Nachricht | Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - Asien - Westasien - Türkei Kein Platz für Linke und Kurden in Erdoğans «neuer Türkei»

Die Festnahmen kurdischer PolitikerInnen in der Türkei zielen auf eine Zerschlagung der linken, pro-kurdischen Partei HDP. Von Ismail Küpeli

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In den letzten Wochen und Monaten wurden Dutzende BürgermeisterInnen der linken, pro-kurdischen Oppositionspartei HDP und dann vergangene Woche die BürgermeisterInnen der größten kurdischen Stadt Diyarbakir abgesetzt und festgenommen. Dass weitere Angriffe auf die HDP folgen würden, zeichnete sich ab. Die Festnahme der beiden Parteivorsitzenden und zehn weiterer Abgeordneter der HDP in der Nacht zum 4. November kam also nicht überraschend, ist aber dennoch eine neue Stufe der Eskalation.

Die Angriffe auf die linke und pro-kurdische Opposition erfolgen in einem gesellschaftlichen Klima, in der regierungsnahe und regierungskonforme Medien die Presselandschaft dominieren. Ihre Sichtweise zu präsentieren, ist der Opposition in der Türkei kaum noch möglich. Welches Ausmaß die Ausschaltung einer kritischen Öffentlichkeit in der Türkei angenommen hat, wurde in Deutschland insbesondere durch die Festnahme des Chefredakteurs der Tageszeitung Cumhuriyet Ende Oktober 2016 deutlich. Innerhalb der Türkei zeigte der Angriff auf die Cumhuriyet, dass sich inzwischen niemand mehr sicher fühlen kann.

Zuvor waren in zwei Wellen fast alle verbliebenen linken und kurdischen Medien zerschlagen worden. Anfang Oktober wurden zwölf Fernsehsender und elf Radiosender verboten, darunter der letzte linke, pro-kurdische Fernsehsender IMC TV, Fernseh- und Radiostationen der alevitischen Minderheit und das kurdische Kinderfernsehen Zarok TV. Ende Oktober folgte die Zerschlagung von 15 kurdischen und pro-kurdischen Medien, darunter die Nachrichtenagentur Dicle Haber Ajansi und die Frauennachrichtenagentur JINHA. Insbesondere für die Berichterstattung über den Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei hat dies entscheidende Konsequenzen. Ohne die kurdischen und pro-kurdischen Medien bleibt nun nur noch die Berichterstattung der türkischen Regierung und der türkischen Armee.

Festnahmen der HDP-Abgeordneten

Die türkische Regierung rechtfertigt die gewaltsamen Festnahmen mitten in der Nacht damit, dass die HDP-Abgeordneten nicht der Aufforderung folgegeleistet haben, zu «Terrorismus»-Vorwürfen bei der Polizei auszusagen. Ende Mai 2016 war im türkischen Parlament die Immunität aller 59 HDP-Abgeordneten aufgehoben worden (übrigens mit Stimmen der türkischen Oppositionsparteien). Unmittelbar nach Aufhebung der Immunität erhob die Staatsanwaltschaft dann auch Anklage gegen viele HDP-Abgeordnete wegen «Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation» bzw. «Propaganda für eine terroristische Organisation».

Die Vorwürfe basieren zum einen auf frei erfundenen Beweisen wie etwa Videoaufnahmen, die angebliche Waffentransporte von HDP-Abgeordneten für die PKK zeigen. Andererseits fußen sie auf politischen Äußerungen der Partei wie etwa die Forderung nach Stärkung kommunaler Strukturen und die Einführung eines föderalen Systems. Sie werden zu «Separatismus» und damit als Unterstützung der PKK umgedeutet und so zu einer Straftat erklärt.

In einem funktionierenden Rechtsstaat dürften solche «Beweise» vor Gericht keinen Bestand haben und auch die Umdeutung von politischen Forderungen nach mehr Demokratie als «Terrorismus» dürfte von unabhängigen Richtern verworfen werden. In der jetzigen Türkei ist allerdings ein anderer Ausgang zu befürchten. Bisherige Prozesse gegen RegimegegnerInnen, so etwa die sogenannten KCK-Prozesse gegen Linke und Kurden seit 2009, zeigen, dass auch ohne wirkliche Beweise Verfahren jahrelang vorangetrieben werden und Menschen für Jahre in Haft sind. Die Justiz in der «neuen Türkei» dient, wie auch andere Teile des Staatsapparates, den politischen Vorgaben der AKP-Regierung. Dementsprechend hatten die HDP-Abgeordneten bereits im Vorfeld angekündigt, auf die politisch motivierten Anklagen politisch antworten zu wollen. Konsequent sprach dann auch der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, nach seiner Festnahme von einem «politischen Theater auf Weisung Erdoğans«.

Folgen der Zerschlagung der HDP

Die Festnahme der HDP-Führung bedeutet, dass die einzige linke und pro-kurdische Stimme im türkischen Parlament zum Schweigen gebracht wird. Damit wird der parlamentarische Weg für die kurdische Seite geschlossen. Dies dürfte auch als Signal dafür verstanden werden, dass eine zivilgesellschaftliche und friedliche politische Betätigung von KurdInnen in der «neuen Türkei» unter Erdoğan nicht mehr geduldet wird. In den sozialen Netzwerken äußern sich bereits viele KurdInnen dementsprechend und setzen auf die PKK. Die AKP-Regierung sorgt so dafür, dass aus der Perspektive der kurdischen Seite nur noch der bewaffnete Weg verbleibt. Der Anschlag auf eine Polizeistation am Morgen des 4. November in Diyarbakir mit acht Toten und 30 Verletzten ist möglicherweise ein Vorzeichen für eine düstere, gewaltsame Zukunft.

Die ethnische Spaltung der Türkei, die gerade von politischen Projekten wie etwa der HDP überbrückt werden sollte, wird durch die Zerschlagung der Partei weiter vertieft, so dass ein friedliches Zusammenleben von TürkInnen und KurdInnen kaum noch vorstellbar sein wird. Dafür trägt die AKP-Regierung die Verantwortung.

Dass die Angriffe auf die HDP geschehen konnten, dazu haben aber auch die türkischen Oppositionsparteien CHP und MHP beigetragen. Die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten wurde von ihnen mitgetragen, was den Weg für die Anklagen und die Festnahmen geebnet hat. Während das repressive Vorgehen gegen die KurdInnen von der rechten MHP aus ihrer Überzeugung heraus immer gefordert wurde, sieht die Lage bei der kemalistischen CHP durchaus anders aus. Es gibt innerhalb der CHP immer wieder Stimmen, die darauf hinweisen, dass der autoritäre Kurs der AKP irgendwann auch die Existenz der CHP selbst gefährden könnte. Aber dennoch hat die CHP es nicht geschafft, sich gegen die Angriffe auf die HDP zu stellen und ein Bündnis mit linken und kurdischen Kräften zur Rettung der Demokratie in der Türkei einzugehen.

Für die Eskalation in der Türkei trägt aber die Bundesregierung und die Europäische Union eine Mitverantwortung. Bisher war aus Berlin und Brüssel nur leise und harmlose Kritik an
Erdoğans repressiven und antidemokratischen Kurs in der Türkei zu hören. Dabei hätten Deutschland und die EU durchaus Handlungsmöglichkeiten, um politische und ökonomische Konsequenzen zu ziehen. Die AKP-Regierung reagiert auf Druck von außen, wie sich im Machtkampf mit Russland zeigte. Als das Wegbleiben russischer UrlauberInnen zu spürbaren Folgen für den Tourismussektor in der Türkei führte, trug das nicht unwesentlich dazu bei, dass die türkische Regierung ihre Haltung gegenüber Russland wieder änderte. Insofern muss in Deutschland und Europa auch über die Aussetzung der wirtschaftlichen Kooperationen mit der Türkei diskutiert werden. Auf dem Spiel steht nicht nur die Existenz der HDP, sondern die türkische Demokratie insgesamt.