seinem philosophischen Aufsatz «Über den Begriff der Geschichte» den Kampf um die Deutungsmacht der Erinnerung und die Rollen von Sieger und Besiegten.
Die ukrainische Künstlerin Yevgenia Belorusets macht sich dieses Begriffsverständnis zu eigen und strebt mit ihren Fotos, die unter diesem Blickwinkel entstehen eine Wende in der ukrainischen Debatte über die Spaltung des Landes an. Laut Benjamin wird die Geschichte von den Siegern ständig (neu) geschrieben, so dass sogar die toten Feinde permanent «besiegt» werden und aus diesem Machtkampf nicht aussteigen können. Wenn diese aber ans Wort kämen, würden sie eine ganz andere Geschichte konzipieren, als die der Sieger.
In der Ausstellung der Fotos unter dem Titel «Die Siege der Besiegten» im Nationalen Taras-Schewtschenko-Museum in Kiew werden als «Verlierer» nicht die Anhänger der einen oder der anderen Partei im bewaffneten Konflikt in der Ostukraine gezeigt, sondern die Arbeiter und Arbeiterinnen, die trotz des Krieges an ihren Arbeitsplätzen bleiben. In der Dichotomie von Krieg und Frieden wird die Arbeit zu einem der letzten Mittel gegen Hysterie und Vernichtungswahn.
Seit Ausbruch des Krieges fährt Yevgenia Byelorusets regelmäßig in den Donbass, an die Grenzen des Krieges, interviewt und fotografiert in Bergwerken und in Dörfern und Städten, die belagert und beschossen wurden. Die Region ist im Niedergang. Einst der Vorposten der Industrialisierung, wurden viele Bergwerke und Betriebe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion privatisiert und heruntergewirtschaftet. Dringend notwendige Investitionen blieben aus, es wurde kaputtgespart. Der Krieg wird nun zum Vorwand, um zu schließen. Löhne werden manchmal über Monate nicht gezahlt, vielen Arbeitenden wird gekündigt.
Die HeldInnen in Byelorusets‘ Geschichte der Besiegten wehren sich. Sie arbeiten einfach weiter, ohne Lohn, unter Beschuss, im Krieg, um sich so auch die eigene Würde und Menschlichkeit zu bewahren. Ihr Kommen sichert aber auch den Weiterbestand der Gruben. Wenn die Pumpen nicht täglich in Betrieb gesetzt werden, drohen die Gruben durch das Grundwasser zu überschwemmen und dann wäre alles verloren. Die tägliche Arbeit gibt Ihnen ein kurzes Gefühl der Sicherheit in einer so unsicheren Zeit. Sie enthält ein Stück Würde und Menschlichkeit, wo alles andere am Zusammenbrechen ist.
Die Ausstellung beginnt im ersten Raum mit leicht verschwommenen Fotos von den nebligen Höfen der Kohlegruben. Romantisch verschleierte Waggons und Menschen mit Zigaretten in schmutzigen Fingern. Interprätationenbeladenes Terrain: das sind die «Anderen» als soziale Gruppe, Klasse, Region in der Vorstellung der Post-Maidan-Ukraine. Die Bilder erinnern an die sowjetische Arbeitsikonografie, konfrontieren den Betrachtenden aber zugleich mit den Arbeitsbedingungen im heutigen Donbass – alte Ausstattung, mangelnde Sanitäreinrichtungen, schlechte Arbeitsbekleidung.
Im nächsten Saal trifft man die HeldInnen direkt. Auf den Portraits lächeln uns aus der Dunkelheit Gesichter an, müde, entspannt, verraucht. Ein Blick in die Umkleidekabine der Frauen zeigt: trotz Gesetz über den Schutz der Frauen- und Kinderarbeit arbeiten viele Frauen in den Gruben, auch unterirdisch, heben zwei- bis viermal schwerere Lasten, als erlaubt und und verdienen dennoch weniger, als die Männer in gleichen Positionen. Das Patriarchat regiert mit fester Hand. Als Frau muss man schön aussehen, egal ob unter oder über der Erde. Es wird sich geschminkt und schöngemacht, sowohl wenn man in die Grube steigt, als auch beim nach Hause gehen. Auch wenn es kein warmes Wasser zum Duschen gibt.
Im letzten Saal begegnen wir der Geschichte der Bergarbeiterbewegung in der Ukraine – Fotos aus dem Archiv der Konföderation der Freien Gewerkschaften (KVPU) aus den späten 80ern und frühen 90ern: Massenproteste gegen das sowjetische Management, Hungerstreiks, verblutete Gesichter. Damals haben sie das ganze Land erschüttert und der Regierung Angst eingejagt. Heute protestieren sie wieder – schon als Verlierer – gegen Kürzungen und Abwicklungspläne der ganzen Branche. Aus Verzweiflung hat sich vor kurzem ein Kumpel in Brand gesetzt.
Der ukrainischen Regierung ist das egal. Sie verdient lieber beim Kohlekauf in Südafrika , als in die eigenen Gruben und Menschen zu investieren, sei es im Donbass oder in der Westukraine. Die Rechtfertigung bietet der Krieg.
«Die Kohlengrube ist zur Metapher der Entwertung des menschlichen Lebens geworden», sagt Byelorusets. Das Phänomen der Arbeit im Notzustand erzähle vom Krieg und der ukrainischen Gesellschaft das, was uns die Nachrichten und Kriegsberichte verschweigen. Und genau diese Geschichten sind wichtig, um dem Langzeitprojekt namens Krieg und der Unmöglichkeit friedlichen Lebens Widerstand zu leisten», so die Fotografin. «Wir erzählen über uns selber und über den Menschen, der seine Existenz und Arbeit unter ganz neuen, unakzeptablen Bedingungen fortführt», sagt Byelorusets.
Das umfangreiche Begleitprogramm stellt sich das ambitionierte Ziel, philosophische Reflexion mit menschlichen Erlebnissen zusammenzubringen. So wurde am 27. August über den Begriff der Menschenwürde während des Krieges diskutiert. Mit Hannah Arendt argumentierte die belorussische Intellektuelle Olga Shparaga die steigende Entmenschlichung im Konflikt und rief zur Solidarität mit vereinzelten emanzipatorischen Gruppen auf. In weiteren Runden wurden die Auswirkungen des Krieges auf die Kinder diskutiert, die besonderen Herausforderungen an die Frauen, insbesondere die in den Bergwerken arbeiten, herausgestellt. Der Soziologe Kyrylo Tkachenko reflektierte über die Herkunft des Konstruktes Donbas und dessen ideologischer Implikation und referierte zu den Potentialen und Widersprüchen der Bergarbeiterbewegung in den 90ern.
Auf dem Programm stehen noch weitere Diskussionen über die Macht und Lüge der Fotografie als Dokument, sowie das Recht, die anderen zu repräsentieren, für sie zu sprechen und die Möglichkeit, die «Verlierer» sprechen zu lassen. Den Abschluss bildet ein Vortrag des Philosophen Boris Buden.
Die Ausstellung und das Begleitprogramm sind noch bis zum 18.September im Kiewer Nationalen Taras-Schewtschenko-Museum zu sehen und zu erleben.
Nelia Vakhovska ist Projektkoordinatorin im Kiewer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Alle Fotos: Konstiantyn Strilets
Die Ausstellung wurde ermöglicht durch die Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.